Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Wir sind die Obrigkeit: So regier(t)en uns die Herren der Stadt - Erfahrungen mit Patriziern, Honoratioren und Demokraten in unseren Rathäusern
Wir sind die Obrigkeit: So regier(t)en uns die Herren der Stadt - Erfahrungen mit Patriziern, Honoratioren und Demokraten in unseren Rathäusern
Wir sind die Obrigkeit: So regier(t)en uns die Herren der Stadt - Erfahrungen mit Patriziern, Honoratioren und Demokraten in unseren Rathäusern
eBook257 Seiten2 Stunden

Wir sind die Obrigkeit: So regier(t)en uns die Herren der Stadt - Erfahrungen mit Patriziern, Honoratioren und Demokraten in unseren Rathäusern

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Seit über tausend Jahren wird in den Rathäusern der rechtliche und materielle Rahmen unseres Lebens in den Städten bestimmt. Selbst in die intimsten Bereiche reichen manche Entscheidungen des Rates. Die Autoren schildern, mit welchen Vorstellungen die Ratsherren herrschten und wie sich ihre Politik im Laufe der Jahrhunderte wandelte. Noch unsere Großeltern lebten im Kaiserreich und mussten in den wilhelminischen Rathäusern erleben, was es bedeutete, Untertan zu sein.

Nach der Kaiserzeit sollte das alles anders werden. Tatsächlich allerdings hat es Jahrzehnte gedauert, bis frische Luft in die Rathäuser einzog und sich die Bürger befreit von trennenden Tresen der Verwaltung nähern konnte. Neue Rathausbauten sollten nüchtern und manchmal futuristisch so etwas wie "Nicht-Herrschaft" demonstrieren. Dieser Welt begegnet der Leser im euphoristischen Marl und im modernen Hamburg. Die Autoren haben diesen Wandel insbesondere in den 1970er-Jahren bewusst miterlebt und mitgestaltet.

Trotzdem: Unproblematisch ist auch die neue Rollengestaltung nicht immer. So hat gerade die junge Generation heute immer häufiger den Eindruck, dass "die da oben" machen, was sie wollen. Was unterscheidet die heutigen Demokraten von den Honoratioren von gestern und den Patriziern von vorgestern? Das Gemeinwohl führ(t)en sie alle im Munde. Häufig aber handelten sie mit Scheuklappenblick für die Interessen ihrer Gruppen. Das taten die Patrizier bewusst so deutlich, dass sich erfolgreiche Bürger gegen sie auflehnten und im Laufe der Geschichte deshalb immer wieder Blut floss. Die Honoratioren dagegen glaubten ehrlich und redlich, Vertreter des Volkes zu sein und waren sogar stolz darauf. Aber sie vergaßen, dass sie nur eine Minderheit repräsentierten und deshalb auch nur deren Welt kannten. Mit ihrem Scheuklappenblick ignorierten sie mit weitreichenden Folgen die Probleme der übrigen Einwohner. Und die Demokraten in den Rathäusern? Sind sie davor gefeit?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum24. März 2021
ISBN9783347232570
Wir sind die Obrigkeit: So regier(t)en uns die Herren der Stadt - Erfahrungen mit Patriziern, Honoratioren und Demokraten in unseren Rathäusern
Autor

Silke Kruse

Zusammen mit ihrem Mann Diplom-Volkswirt Udo Kruse, hat Silke Kruse seit Anfang der 70er-Jahre über 200 Aufsätze vor allem in Fachzeitschriften, aber auch in der Publikumspresse über sozialpolitische und sozialgeschichtliche Themen veröffentlicht. Dazu kommen verschiedene Buchveröffentlichungen. Bei den gemeinsamen Veröffentlichungen kommt es ihnen darauf an, fachspezifische Themen populär darzustellen, also auf der Basis von Fachinformationen (meistens mit Literaturangaben belegt) verständlich und interessant Themen aufzuarbeiten. Dass das gelungen ist, wird ihnen immer wieder bestätigt (auch bei Lesungen und Info-Veranstaltungen). Eine große Rolle spielen hierbei auch jahrzehntelange berufliche Erfahrungen (auch und gerade im sozialpolitischen Raum). Zurzeit liegt ihnen viel daran, mit dem so wichtigen zeitlichen Abstand quasi als Zeitzeugen die Nachkriegszeit aufzuarbeiten. Hierbei können sie auch auf ihr Familienarchiv (u.a. SW-Fotos ihrer Eltern) zurückgreifen. Silke Kruse hat Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre an der Universität Hamburg Betriebswirtschaftslehre studiert. Das war damals eine männliche Domäne. Es gab nur wenige Frauen, und der Abschluss lautete „Diplom-Kaufmann“. Aber das ist lange her. Jetzt haben die Frauen aufgeholt, und ihr Abschluss heißt „Diplom-Kauffrau“. Ebenso wichtig wie das Studium der Betiebswirtschaftslehre waren für sie sechs Semester Soziologie – gerade in den damals so bewegenden Jahren der Soziologie. Vieles davon ist eine wertvolle Grundlage, um mit Abstand die Nachkriegszeit zu interpretieren, - so zum Beispiel Alexander Mitscherlichs „vaterlose Gesellschaft“ oder Karl Martin Boltes „Deutsche Gesellschaft im Wandel“. Erfahrungen in der Selbstverwaltung und Kontakte zu zahlreichen Kommunen (und deren Selbstverwaltung) sind Grundlage der Neuerscheinung „Wir sind die Obrigkeit“. An allen geschilderten Orten waren beide im Laufe der vergangenen Jahrzehnte, und den Wandel zur bürgernahen Verwaltung haben sie selbst miterlebt und auch mitgestaltet. Sie sprechen insofern also auch aus der Praxis.

Mehr von Silke Kruse lesen

Ähnlich wie Wir sind die Obrigkeit

Ähnliche E-Books

Politik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Wir sind die Obrigkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Wir sind die Obrigkeit - Silke Kruse

    Einleitung:

    Politik vor Ort

    Untertanen in den Amtsräumen der Obrigkeit – Das Ende einer Legende Die Honoratioren-Obrigkeit des 19. Jahrhunderts – Ohne Inszenierungen geht es nicht Ist die Zeit der Obrigkeit vorbei?

    Verwaltung ist behördlich umgesetzte Politik: Was es insofern bedeutete, in den Amtsräumen des Wilhelminischen Deutschland Untertan zu sein, musste der als Hauptmann von Köpenick bekannt gewordene Schuhmacher Wilhelm Voigt 1906 erfahren (näher Seite 52). Er wurde zum Sinnbild des machtlosen Untertanen, der sich der allmächtigen Obrigkeit zu fügen hat. Heute erinnert vor dem Haupteingang des Köpenicker Rathauses eine Bronzestatue an sein Untertanenschicksal.

    Untertanen in den Amtsräumen der Obrigkeit

    Seit dem späten Mittelalter bis weit hinein in die Moderne bestimmte in den Städten die Obrigkeit rechtlich, materiell und selbst in den intimsten Bereichen das Leben der Einwohner – und das durchaus nicht immer in deren Interesse. Wie dem auch sei: Die Einwohner schuldeten den Herren in den Rathäusern Gehorsam. Von Mitwirkung war häufig keine Rede. Sie waren eben Untertanen.

    Und das war nicht nur vor vielen Jahrhunderten so. So musste noch 1895 der Tischler Karl Bertram beim Erwerb des Bürgerrechts in Hannover „geloben und schwören, … den vorgesetzten Behörden ‚namentlich dem Magistrate, Gehorsam zu leisten (siehe Seite 2). In vielen anderen deutschen Städten war das damals nicht anders (siehe S. 44). Und was es bedeutete in den Amtsräumen dieser Obrigkeit Untertan zu sein, hat Carl Zuckmayer in seinem populären Drama „Der Hauptmann von Köpenick" eindrucksvoll demonstriert (siehe obige Abbildung). Kaum zu glauben ist, dass das alles noch gar nicht so lange her ist. Noch unsere Großeltern, die im obrigkeitsbestimmten Kaiserreich gelebt haben, haben uns als Zeitzeugen immer wieder erzählt, wie es damals zuging.

    Über Jahrhunderte gab es eine geistliche und eine weltliche Obrigkeit. Zur geistlichen Obrigkeit gehörten die kirchlichen und religiösen Oberen. Das waren nicht nur der Papst, die Bischöfe und die Äbte, sondern selbst auch die Pfarrer. Sie waren für ihre Gemeinden die „vorgesetzte Obrigkeit. In dieser Rolle übten sie „vor Ort einen enormen Einfluss auf das Verhalten der Gemeindemitglieder aus. Noch die Nachkriegsgeneration lernte sie als Wächter der Moral kennen. So stellte Ursula Herking 1965 in ihrem Lied „Es kommt immer darauf an"¹ nüchtern fest: „Tugend und Laster, die regelt der Pastor. Den Rest regelt man polizeilich." Das gehört zu unserer erlebten Zeitgeschichte. Einige Jahre später allerdings war das alles vorbei. Im Schatten der 68er-Bewegung veränderte sich der Alltag der Menschen radikal. Damit zerfiel dann der Einfluss der örtlichen geistlichen Obrigkeit. Ansonsten wird in den Rathäusern nach wie vor regiert. Und so manches Problem ist geblieben.

    Die Regierenden - ob Patrizier, Honoratioren oder auch Demokraten - versprachen alle, zum Wohle der Bürger zu regieren. Aber taten sie das wirklich immer? Ja, konnten sie es überhaupt? Kannten sie die Lebenswelt und die Probleme der Bürger? Guter Wille allein reicht ohne Kenntnis der Lebenswelt der Bürger nicht aus (siehe S. 43).

    Das Ende einer Legende

    Weltliche Obrigkeiten waren über Jahrhunderte Könige und Fürsten, Inhaber von Grundherrschaften und eben die Ratsherren in den Städten. Über die Herrschaft der Ratsherren geht es in diesem Buch. Noch bis in die 1960er-Jahre wurde ihr Bild stark von romantisch verklärten Vorstellungen des 19. Jahrhunderts bestimmt. Damals hatte man als Vorbild ein mittelalterliches Bürgertum vor Augen, das in überschaubaren Städten selbstbestimmt im Interesse aller Einwohner regierte. Genau das entsprach nach langen Jahren der Erstarrung der kommunalen Selbstverwaltung und schließlich den Eingriffen des absolutistischen Staates in die örtliche Regierung der Begeisterung für eine nachhaltige Erneuerung der Städteordnung. Inzwischen allerdings hat die moderne Forschung mit den verklärten Vorstellungen über das mittelalterliche Stadtbürgertum aufgeräumt.

    Tatsächlich nämlich konnte in den mittelalterlichen Städten von demokratischer Harmonie oder auch nur der Beteiligung der meisten Einwohner an den Entscheidungen der Räte nicht die Rede sein.² In Wirklichkeit lag die Herrschaft oft nur in den Händen weniger. Sie waren die uneingeschränkt herrschende Obrigkeit, und die hatte häufig nur die eigenen Interessen im Auge. Dass sie die Obrigkeit waren, demonstrierten sie bei den verschiedensten Gelegenheiten. Alle übrigen Stadtbewohner waren ihre Untertanen, die kein Wahlrecht hatten und selbst auch nicht wählbar waren.

    So stellt der Historiker Manfred Groten (geb. 1949) nüchtern fest, dass es uns heute schwerer fällt, „die Wurzeln von Demokratie, Liberalität und Pluralität in den mittelalterlichen Städten aufzuspüren."³ Im Gegenteil: Das „Abheben" der Obrigkeit musste zwangsläufig immer wieder zu Spannungen und auch zu blutgetränkten Unruhen in den Städten führen. Darauf werden wir näher eingehen.

    Die Honoratioren-Obrigkeit des 19. Jahrhunderts

    Mit der neuen, auf Würde und Anstand bedachten Honoratioren-Obrigkeit des 19. Jahrhunderts sollte das alles anders werden. Die Honoratioren meinten zwar, redlich zum Wohle aller Untertanen zu regieren (was ja schon ein deutlicher Unterschied zu mancher Patrizier-Obrigkeit war), vergaßen aber, dass auch sie nur eine kleine Minderheit repräsentierten und sich abgeschottet letztlich auch nur in deren Welt auskannten. Kurzum: Die neue Obrigkeit stand jetzt unter dem Banner einer bürgerlichen Klassengesellschaft, in der noch immer weite Schichten der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgegrenzt waren, so dass der Hamburger Geschichtsforscher Peter Borowsky (1938-2000) die Frage stellte, ob die Bürgerschaft die Bürgerschaft vertritt.⁴ Als es dann nach dem Ersten Weltkrieg ein allgemeines und für jeden gleiches Wahlrecht gab, beantworteten die meisten Bürger Borowskys Frage mit „nein". Erst damit wurde die alte Obrigkeit gewahr – so Stefan Zweig – welche Interessen die Mehrheit wirklich hatte.⁵ Wir werden uns diese Obrigkeit näher anschauen.

    Ohne Inszenierungen geht es nicht

    Herrschaft bedarf der Demonstration. Sonst hält sie sich auf Dauer nicht. Deshalb baute die Obrigkeit zu allen Zeiten eindrucksvolle Rathäuser und pflegte in ihnen und um sie herum ein vielfältiges politisches Zeremoniell, mit dem sie die Bevölkerung beeindrucken und zugleich den eigenen Kreis zusammenschweißen wollte. Dazu gehörte zum Beispiel, dass Johann Sebastian Bach als Thomaskantor in Leipzig regelmäßig für die Ratswechselgottesdienste eine Festmusik zur Lobpreisung der gottbestimmten Obrigkeit zu schreiben hatte (siehe S. 66 f.). 1723 begann der Text seiner Kantate mit den Worten: „Die Obrigkeit ist Gottes Gabe, ja selber Gottes Ebenbild".

    Auf diese Inszenierungen werden wir vor allem aus soziologischer Sicht ausführlich eingehen. Wir werden dabei sehen, dass so manche dieser Inszenierungen auch noch in der Gegenwart ablaufen - wenn auch häufig in moderner Abwandlung. Auch und gerade in der Demokratie bedarf Herrschaft nämlich der Demonstration: Man will ja wiedergewählt werden. Das wiederum macht unseren historischen Rückblick doppelt interessant.

    Allerdings müssen wir unserem Rückblick auf die wichtigsten exemplarischen Stationen der schier unerschöpflichen Stadt- und Rathausgeschichte beschränken. Es wird sich dabei zeigen, dass die Rathäuser seit jeher Orte waren, die Legitimität spenden sollten und meistens auch spendeten — gestern ebenso wie heute. Insofern sind sie keine gesichtslosen Zweckbauten. Mit unserer Auswahl wollen wir den Anstoß geben, sie gerade auch vor diesem politischen Hintergrund zu betrachten. Von daher unterscheiden sich nämlich die Rathäuser in Köln, Bremen und Hamburg nicht nur in ihrer Bauweise gewaltig. Dabei ist es auch interessant, sich dabei den gewaltigen Einfluss der zahlreichen allegorischen und emblematischen Darstellungen als Mittel der Herrschaft klarzumachen. Oder auf die typischen Hoheitssymbole der Obrigkeit zu achten. Oder bemerkenswerte Gebäude mit ausgelagerten Rathausfunktionen zu suchen und dann zum Beispiel über die vielerorts noch erhaltenen gewaltigen Tanz- und Hochzeitshäuser sowie die einstmals äußerst profitablen Ratswaagen zu staunen. Oder mit Neugier in einen der vielen bewirteten Ratskeller zu gehen, in denen sich die Ratsherren getroffen haben (siehe S. 68 ff.). Das ist „Erlebnisgastronomie! Überhaupt kann man feststellen, dass die örtliche Obrigkeit überall aus den verschiedensten Gründen kräftig „mitgemischt hat. Kurzum: die Rathäuser sind eine faszinierende Kulisse unserer Geschichte und vieler Geschichten. Bemerkenswert ist, dass es auch in vielen kleinen Städten gepflegte Rathäuser und interessante „Rathausgeschichten" gibt. Einige dieser Rathäuser stellen wir in diesem Buch vor. Es lohnt sich, nach ihnen Ausschau zu halten und in deren Chronik zu blättern.

    Ist die Zeit der Obrigkeit vorbei?

    Mit der Demokratisierung unserer Gesellschaft ist die Zeit der Obrigkeit zu Ende gegangen. Die Regierenden werden vom Volk gewählt. Ist man mit ihnen unzufrieden, werden sie nicht wiedergewählt. Durch diesen Druck wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts manches anders: Die Rathäuser wurden nach und nach „bürgerorientiert ausgerichtet. Die Inszenierungen änderten sich, wurden aber durchaus nicht abgeschafft. So wird in Hamburg noch immer das Matthiae-Mahl mit seinen skurilen traditionsgeprägten Gewohnheiten zelebriert. Und so mancher Bürgermeister präsentiert sich nach wie vor mit seiner schweren Amtskette, verziert mit Medaillen, Wappenbildern und Emblemen (siehe S. 62). Anders als zu „Kaisers Zeiten und erst Recht zu Zeiten der Patrizierherrschaft streben die heutigen, von allen Bürgern gewählten Ratsherren ein gutes Verhältnis zu den Einwohnern an. Deshalb sollen die neuen Rathäuser nüchtern und manchmal futuristisch sogar so etwas wie „Nicht-Herrschaft" demonstrieren. Wir werden dieser „neuen „Welt in Marl und im modernen Hamburg begegnen (siehe S. 104 ff.). Dazu gehört auch, dass die Bürger heute in den Amtsräumen als Kunde angesprochen werden. Als unproblematisch allerdings hat sich auch die neue Rollenverteilung nicht erwiesen.⁶

    Zudem müssen sich auch Demokraten die Frage gefallen lassen, ob sie wirklich die Interessen der Wähler vertreten und nicht wie die alte Obrigkeit mehr oder minder „abgehoben" regieren. Was unterscheidet die heutigen Demokraten von den Honoratioren von gestern und den Patriziern von vorgestern? Das Gemeinwohl führ(t)en sie alle im Munde. Häufig aber war ihre Sicht auf ihre Gesellschaftsgruppen beschränkt. Das taten viele Patrizier so hemmungslos, dass sich erfolgreiche Bürger gegen sie auflehnten und deshalb im Laufe der Geschichte immer wieder Blut floss. Die Honoratioren dagegen glaubten oft ehrlich und redlich, Vertreter des Volkes zu sein. Darauf waren sie sogar stolz. Aber sie vergaßen, dass sie nur eine Minderheit repräsentierten und deshalb auch nur deren Welt kannten. Die Probleme der übrigen Einwohner kannten sie nicht. Und das hatte oft weitreichende Folgen.

    Früher regierten die Alten. Und heute?

    Und die heutigen Demokraten in unseren Rathäusern? Auch sie sind nicht vor den Gefahren des Scheuklappenblicks gefeit; denn auch ihre Entscheidungen sind letztlich von ihren Erfahrungen in ihrer eigenen Lebenswelt geprägt, und die unterscheiden sich zum Beispiel nach Herkunft, Alter, Beruf, Wohnort und Geschlecht. Während „früher vor allem die „Alten regierten und dabei leicht die Lebenswelt der Jungen aus den Augen verloren (weil sie sie kaum kannten), dominieren heute die „Jungen in der Politik. Besonders problematisch wird es, wenn sich Politiker dabei nur auf die Mehrheit der Bürger berufen. Wie gehen sie mit den Interessen kleinerer Gruppen um? Ein sicheres Medium zum Finden des „Wahren ist die Mehrheit nämlich nicht. Der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ist ein aktuelles Beispiel dafür.

    Wer regiert heute in unseren Rathäusern? Kennen die Rätinnen und Räte die Lebenswelt der Bürger aus eigenem Erleben, zum Beispiel nach Herkunftsmilieu, Beruf und Geschlecht? Sind jung und alt vertreten? Können die Bürger davon ausgehen (so Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher) dass ihre Situation und ihre Anliegen im Rat bekannt sind und darüber diskutiert wird (siehe S. 54)? Was haben sie vor Ort in der Corona-Pandemie bewirkt?

    Die junge Generation jedenfalls war schon vor einem halben Jahrhundert skeptisch, ob die Demokraten nicht auch mit dem berüchtigten Scheuklappenblick handeln und flüchtete deshalb in die außerparlamentarische Opposition. Gibt es trotz Gewaltenteilung und dem Prinzip der Volkssouveränität doch eine Obrigkeit in unserer Demokratie? Immerhin sind auch und gerade heute trotz aller Bemühungen und Modernisierungen immer mehr Menschen mit der Kommunalpolitik - also den Regierenden vor Ort - unzufrieden. Sie fühlen sich „trotz allem einer neuen Obrigkeit ausgesetzt, bei der ihre Interessen wenig zählen. Dabei geht es nicht nur um die „Wutbürger auf dem Marktplatz, sondern auch und gerade um unzufriedene Minderheiten, die kaum zur Kenntnis genommen werden, weil sie nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Um mit Berthold Brecht (Dreigroschenoper) zu sprechen: „Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht." Damit drängt sich die Frage auf, ob Transparenz und auch die Inszenierungen der Mächtigen vor Ort nicht mehr wirken. Wir werden in diesem Buch nach den Ursachen suchen (z.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1