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Vaovao - Was gibt's Neues auf Madagaskar?: Ein Geschichtengeflecht
Vaovao - Was gibt's Neues auf Madagaskar?: Ein Geschichtengeflecht
Vaovao - Was gibt's Neues auf Madagaskar?: Ein Geschichtengeflecht
eBook292 Seiten3 Stunden

Vaovao - Was gibt's Neues auf Madagaskar?: Ein Geschichtengeflecht

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Über dieses E-Book

Ein Rechtsanwalt aus Düsseldorf hängt seine Kanzlei für drei Jahre an den Nagel, um in der Hauptstadt Madagaskars für eine Umweltorganisation zu arbeiten. Einmal angekommen, wird ihm schnell klar, dass sein abendländischer Blick auf die Welt hier auf eine harte Probe gestellt wird. Viehdiebe verwandeln sich in Büsche, Polizisten vermieten ihre Waffen, Bäume verschwinden unbemerkt aus den Wäldern. Mit Humor und Liebe zum Detail notiert der Autor Eindrücke, Begegnungen und Geschichten, und lässt so das Leben auf der Großen Insel für den Leser erfahrbar werden. Am Ende hat er gelernt: Nicht nur die Madagassen, wir alle leben auf einer großen Insel, auf der Vieles nicht so ist, wie es sein sollte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Mai 2017
ISBN9783743926578
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    Buchvorschau

    Vaovao - Was gibt's Neues auf Madagaskar? - Georg Jaster

    VORBEMERKUNG

    In Antananarivo beginnen meine bewussten eigenen Erinnerungen. In Antananarivo begann meine Schulzeit. Es ist der Ort, an dem ich in den Jahren 1968-1970 gelebt habe. Das war von meinem sechsten bis achten Lebensjahr. Ich stellte mir immer vor, eines Tages an diesen Ort zurück zu kehren. Eigentlich nur aus Neugierde. In meiner kindlichen Erinnerung war es dort sehr schön gewesen. In dieser Erinnerung gab es ein weißes Haus mit einem großen Garten, davor eine kleine staubige Straße. Auf dieser Straße lernte ich Radfahren. Sie führte an unserem Haus vorbei und endete nach einigen hundert Metern in den Reisfeldern. 1970 kehrten wir nach Deutschland zurück, ich ging zur Schule, studierte, ergriff einen Beruf, gründete eine Familie, die Kindheitsjahre in Madagaskar verblassten in der Erinnerung und spielten in meinem Leben keine Rolle.

    Dann, irgendwann im Laufe des Jahres 2012, entdeckte ich mehr oder weniger zufällig eine Stellenanzeige des CIM, des „Centrums für Internationale Migration und Entwicklung". Es wurde ein Umweltjurist für einen Einsatz in Madagaskar gesucht. Ich bewarb mich und bekam die Stelle. Im September 2013 brachen wir auf. Wir, das waren Gisela, meine Lebensgefährtin, unsere damals 3 Jahre alten Zwillinge und ich. Und so fand ich mich wieder in der Stadt, die ich 43 Jahre zuvor verlassen hatte und von der ich so gut wie nichts wusste. Und die Stadt, das Land, die Welt waren eine vollkommen andere geworden.

    Die folgenden Geschichten erzählen von diesem, meinem zweiten Aufenthalt in Antananarivo. Ich werde darin nicht die Umwelt- oder Entwicklungsprobleme Madagaskars, Afrikas, oder dieser Welt erklären. Ich bin kein Afrika- oder Madagaskar-Experte. Ich möchte einen Einblick geben, in das, was wir, meine Familie und ich, in unserem privaten und beruflichen Alltag in Madagaskar erlebt haben. Ich möchte davon erzählen, wie die Menschen in Madagaskar die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens meistern. Davon erzählen, wie sich das Leben in einem Land wie Madagaskar anfühlt. Und was ich sah, war fast immer berührend und bewegend. Manchmal traurig, manchmal heiter. Oft war ich auch wütend. Wütend über die Arroganz der Herrschenden und wütend über die Sinnlosigkeit dieser bitteren Not und Armut in einem Land, das über vielfältige Chancen und Ressourcen verfügt.

    Die Ruhe, die Gelassenheit, die Lebensfreude der Menschen hat uns beeindruckt und angesteckt. Und als ich den Aufsatz „Reise durch das Herz des schwarzen Kontinents" von Bartholomäus Grill las (erschienen in: „Frühstück in Timbuktu", Verlag Piper, 1999), erkannte ich vieles wieder. Grill schreibt:

    „Anarchie, Rechtlosigkeit, Verrohung sind uns nur in den Metropolen begegnet, Rwanda ausgenommen, in moribunden Hauptstädten, wo die Regierungen so kriminell handeln wie Straßenräuber. Doch schon in den Slums zerfällt die Staatsgewalt. Dahinter auf dem Land, beginnt die Heimat von Staatenlosen, in deren Alltag Normalität und Ausnahmezustand nicht zu trennen sind. Verschlafene, verarmte Weltprovinz, über der eine unendliche Stille liegt. Die Stille Afrikas.

    Gemäß apokalyptischer Vorhersagen müsste die Hälfte der Afrikaner längst verhungert sein. Warum ist dem nicht so? Wie überleben sie in jener tödlichen Unwirtlichkeit, die Europas Archive beschreiben? Den Menschen, die wir getroffen haben, gelingt es, weil sie unfasslich genügsam und geduldig sind. Weil ihre Lebenslust größer ist als ihre Armut. Weil ihre soziale Phantasie, ihr Gemeinsinn, ihre Improvisationskunst einzigartig sind. Weil sie unbändige Kraft der Versöhnung entfalten.

    Wir könnten von diesen Tugenden lernen".

    Georg Jaster,

    Ratingen im April 2017

    ANKUNFT UND ALLTAG IN ANTANANARIVO

    In Tana ankommen

    Mir wurde vor meiner Abreise aus Deutschland gesagt, dass der Kontrast zwischen Antananarivo und dem ländlichen Madagaskar erheblich sei. Antananarivo, welches die Madagassen gerne „Tana" nennen, sei im Grunde eine moderne Großstadt, so wie wir Europäer sie kennen. Die madagassische Provinz sei etwas vollkommen Anderes. Als ich in Tana ankam, war ich zunächst sprachlos. Sprachlos und fassungslos von dem Gewimmel, Gedränge und Gewirr aus Menschen, Fahrzeugen, Behausungen aller Art, die ich noch nie in dieser Art gesehen hatte. Ich fühlte mich orientierungslos und verloren. Das war keine Stadt, so wie ich sie kannte. Der Radius, den ich überblickte, war beschränkt auf das Haus mit Garten, in dem ich ein Gästezimmer bezogen hatte, und auf die kleine staubige Straße davor, die in den Reisfeldern endete. Erst ein Jahr später fand ich heraus, dass meine erste Unterkunft, die ich im Jahr 2013 bezog, nur wenige hundert Meter von der Straße entfernt war, in der ich Ende der 60er Jahre einen Teil meiner Kindheit verbracht hatte.

    Die Stadt erschien mir als ein unentwirrbares Knäuel aus Straßen, Gassen, Pfaden und Treppen ohne Namen und ohne Hinweisschilder. In dieses Gewirr wagte ich mich kaum hinaus. Tana ist auf vielen Hügeln erbaut, nach der Legende und nach den Reiseführern sind es zwölf. Mir schienen es sehr viel mehr zu sein. Legte ich in der Stadt Wege zurück, so bewegte ich mich ständig in Serpentinen auf- und abwärts. Ich kaufte einen Stadtplan, aber es gelang mir nicht, das Auf- und Ab, das ich in der Wirklichkeit sah, irgendwie mit der flachen, zweidimensionalen Abbildung auf dem Plan in Übereinstimmung zu bringen. Adressen nützten nichts, niemand kannte sie. Alle Menschen in Tana orientieren sich an markanten Bauwerken oder sonstigen auffälligen Wegmarken. Ging ich zu Fuß, so musste ich mir meinen Weg sehr gut einprägen um zurück zu finden. Nahm ich ein Taxi, so musste ich ebenfalls einen markanten Punkt in der Nähe meines Zielortes wissen, damit ich dem Taxifahrer erklären konnte, wohin ich wollte. Ich lernte, dass Stadtteilnamen hilfreich waren. Für mich, den Neuankömmling aus Europa, waren sie aber für lange Zeit unaussprechlich und unmöglich zu merken: Antaninarenina, Antanimora, Ampefiloha, Ankorondrano, Ambohijatovo, Andrainarivo und viele weitere wunderliche Namen. Ein einziges Rätsel. Erst sehr viel später gelang es mir, einige der Namen fehlerfrei auszusprechen und ich war sehr stolz darauf, sie routiniert für die Wegbeschreibung nutzen zu können.

    In den ersten Wochen aber kam ich ohne fremde Hilfe nirgendwo hin und nirgendwo weg. Wieder ein Kind. Völlig desorientiert. Nur fähig, mich in meiner eigenen Straße ein paar hundert Meter nach links und ein paar hundert Meter nach rechts zu bewegen. Ich wagte es nicht, einfach aufs Geratewohl in die Stadt zu spazieren, denn man hatte mich vor finsteren Ecken und vor Vierteln gewarnt, denen ich besser fern bleiben und in die ich nicht aus Versehen geraten sollte.

    Das öffentliche Bussystem war für mich ebenfalls undurchschaubar und ich habe bis zum Schluss meines Aufenthalts kaum verstanden, wann und wo Busse halten und wo sie hinfahren. Meine madagassischen Kollegen rieten mir, dem weißen Ausländer, dem „Vazaha", im Übrigen auch davon ab, diese Busse – es handelt sich übrigens ausnahmslos um Mercedes Sprinter – zu benutzen. Irgendwann, in einer der ersten Wochen meines Aufenthalts, unternahm ich mit einem weniger ängstlichen, afrikaerfahrenen Kollegen einen Versuch. Wegen des Feiertags war der Bus für die lokalen Verhältnisse relativ leer, d.h. es drängten sich nicht an allen Türen und Ecken noch Fahrgäste. Für mein Gefühl war es dennoch unerträglich voll. In dem Bus gab es winzige Sitze, links und rechts je zwei Reihen und in dem Mittelgang wurde bei Bedarf mit kleinen Brettern noch ein fünfter Sitz geschaffen. Ich bin in Polen oft mit genau denselben Mercedes-Sprintern gefahren. Dort sind in jeder Reihe drei Sitzplätze vorgesehen, dazwischen ein kleiner Gang. Die madagassische Bestuhlung der engen Busse führt dazu, dass man in innigstem Körperkontakt mit seinen Nachbarn sitzt. Fremde Hände in meinen Jacken- oder Hosentaschen hätte ich überhaupt nicht bemerkt, denn es drückte, zwängte, drängelte und wühlte ohnehin immer und überall jemand. Die Busfahrt kostete umgerechnet ca. 0,12 EUR und war damit verglichen mit dem Taxi, in dem eine Stadtfahrt regelmäßig ca. 3 bis 4 EUR kostete, sehr günstig.

    An allen Straßen entlang sah ich unzählige Händler, die die ehemals vielleicht vorhandenen Bürgersteige mit Bretterbuden zugebaut hatten, in denen sie ihre Waren oder Dienste anboten. Das Warensortiment konnte Obst und Gemüse umfassen, aber auch Autoreifen, Schweißarbeiten, Möbeltischlerei, Handys, gebrauchte Kleider, Bankgeschäfte und Devisen, Gold und Gewürze, einen Haarschnitt oder auch Zahnheilkunde. Dazwischen liefen immer wieder zerlumpte Kinder jeden Alters herum und bettelten die Marktkunden und die Ausländer an. Diese Bettelkinder, so wurde mir dann später berichtet, könne man für ca. 10.000 Ariary am Tag mieten, was etwa 3,50 EUR entspricht. Diese Investition und noch einen „Gewinn dazu müssten die Kinder dann im Laufe des Tages für ihren, nennen wir ihn „Lehnsherrn, erwirtschaften. Ich habe mich in meiner Zeit in Tana nie an den Anblick dieser verlorenen Kinder gewöhnen können, und es ist tragisch, dass dieses Geschäftsmodell offenbar funktioniert. So lohnt es sich für skrupellose Erwachsene, Kinder zum Betteln auf die Straße anstatt in die Schule zu schicken.

    Anfangs scheute ich die Straßenmärkte. Ich hatte Angst, übervorteilt zu werden oder mich ungeschickt zu benehmen. Also kaufte ich in gewöhnlichen Supermärkten ein, die es als Filialen der großen französischen oder südafrikanischen Ketten ebenfalls überall gab und wo ich alle Waren, die ich aus Europa kannte, bekam. Ich entdeckte sogar sehr bald zwei kleine hochpreisige Einkaufsmalls, die Luxusgüter und die in solchen Malls üblichen Waren anboten und in denen es auch Cafés und Restaurants aller Art gab. Deutsche Freunde nahmen mich bald nach meiner Ankunft in schicke Bars und Diskotheken mit, in denen die „expatriates" und die reichen Madagassen bei teuren Getränken und in edlem Ambiente die Abende ausklingen ließen und die tropischen Nächte feierten. In einer dieser Bars gab es einen Kälteraum. Man konnte darin den für ein heißes Land ungewohnten Luxus genießen, beim Schlürfen seines Drinks ein wenig zu frieren. Diese Bars hätten auch in London, Paris, oder Berlin sein können. Nur mit dem Unterschied, dass in Tana vor den Türen dieser Bars dann wieder zerlumpte Bettelkinder auf die Partygäste warten und versuchen, ihnen auf dem Weg zum Auto Zigaretten zu verkaufen oder irgendetwas aus der Jackentasche zu ziehen.

    Wir richten uns ein

    Nach einigen Monaten der Suche hatte ich ein geeignetes Haus für meine Familie gefunden. Bei der Suche hatte ich vor allem darauf geachtet, dass mein Weg zur Arbeit kurz sein sollte, da ich so wenig Zeit und Nerven wie möglich in den endlosen Verkehrsstaus verlieren wollte. Das Haus war nach europäischen Standards gebaut, Elektro-, Gas- und Wasserinstallation wirkten vertrauenserweckend. Dort konnten wir uns wohlfühlen. Es war, gemessen an madagassischen Standards und auch gemessen an unseren eigenen Maßstäben, sehr groß. Aber kleinere Häuser auf europäischem Sicherheitsniveau und in geeigneter Lage gab es nicht. Wir waren noch weit entfernt von der Kategorie „Luxusvilla", wie die der reichen Händler oder der Politiker. Dennoch haderte insbesondere Gisela während unseres gesamten Aufenthalts mit ihrem Gewissen, ob wir es mit dem Wohnkomfort nicht übertrieben hatten. Und es war nicht nur das Haus, das für uns ungewohnt war. Noch viel fremder war für uns zunächst, dass wir auf einmal Personal haben sollten: Zu dem Haus gehörte eine Mannschaft von vier Wächtern, die das Haus 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche rund um die Uhr bewachten. Vor unserem Einzug hatte es einige Jahre leer gestanden, so dass der Vermieter die Bewachungskosten getragen hatte. Mit unserem Einzug wollte der Vermieter nicht mehr für die Bewachung aufkommen, sondern überließ uns, ob überhaupt und wenn ja – durch wen wir uns bewachen lassen wollten. Die vier Wächter hatten bei unserem Einzug somit große Sorgen, dass sie ihre Jobs verlieren würden. Vielleicht waren wir leichtsinnig und wollten gar keine Bewachung? Vielleicht waren wir besonders ängstlich und wollten die schwarz uniformierten Männer einer der professionellen Wachfirmen anheuern? Wir überlegten tatsächlich beides. War Tana tatschlich so unsicher, dass man sich bewachen lassen musste? Finanziell konnten wir es uns jedenfalls leisten. Die deutsche Botschaft empfahl allen im Lande lebenden Europäern dringend, Wachdienste in Anspruch zu nehmen, deshalb wurden mir ortsübliche Kosten der Bewachung im Rahmen meines Entsendungsvertrags erstattet.

    Wir entschieden uns schließlich, uns bewachen zu lassen. So brauchten wir niemanden zu entlassen, brauchten keine Rache arbeitsloser und enttäuschter Wächter zu fürchten (die berufsbedingt immer sehr viel über Haus und Hof wissen). Die Entscheidung war aus vielfältiger Perspektive gut. Es ist nie etwas passiert, in unser Haus und in unseren Garten ist nie eingebrochen worden. Und dank der Kontakte zu unseren Wächtern, die im Laufe der Jahre sehr herzlich wurden, haben wir vieles über den madagassischen Alltag gelernt.

    Zu den vier Wächtern kam nach einigen Wochen noch eine fünfte Mitarbeiterin hinzu, eine Haushälterin. Auch was diese Stelle anging, waren wir erst zögerlich und hatten Schwierigkeiten uns vorzustellen, eine ganz fremde Person so nah an uns heran und mitten in unseren Familienalltag hineinzulassen. Wir erhielten jedoch ununterbrochen Bewerbungen und sahen ein, dass Europäer, die keine Haushaltshilfe einstellten, in den Augen der Madagassen krankhaft geizig waren, da sie noch nicht einmal eine kleine Arbeitsstelle für die Einheimischen einrichteten. So wollten wir nicht sein. Wir begriffen, dass jede europäische Familie in Madagaskar auch ein kleines Konjunkturprogramm zu sein hat und stellten also nach einigen Wochen Frau Lalaina ein, der wir, wie auch den Wächtern, etwa 100,- EUR im Monat zahlten. Frau Lalaina und die Wächter verdienten damit etwa das Doppelte des madagassischen Mindestlohns. Frau Lalaina erwies sich für uns als große Hilfe und wurde für Gisela fast zu einer Freundin. Auch die Kinder liebten sie und so waren wir alle froh, uns gefunden zu haben.

    Bei unserem Einzug war das Haus bis auf Küche und Bäder vollkommen leer, also ging es ans Einrichten. Wir sind moderne Mittel- bzw. Nordeuropäer des 21sten Jahrhunderts. Wir zählen zu den Gewinnern des weltweiten Lottos um Chancen und Ressourcen. Unsere Kultur und unsere Art zu leben wird von großen Teilen der Weltbevölkerung beneidet und imitiert. Diese Neider ahnen nicht, was wir so alles brauchen, um unseren Alltag zu bewältigen, und wie hilflos wir ohne unsere tausende von Dingen und Gerätschaften sind. Bei einem Umzug sind nomadisierende afrikanische Hirten, arktische Inuit-Jäger oder mongolische Reiterstämme deutlich im Vorteil und wir Angehörigen der westlichen Industriekulturen stehen da wie Idioten. Es türmten sich Container, Truhen, Kästen und Koffer voller Gerümpel. Hätte ich geahnt, was alles erforderlich war, um einen europäischen Durchschnittshaushalt für vier Personen mit dem Allernötigsten auszustatten, ich wäre wohl zuhause geblieben. Und wir waren, glaube ich, noch nicht einmal ein besonders anspruchsvoller Haushalt.

    Zu den zehn Umzugskartons aus Deutschland, deren Inhalt in unserem neuen Haus in Tana sofort verschwand als sei er Nichts gewesen, kamen rasch mindestens zehn komplett bis unters Dach vollgestopfte Auto-Ladungen und verschiedene Lieferanten-Fahrten hinzu. Wischmopp, Glühbirnen, Küchenutensilien, Matratzen, Gefäße, Körbe, Handtücher, Waschpulver, Teppiche, Wäscheleine, etwas Werkzeug, Spielzeug, Bücher, Waschmaschine und andere elektronische Geräte, etc. etc. Man braucht tausend und eine Sache. Und von den Lebensmitteln und den Möbeln, die wir natürlich auch herbeischafften bzw. uns liefern ließen, spreche ich noch gar nicht.

    Dennoch: Nach diesen ganzen Wagenladungen sah unser Haus immer noch ziemlich leer aus und uns fiel ständig etwas Lebenswichtiges ein oder auf, das uns noch fehlte. Erst nach etwa einem Jahr ließ unser Drang langsam nach, andauernd emsig irgendwelche unerlässlichen Dinge beschaffen zu müssen.

    Als ich 16 war, hatte ich ein romantisches Ideal von afrikanischen Wanderhirten, die ein einfaches Leben führten, die mit nichts als mit einer Reisigmatte unter dem Arm ihren Herden folgten und dabei in meiner Fantasie frei, glücklich und unbeschwert waren. Wir waren und sind keinesfalls unglücklich. Aber „einfach" ist ein europäischer Haushalt nicht. Und ressourcenschonend auch eher nicht. Zum Trost sagten wir uns, dass jeder europäische Haushalt in Madagaskar dafür dutzende von Handwerkern, Händlern und Dienstleistern glücklich macht. Jeder Madagasse weiß, dass wir Europäer zumeist nicht vernünftig handeln und feilschen können und dass wir wegen unseres eigenen Wohlstands ein latent schlechtes Gewissen haben. Deshalb zahlen wir im Großen und Ganzen ohne zu murren (fast) jeden Preis für Waren und Dienstleistungen. Andere Ausländergruppen, z.B. die Inder, Pakistanis und Chinesen, gelten da als deutlich zähere Burschen und sind deshalb beim lokalen Handwerk weniger beliebt.

    Alle Händler und Handwerker freuten sich, uns zu sehen, und verlangten von uns deutlich stolzere Preise als von ihren Landsleuten. Solange eine gewisse Schamgrenze und Abstand zur Unverschämtheit gewahrt wurde – was regelmäßig der Fall war –, konnten wir gut damit leben. Es war eigentlich eine Win-Win-Situation.

    Der Verkehr

    Die Straßen Tanas sind vollkommen verstopft von Fußgängern, Karren, Fahrrädern, Mopeds, Kleinbussen und Autos. Und was für Autos: Tana ist vom KFZ-Bestand her wie Havanna in Kuba, nur dass hier nicht die Blüten des amerikanischen, sondern vielmehr die des französischen Automobilbaus der 60er und 70er Jahre fröhliche Urstände feiern. Wie viele Kilometer hält eine alte Ente oder ein alter Renault R4? Es müssen Millionen sein. Die Taxiflotte besteht fast ausschließlich aus ausgelaugten und stark verlebten Klein- oder Mittelklassewagen aus der Produktion der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Renault 4, 5, 9, 11, 12 und 16. Auch eine Dauphine aus den frühen 60ern sah ich fast täglich im Einsatz. Alle Varianten der kleinen Zweizylinder-Citroëns und alte Peugeots aller erdenklichen Typen befahren die Straßen. Im Grunde scheinen mir all die Autos aus meinen Kindertagen noch unterwegs zu sein, sie sehen nur deutlich müder aus.

    Anlässlich einer Reise nach Deutschland begeisterte sich ein früherer Bürgermeister von Tana unter anderen Errungenschaften für das deutsche taxi-beige. Er führte es kurzentschlossen auch in seiner eigenen Stadt ein, was zur Folge hat, dass die in die Jahre gekommene Taxiflotte von außen relativ frisch und adrett in „unserer" Taxifarbe durch die Straßen rollt und rumpelt. In den Autos sieht es je nach Basteltalent und Geldbeutel des Eigentümers sehr unterschiedlich, oft allerdings eher bedenklich aus. Die Rahmen, die Sitze, eigentlich alles, ist tausend Mal gebrochen, wieder geflickt, repariert, durch Kisten, Bretter, Schnüre, oder sonst etwas ersetzt, was gerade zur Hand war. Die kleinen Wägelchen haben sich in ihrem Autoleben völlig verausgabt. Meist hatten sie ein erstes Leben in Frankreich, Belgien, Italien oder in Deutschland. Als ihre europäischen Besitzer ihrer überdrüssig waren, verkauften sie die Autos an gewiefte Händler, die weder die Stürme um Kap Hoorn, noch die Frachtkosten, noch die madagassischen Zoll- und Hafenbehörden fürchteten und die die angejahrten Fahrzeuge dann für ihr zweites Leben auf die große Insel verschifften. Hier erwartete sie kein ruhiges Altenteil unter Palmen und tropischer Sonne, sondern die Arbeit ging nun erst richtig los. Manche Taxen

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