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Nur ein Roman
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eBook255 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Wie reagiert jemand, der erfährt, dass das eigene Leben frei erfunden ist? Der Wiener Privatdetektiv Johann Postpischil muss sich diese Frage nach einer Hypnosetherapie stellen. Das Ergebnis der Sitzung, in der er Ängste aufarbeiten hätte sollen, stellt die Existenz des Detektivs infrage. Während er um sein Leben bangt, übernimmt er den Auftrag, die Ehefrau eines reichen Textilunternehmers zu beschatten. Die Verfolgung führt ihn in den italienischen Ferienort Bibione. Dort verschwinden Frau und Auftraggeber spurlos. Handelt es sich um einen Kriminalfall, den Postpischil aufklären soll? Oder ist er der Spielball eines Schriftstellers, der Johanns Denken und Handlungen bestimmt? Es gibt nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden: Er muss den Fall lösen.

"In NUR EIN ROMAN gelingt es Riccardo Rilli die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktionalität in perfekter Weise zu verwischen."
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Nov. 2015
ISBN9783732369577
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    Buchvorschau

    Nur ein Roman - Riccardo Rilli

    Mittwoch, 17. Juni 2015

    Johann Postpischil betrachtete die Darstellungen von Soldatenköpfen an der Fassade des ehemaligen K.u.K. Kriegsministeriums. Sie hingen über den untersten Fenstern des von neunzehnhundertneun bis neunzehnhundertdreizehn unter der architektonischen Leitung Ludwig Baumanns errichteten Gebäudes in der Wiener Innenstadt. Ende des Zweiten Weltkrieges gaben die Verantwortlichen dem Kriegsministerialgebäude den politisch korrekter erscheinenden Namen Regierungsgebäude.

    Johanns Blick schweifte über den römischen Krieger, der an der Fassade thronte, bis hin zum Reiterdenkmal des Feldmarschalls Radetzky, das dem Gastgarten, in dem er saß, gegenüberlag.

    Die silberfarbenen Metallstühle und Tische des Gartens standen unter Sonnenschirmen, die jeweils zwei Sitzgruppen beschatteten. Sie gehörten zum Café Ministerium, das seinen Namen der Lage gegenüber dem gerade von Johann gemusterten Gebäude verdankte. Postpischil saß draußen, denn er wollte die angenehmen einundzwanzig Grad, bei strahlendem Sonnenschein, genießen, obwohl er die roten, plüschigen Bänke im Inneren des Lokals bevorzugte. Das neunzehnhundertfünfunddreißig in den Räumen einer ehemaligen Eisenwarenhandlung eingerichtete Kaffeehaus enthielt noch heute viele der originalen Einrichtungsgegenstände. Die Tische aus Marmor, die Lüster mit Kugellampen, sowie die alte Registrierkasse entführten den Besucher in eine andere Zeit. Johann liebte das, doch an diesem Tag wollte er die nach Wärme und Stadt duftende Luft einatmen. Den kommenden Sommer begrüßen.

    Ein weiterer Vorteil des Kaffeehauses bestand in der Nähe zum Detektivbüro, welches er in einer Eigentumswohnung im Nebenhaus eingerichtet hatte.

    Postpischil schlug sich als Privatdetektiv mühsam durchs Leben. Er beschattete untreue Ehepartner und sammelte Beweisfotos. Routinefälle, denn für aufregendere Abenteuer fehlten ihm Mut und Selbstvertrauen. Viele Detektive arbeiteten vor dem privaten Beruf als Polizeibeamte und bekamen im Zuge ihrer Laufbahn einiges zu Gesicht. Sie lernten, mit dem Schrecken umzugehen. Er, als unfertiger Jurist, hatte sich ohne Vorbildung auf der Straße für diesen Job entschieden. Johann glaubte nicht, in Fällen, in denen es um Mord und Totschlag ging, bestehen zu können. Außerdem war er zu schüchtern, um entsprechende Klientel zu akquirieren.

    Die Ängstlichkeit schuf auch in anderen Lebensbereichen Probleme, wie bei fremden Frauen. Bei seiner bildhübschen Assistentin, die ihm gegenübersaß, stand sie ihm ebenfalls im Weg. Mehr, als der Altersunterschied von elf Jahren. Er zweiundvierzig, sie einunddreißig.

    ‚Ich hätte auch ohne schüchtern zu sein kaum Chancen‘, dachte er, als er ihre langen, blonden Locken betrachtete. Der Nordwestwind, der die milden Temperaturen kälter wirken lies, blies ihm den Rosenduft ihres Parfüms in die Nase. Es passte zu Rosa. Genauso, wie ihr Nachname. Beljajew war russisch und bedeutete blond. Sie sah bezaubernd aus, im geblümten Sommerkleid, der weißen Bolerojacke und den gleichfarbigen Highheels. Glitzernde Ringe und rote Fingernägel schmückten die langen, schlanken Finger. Dazu trug sie eine zum Handschmuck passende Halskette. Das Armband, welches aus mehreren, dünnen Reifen bestand, klimperte, wenn sie mit der Hand die Haarmähne aus dem Gesicht strich.

    Warum sollte er bei Rosa, mit ihren Modelmaßen, eine Chance haben? Er war etwa einen Meter neunzig, aber die ehemals sportliche Figur war einem Bauchansatz gewichen und die dunklen, kurz geschorenen Haare zogen sich immer weiter aus der Stirn zurück. Als Ausgleich ließ er einen Dreitagebart stehen, der ihn jedoch nicht ins Beuteschema seiner Assistentin brachte. Selbst wenn sie über das Äußere hinwegsah, er war ein Versager.

    Den einzigen Pluspunkt seiner Existenz stellte die Eigentumswohnung im Nebenhaus des Cafés dar. Er hatte sie von seinen Eltern geerbt. Sie beinhaltete Wohnstätte und Büro in einem. Die noble Adresse am Georg-Coch-Platz, nach einem nordhessischen Bankier aus Hesserode benannt, verschaffte ihm manchmal betuchte Kundschaft. Leider zu wenig, um davon reich zu werden. Der Vater wollte, dass er Rechtsanwalt wurde, wie er. Doch er blieb ewiger Student. Nicht wegen des Lernens, sondern aufgrund der Prüfungsangst, die alles Wissen, das er am Vortag noch hatte, aus dem Gehirn fegte.

    Der Gedanke an Georg Coch ließ Johanns Blick von Rosa auf das am Platz errichtete Denkmal schweifen. Der von achtzehnzweiundvierzig bis achtzehnneunzig lebende Ökonom gründete die Österreichischen Postsparkassen. Daher hatte man hier, vor der Wiener Zweigstelle, eine Säule mit einer Plastik seines Kopfes aufgestellt. Am anderen Ende der Freifläche stand das berühmte Jugendstilgebäude der Sparkasse, erbaut zwischen neunzehnhundertvier und neunzehnhundertsechs nach den Plänen von Otto Wagner, in damals neuer Stahlbetonweise. Rosas Stimme riss ihn aus den Gedanken.

    „Warum rufst Du mich hierher? Ich muss ausschlafen! Der gestrige Dienst im Lokal war lang und es stehen zurzeit keine Fälle an. Die Buchhaltung ist auch gemacht." Sie gähnte und hielt den Handrücken vor den Mund. Postpischil gefiel diese Geste ebenso, wie das rollende R, das dem russischen Akzent zu verdanken war.

    Sie mochte Johann. Deswegen arbeitete sie für ihn, obwohl es wenig zu verdienen gab. Rosa machte die Buchhaltung und besetzte das Sekretariat, soweit es die Tätigkeit als Kellnerin zuließ. Sie brauchte den Zusatzjob im Bermudadreieck, dem Lokal und Szeneviertel der Stadt, um über die Runden zu kommen. Genau genommen stellte die Arbeit in der Detektei den Nebenjob dar.

    An einsamen Abenden in ihrer kleinen Einzimmerwohnung im achten Wiener Gemeindebezirk hatte sie öfter darüber nachgedacht, warum sie ihm half. Im Zuge dieser Gedankenspiele hatte sie nie ausgeschlossen, mit Johann eine tiefer gehende Beziehung einzugehen.

    Sie wunderte sich über die Erkenntnis. Er hatte ein großes Herz, das konnte man nicht abstreiten, obwohl er bei Gelegenheit den Harten gab. Aber er war ängstlich, hatte wenig Selbstvertrauen und neigte zu cholerischen Anfällen. Das Geschäft lief schlecht, was ihn als Versorger für die russischstämmige Wienerin ausschloss. Sie wünschte sich Familie und Kinder.

    ‚Ich bin Anfang dreißig. Bald ist es mit dem Kinderkriegen vorbei‘, dachte sie. Jetzt den falschen Lebenspartner zu wählen, bedeutete wahrscheinlich das Ende der Familienplanung. Im Lauf des Lebens waren die Ansprüche an einen potenziellen Partner gewachsen. Kaum mehr zu erfüllen. Er musste treu sein, verantwortungsvoll mit Geld wirtschaften, einem gut bezahlten Job mit regelmäßigem Einkommen nachgehen, sich Zeit für die Familie nehmen, Kinderliebe zeigen, die Ehefrau bei allem unterstützen und ihr Freiheit zubilligen. Häuslich und fürsorglich auftreten. Hübsch, und sportlich aussehen, und die gleichen Interessen teilen. Für sie da sein, wenn sie ihn brauchte. Es gab einige Punkte, die Postpischil nicht erfüllte. Und auch kein anderer entsprach bisher der Vorstellung eines Traumprinzen.

    Trotzdem kam ihr der Gedanke an eine Beziehung immer wieder in den Sinn. Diese für sie unerklärliche Zuneigung brachte Rosa dazu, ihm manchen Gefallen zu tun, der über die im Dienstvertrag vorgesehenen Tätigkeiten hinausging. Sie agierte zum Beispiel als Lockvogel, sollte ein zu beschattender Mann weniger Untreue zeigen, wie seine Frau glaubte. Wenn Johann Ergebnisse brauchte, um die Erfolgsprämie zu kassieren, sprang Rosa ein. Sie ging nie bis zum Äußersten. Das wusste er und es gab darüber keinerlei Diskussion. In den Fällen, wo die Assistentin mit- und nachhalf, floss ein Anteil der Prämie in ihre Tasche. Wollte sie nicht mehr über die Beziehung zu Johann nachdenken, schob sie den finanziellen Anreiz als Grund für die Hilfsbereitschaft vor.

    Postpischil erhob sich einen Moment, um das Sakko des khakifarbenen Anzuges zu richten. Am hinteren Hosenbund steckte das Lederetui mit seiner Smith & Wesson, die im Sitzen manchmal in den Rücken drückte. Er hatte das Revolvermodell 686 aus den Vereinigten Staaten importiert und einen österreichischen Waffenschein dafür. Als Detektiv musste man eine Waffe tragen. Das hatte Tradition. Man sah es im Fernsehen und auch die realen Kollegen besaßen eine. Obwohl die meisten, wie er, sie noch nie benutzt hatten. Sie half gegen die Angst. Er mochte die kleine Kanone mit dem hellbraunen Holzgriff und der glatten, silbernen Trommel, die sieben Patronen des Kalibers .38 fasste.

    „Das stimmt. Zurzeit haben wir keine Aufträge. Und die Buchhaltung ist perfekt. Danke dafür. Aber deswegen habe ich Dich nicht zum Frühstück eingeladen, begann er und zupfte den Kragen des weiten, weißen Hemdes zurecht. Er sah in ihre braunen Augen, in denen er sich nur allzu gern verlöre. „Es gibt andere Gründe, warum ich dringend mit Dir reden muss.

    Sie hatten einander über zwei Wochen weder gesehen noch gehört. Postpischil kehrte erst am Vortag von einer Reise zurück. Irgendein Fall in Kärnten, wie Rosa wusste. Sie kannte keine Details und hatte die diesbezüglichen Abrechnungen bisher nicht gemacht, aus denen sie manches herauslesen könnte. Unter Umständen erführe sie jetzt mehr darüber.

    Johann hatte sie am Vorabend angerufen. Nervös und ungeduldig hatte er ein sofortiges Treffen vereinbaren wollen. Aber die Assistentin musste Dienst in der Bar im Bermudadreieck schieben. Sie hatten das Meeting auf den nächsten Morgen verschoben. Jetzt saßen sie hier, im Café Ministerium, hatten einen großen Braunen, eine Melange, sowie zwei Apfelstrudel bestellt, und warteten gemeinsam auf das Frühstück.

    Postpischil wippte mit dem Bein. „Wo bleibt eigentlich der Kaffee?"

    „Wir haben doch gerade erst bestellt", versuchte ihn seine Assistentin zu beruhigen.

    „Die sollte bald kommen. Sie muss nicht hören, was wir reden. Wenn sie da war, haben wir endlich Ruhe." Er reckte den Hals, um nach der Kellnerin Ausschau zu halten.

    „Ich bin sicher, sie interessiert nicht die Bohne, was wir zu besprechen haben", wirkte Rosa weiter auf ihn ein.

    Plötzlich schlug er mit der flachen Hand auf den Metalltisch, sodass die Menage, bestehend aus Salz, Pfeffer, Essig, Öl und Zahnstochern, schepperte. Johanns Begleitung zuckte zurück. „Das dauert zu lange!" Die ansonsten leise, dunkle Stimme steigerte sich zu einem bedrohlichen Bass.

    Gerade als die Assistentin ihn beruhigen wollte, tauchte die dunkelhaarige Kellnerin im Gastgarten auf und servierte mit verwundertem Blick die bestellten Sachen. Postpischil lehnte sich zurück, legte den Knöchel des rechten Beines auf das Knie des anderen und schaute sie hasserfüllt an. Stumm beobachtete er ihre Arbeit und strich mit den Fingerspitzen über die cognacfarbenen Schnürschuhe mit Flechtmuster.

    Rosa verurteilte solche Ausbrüche. Sie dauerten meist kurz und taten Johann im Anschluss leid. Trotzdem ließen sie ihn unberechenbar und aggressiv wirken. Sie blieb auf der Hut, auch wenn sich der Ärger nicht gegen sie richtete. Die falschen Worte oder Handlungen zum falschen Zeitpunkt könnten das leicht ändern. Das wusste sie. Die junge Frau kannte es von einem ihrer Exfreunde, der sie leidenschaftlich geliebt und geschlagen hatte. Nur mithilfe der Polizei und einer Freundin, bei der sie vorübergehend hatte wohnen dürfen, war sie ihn losgeworden.

    ‚Solange er so ist, kommt nie eine Beziehung zwischen uns infrage‘, dachte sie, schlug die langen Beine übereinander und wartete ab. Johann sollte das Gespräch fortsetzen, sobald er sich beruhigt hatte.

    Postpischil sah der Kellnerin nach, als sie ins Lokal ging. Dann beugte er sich vor und steckte einen Bissen Apfelstrudel in den Mund. Er genoss die Mischung aus der Süße des Zuckers und der Säure der Äpfel. Der Zimtgeschmack wirkte besänftigend. Kauend nahm er erneut die zurückgelehnte Position ein.

    „Tut mir leid. Ich bin nervös und aufgeregt. Wenn Du das erfahren hättest, was ich vor zwei Wochen gehört habe, wärst Du auch wie von Sinnen", kam die Entschuldigung mit ruhiger Stimme, als ob es den Vorfall nie gegeben hätte.

    „Was ist passiert?", fragte Rosa zaghaft, in der Hoffnung, keinen erneuten Wutanfall heraufzubeschwören. Sie beugte sich vor, stützte ihren Ellbogen am Knie ab und griff mit der anderen Hand zur Kuchengabel, die am Teller neben dem Strudel lag. Sie begann zu essen.

    Johann legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und tippte mit den Zeigefingern gegen die Lippen. „Eigentlich glaube ich überhaupt nicht an solche Dinge. Sie interessieren mich nicht, aber eine reiche Klientin, die auf so esoterisches Zeugs steht, hat mich förmlich dazu gezwungen."

    „Zu was?", fragte die Assistentin, nachdem sie das erste Stück Kuchen geschluckt hatte. Sie nippte an der Melange.

    „Reinkarnationstherapie. Oder auch Rückführungscoaching."

    Rosa zog die Augenbrauen zusammen. „Reinkarnationstherapie? Was ist das?"

    „Du wirst mich für verrückt halten, wenn ich‘s Dir erkläre. Umso mehr, weil Du weißt, dass ich‘s gemacht habe, antwortete Postpischil und nahm einen weiteren Bissen vom Strudel. Kauend erklärte er: „Die Typen, die daran glauben, gehen davon aus, dass das heutige Leben durch das Verhalten in der Vergangenheit beeinflusst wird. Das klingt vorerst logisch. Was ich gestern getan habe, die Entscheidungen, die ich getroffen habe, beeinflussen mein zukünftiges Handeln. Er wischte mit einer Papierserviette den Mund ab und nahm einen Schluck Kaffee, um die gerösteten Brösel der Strudelfülle hinunterzuspülen. „Aber die denken, es geht noch weiter zurück, als in die Vergangenheit des jetzigen Seins. Viele Probleme, Verhaltensweisen und Störungen haben angeblich ihre Ursache in der Kindheit und dem Mutterleib. Ja sogar in früheren Leben. Die nennen das Karma. Postpischil schaute nachdenklich durch die Assistentin hindurch und schien einen Punkt in der Ferne zu fixieren. „Das Gesetz des Karmas. Karma schafft Ausgleich. Es geht darum, die Gegenwart durch Erforschen der Vergangenheit zu bewältigen, wenn Du verstehst, was ich meine.

    Rosa stellte die Kaffeetasse ab, die sie während Johanns Ausführungen in den Händen behalten hatte. „Nicht so ganz. In früheren Leben?", fragte sie.

    „Viele Religionen und Weltanschauungen gehen davon aus, dass es so etwas wie eine Seele gibt, die Lektionen zu lernen hat. Dafür braucht sie mehrere Inkarnationen, mehrere körperliche Leben. Die Seele kommt immer wieder auf die Welt. Und jedes Mal bekommt man die nicht verinnerlichten Lehren in den Rucksack, den alle zu tragen haben, bis man sie gelernt hat", erklärte Postpischil.

    Die Assistentin sah ihn misstrauisch an. Was erzählte er da? Kam er völlig aus der Spur? Er hatte sich nie mit solchen Dingen beschäftigt. Wer war die mysteriöse Klientin, die ihm das näher gebracht hatte? Aber zuerst interessierte sie die Behandlung, die Johann in Kärnten gemacht hatte. „Und was bewirkt die Reinkarna… Wie heißt das?", fragte sie weiter.

    „Reinkarnationstherapie, sagte Postpischil. „Oder auch Rückführungscoaching. Das heißt, dass offene Lektionen aus vergangenen Inkarnationen in die jetzige, also in das momentane Dasein, hineinwirken. Beim Coaching wird man in diese früheren Leben geführt. Dort kann man die Aufgaben bearbeiten. Damit verbundene schlechte Gefühle verschwinden und der Mensch kann sich unbelastet seiner derzeitigen Existenz widmen. Das ist nicht von mir, sondern von Heini Kogelnig. Das ist der Mann, der die Rückführungen durchführt. Die Behandlung ist eine Art Hypnose.

    Postpischil frühstückte weiter. Auf Rosa wirkte die Geschichte derart unglaublich, dass sie nicht mehr an Apfelstrudel dachte. Sie lehnte sich zurück und starrte Johann an.

    „Du hast Dich schlaugemacht. Aber daran glaubst Du doch nicht? Ich, für meinen Teil, halte das für verrückt." Sie hoffte, ihn mit den Worten nicht zu verärgern. Sie hatte schon von Leuten gehört, die sich von einem Tag auf den anderen ungeheuerlichen Ansichten verschrieben, und diese plötzlich fanatisch vertraten. Und Johann hatte zwei Wochen mit dem Thema verbracht. Welchen Einfluss hatten die Klientin und Kogelnig auf ihn?

    Postpischil schluckte den letzten Bissen des Strudels hinunter und winkte mit der Kuchengabel ab: „Man muss nicht daran glauben. Es genügt, das Ganze als eine Art Gedankenspiel zu sehen."

    „Der Satz ist sicher auch von diesem Kogelnig", sagte Rosa mit herablassendem Unterton.

    „Ja, ist er. Aber da vermutlich sowieso kein Mensch weiß, ob es Reinkarnation wirklich gibt, reicht‘s, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Der Erfolg gibt der Therapie Recht, auch wenn man nicht weiß, wie‘s funktioniert."

    ,Oje, ihn hat es schlimm erwischt‘, dachte Rosa. Sie beobachtete Johann. Er wischte den Mund ab und nahm einen Schluck Kaffee. Er wirkte normal. Ihr fiel das Frühstück wieder ein und sie aß vom Strudel. „Und Du hast das tatsächlich gemacht?"

    „Ja, sagte Postpischil. Er lehnte sich zurück und richtete erneut das Jackett. „In der Nähe von Klagenfurt. Heini ist ein Bekannter der Klientin und betreibt das professionell.

    ‚Jetzt heißt er schon Heini. Sie sind per Du. Johann hat also bereits ein Vertrauensverhältnis mit dem Typen‘, dachte die Assistentin. Sie war wenig erfreut über diese Erkenntnis.

    „Er macht auch Clearing. Das ist die Befreiung von Fremdenergien. Seelenrückholungen, wenn man einen Seelenanteil aufgrund eines Traumas verloren hat. Man ist dann unvollständig und deswegen unglücklich", fuhr Johann fort.

    ‚Wenn das funktioniert, sollte ich das auch machen‘, dachte Rosa. Sie hatte mit ihrem Exfreund genug Traumata erlebt und existierte wahrscheinlich nur mehr in kleinen Bruchstücken. Aber jetzt war es an der Zeit, Details über die Kundin zu erfahren. Deshalb fragte sie: „Echt, so etwas gibt es? Was hat Dir die Klientin erzählt, dass Du Dich darauf eingelassen hast?"

    „Berta von Bergweg. Sie hat mich auf die Rückführungen aufmerksam gemacht, begann er. „Sie hat erzählt, dass man damit bis zu seiner Geburt und sogar in frühere Leben reisen kann. So baut man Ängste und Aggressionen ab und verarbeitet Traumata. Sie hielt es für notwendig, dass ich‘s mache. Es war ihr derart wichtig, dass sie eine Rückführung zur Bedingung gemacht hat, mir den Auftrag anzuvertrauen. Nur ein Detektiv mit reiner Seele könne den Fall übernehmen.

    Jetzt wurde Rosa einiges klar. Eine reiche Klientin hatte es ihm auferlegt. Johann hatte es nicht aufgrund des Glaubens an die Sache gemacht. Er brauchte das Geld. Und wenn er dafür ein paar Stunden Zeit für eine zweifelhafte Therapie aufwenden musste, machte er das. So kannte sie Postpischil. Ein beruhigender Gedanke.

    „Und welchen Fall hast Du im Gegenzug zu dieser Rückführung bekommen?", fragte Rosa. Sie aß den Rest des Kuchens und wandte sich dem letzten Schluck Kaffee zu.

    Johann winkte ab. „Ach, nichts Besonderes. Ihr Mann hat sie mit der Haushaltshilfe betrogen. Aber das ist unwichtig. Wichtig war das Geld von dem Auftrag, weil schon lange keines in die Kasse gekommen ist, wie Du weißt. Er zuckte mit den Schultern und setzte ein erzwungenes Lächeln auf. „Was macht man nicht alles für Klienten! Sie hat die Sitzungen bezahlt und ich bin nach Kärnten gefahren. Habe mir eigentlich nichts erwartet. Sein Redefluss stockte und er sah nachdenklich auf den leeren Strudelteller.

    Rosa beobachtete ihn besorgt. Schon das zweite Mal im Rahmen des Gesprächs wirkte er abwesend. Es musste mehr hinter der Rückführung stecken, als er bisher erzählt hatte.

    „Und? Hast Du was herausgefunden? Warst Du der Kaiser von China oder Alexander der Große?" Sie lachte zaghaft beim Versuch, ihn aufzuheitern.

    „Wenn‘s nur so wäre, murmelte er. Wie ferngesteuert griff er zum Kaffee und stürzte ihn hinunter. Er sah Rosa in die Augen. „Es ist viel schlimmer.

    Jetzt stutze die Assistentin. Das klang ernst. Sie hatte einen Scherz machen wollen, aber Johann war nicht darauf eingegangen. Im Gegenteil. Die Stimmung kippte. Sie lehnte sich zurück

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