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Wortflut & Wissensnot: Episoden aus Corona-Zeiten
Wortflut & Wissensnot: Episoden aus Corona-Zeiten
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eBook268 Seiten3 Stunden

Wortflut & Wissensnot: Episoden aus Corona-Zeiten

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Über dieses E-Book

Das Geschehen zweier ungewöhnlicher Pandemie-Jahre wird unter verschiedensten Gesichtspunkten thematisiert: Die Sorgen Erkrankter und ihrer Angehörigen sind andere als die Nöte der beruflich zum Nichtstun Verdammten. Der Leerlauf der Bildungseinrichtungen steht im Kontrast zum geschäftigen Treiben der Gesundheitsbranche. Angesichts der Überlastung mancher Krankenhäuser wirkt die Politik häufig ratlos und wie gelähmt. Vielen besorgten, oft auch ungeduldigen Menschen steht eine aggressive Minderheit derer gegenüber, die statt der Bedrohung durch das Virus eine gewaltige Verschwörung sehen. Und wie stets und überall gibt es Gewinner und Verlierer.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Jan. 2022
ISBN9783347523630
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    Buchvorschau

    Wortflut & Wissensnot - Martin Mylonas

    Erwachen

    Wie aus dem Nichts tauchen zwei Gesichter auf und beugen sich über meinen Kopf. Deutlich sehe ich nur Haare, Stirn und Augen, darunter erscheint alles verschwommen. Träume ich das? Da reißen beide die Augen auf, nicht bedrohlich, eher überrascht, vielleicht sogar triumphierend. „Hören Sie mich, Herr Ferner?", fragt eine Stimme. Aller Anstrengung zum Trotz gelingt mir kein Ja. Dann verschwindet die Erscheinung, als habe sie ein Windhauch verweht.

    Ich war, wie ich später erfuhr, wieder eingeschlafen. Dieser erste Kontakt zur Außenwelt war ein kurzer und ermüdender.

    Beim nächsten Mal schwebt aus dem Raum heraus eine Gestalt auf mich zu: „Alex! Sie klingt überrascht und glücklich. Es ist meine Frau Sophia. Sie erkenne ich sofort, vermutlich an ihrer Gestalt und Stimme, obwohl auch bei ihr alles unterhalb des Gesichts in gleichförmigem Blaugrün verschwimmt. „Alex, erkennst du mich? Wie geht es dir? Wieder nehme ich alle Kräfte zusammen, erneut ohne Erfolg. Ich bekomme keinen Laut heraus, kann mich auch nicht rühren. Was ist los mit mir? Mit den Blicken stürze ich ihr für einen Moment entgegen, bevor mir die Augen zufallen. „Mein Gott, er ist aufgewacht. Ich bin so glücklich!", höre ich noch von weither, dann vermischen sich andere Stimmen mit der ihren. Vorbei.

    Dies war mein zweiter Ausflug in die Außenwelt eines hell getünchten, irgendwie fremden, weil aufregenden und unruhigen Raumes. Er sollte mir in den nächsten Tagen ebenso vertraut werden wie die weiß oder grün gekleideten Personen, die neugierige Blicke auf piepsende Geräte und Bildschirme mit bunt zuckenden Kurven warfen und dabei manch Seitenblick auch zu mir hin.

    Wer bin ich? Ich, Alexander Ferner, Mitte vierzig, bin gerade dabei, dieses Ich und alles, was dazugehört, zurückzuholen. Dabei bin ich auf das angewiesen, worauf ich über mehrere Wochen hin nicht reagiert habe: auf Ansprache und Anstöße meiner Mitmenschen. Nur dadurch vermag ich allmählich zu erfahren, was hinter mir liegt und weshalb ich mich in diesem weiß getünchten Raum befinde. Bei ‚hinter mir’ geht es um die tiefschlafähnliche Phase, die man als Koma bezeichnet, aber auch um mein Leben davor. Eine große Hilfe bei dieser Rückeroberung ist Sophia, meine Frau und in normalen Zeiten meine ‚Chefin‘. Sie betreibt ein vielbesuchtes Reisebüro, dessen Schwerpunkte Ostasien und der Mittelmeerraum sind. Für letzteren war bis vor kurzem ich zuständig. Als gelernter Historiker und Kunsthistoriker organisierte und begleitete ich die Studienreisen. Doch vorerst bedeutet Reisen für mich: von einem Krankenbett ins nächste.

    Nach einigen Tagen in wachem Zustand durfte ich solch eine Mini-Reise antreten. Aus dem saalähnlichen Überwachungsraum, in dem ich einige Wochen ohne Bewusstsein verbracht hatte, wurde ich samt Infusionsflaschen in einen kleineren, ebenfalls weiß getünchten Raum geschoben, der für einige Zeit mein neues Zuhause werden sollte. Kaum hatte mich eine freundlich besorgte Pflegeschwester neu verkabelt, da trat die erste von drei Therapeutinnen auf, die sich von da an täglich um mich kümmern sollten. Diese Grazien brachten vorsichtig, aber beharrlich, Bewegung in meine steif und kraftlos gewordenen Glieder, ließen mich schwer verständliche Laute allmählich zu einfachen Wörtern formen oder trainierten meine Wahrnehmung anhand von Farben und Formen. Hinzu kamen die regelmäßigen Visiten verschiedenster Doktoren. Sie stellten sich als Spezialisten für Lunge, Herz, Nerven und so weiter vor. Mitunter überlegte ich, wie viele solche Facharbeiter mein Organismus beschäftigen könne. Als ich allmählich ihre emsigen Bemühungen und Fortschritte einzuordnen verstand, verglich ich mich mit einem Boliden, den eine vielarmige Schar von Mechanikern für den bevorstehenden Start bereitmacht. Doch um kraftvolle Beschleunigung ging es bei mir noch lange nicht, eher versuchten wir gemeinsam, den kleinen Fortschritt vom Vortag zu sichern oder ein wenig auszubauen.

    Da meine Frau mich nun regelmäßig besuchen durfte, erfuhr ich von ihr, was in meiner Wahrnehmung nicht existierte: Sechs Wochen hatte ich nach einem Sturz auf den Hinterkopf im Koma auf der Intensivstation gelegen und wurde künstlich ernährt. Schonend bereitete sie mich darauf vor, dass die Genesung einen langen Atem erfordere. Ein Gespräch darüber, welches Ziel schließlich erreichbar wäre, vermieden wir. Stattdessen sprachen wir über die Atemschutzmasken, über deren Rand hinweg mich die neugierigen Augen meiner Therapeutinnen oder Ärzte fixierten. Auch Sophia trug solch eine Maske. Ich hatte das als Vorsichtsmaßnahme zu meinem Schutz eingeordnet. Von meinen Reisen nach Fernost waren mir Masken als vorübergehender Infektionsschutz geläufig, also musste es sich auch im Krankenhaus um diese Vorsichtsmaßnahme handeln. Ja und Nein! Da ich in meiner Erinnerung soweit zurückgefunden hatte, dass ich mich nach unserem Reisebüro erkundigte, schluckte meine Frau kurz und trug dann vor, was sich wie eine Krankenakte anhörte: „Alex, auf Anraten der Ärzte habe ich das von dir ferngehalten. Es sollte deine Genesung nicht behindern. Aber jetzt, wo du danach fragst, will ich dir nichts vormachen. Unser Geschäft steht beinahe vor dem Aus. Du musst wissen, es grassiert im fernen Osten eine Seuche, weshalb das öffentliche Leben dort stark eingeschränkt wurde. An Reisen nach China und in andere asiatische Länder ist vorerst nicht mehr zu denken. Manche befürchten, dass sich die Seuche auch hierzulande ausbreitet. Deshalb müssen wir uns und andere schützen. Die Masken sind ein wichtiges Mittel. Allerdings fehlen sie wie auch andere Schutzausrüstung an allen Ecken und Enden. Ich habe einige durch die Beziehung zu Dr. Mohr, unserem Apotheker, ergattert. Sie sind so rar, dass die Preise für die wertlosen Vliestücher explodiert sind. Mohr hat sie mir aus alter Freundschaft noch zum vorigen Preis überlassen, lässt grüßen und wünscht dir baldige Genesung."

    Das war meine erste Begegnung mit dem, was ich später als Pandemie, genauer gesagt, als deren Auswirkungen kennenlernte. Vorerst beunruhigte mich mehr der Abbruch der Reisebuchungen nach Asien. Sie waren tragender Teil unseres Geschäfts. Weil nach Sophias Worten auch andere Einrichtungen vom Stillstand betroffen waren, tröstete ich mich mit der Erwartung, das alles werde sich längst normalisiert haben, wenn ich wieder ins Geschäft einstiege. Dabei rechnete ich leichtfertig mit wenigen Wochen, was meine Genesung wie auch das Abklingen der Seuche betraf. Die Zuversicht hatte mir ein Oberarzt verordnet, als er sich von mir verabschiedete. Sie galt für die Nachwehen des Sturzes ebenso wie für die neu heraufziehende Bedrohung, die sich vorerst noch undeutlich abzeichnete.

    Als mir die Crew, die mich therapierte, pflegte und überwachte, ans Herz gewachsen war, als ich unterstützt von einer Therapeutin bereits unsicher zum Fenster humpeln und einen Blick auf die Welt draußen werfen durfte, war der nächste Ortswechsel fällig. Es stand ein größerer Umzug an, nicht von Raum zu Raum, sondern von einer Einrichtung zu einer ganz anderen. „Sie sind so weit, dass Sie eine Rehaklinik als neues Zuhause erobern werden!", hatte einer der Ärzte gescherzt. Da würde ich länger bleiben und da werde es mit der Rehabilitation erst so richtig ernst werden. Alle drückten mir die Daumen, ich verabschiedete mich dankbar und ahnte, nach dem therapeutischen Vorspiel wartete dort ein kräftezehrendes Drama perpetuum auf mich.

    Der Umzug verdiente anders als beim vorigen Mal eher die Bezeichnung Reise. Ich wurde in ein Sanitätsfahrzeug geladen und Bewegung sowie regelmäßige Stop-and-gos ließen jeweils erkennen, ob wir uns noch in städtischem Umfeld oder auf einer Landstraße befanden. Nach langer Fahrt hatten wir endlich unser Ziel erreicht, die Rehaklinik in einem offensichtlich waldreichen Mittelgebirge. Meine Sophia war mit Gepäck vorausgereist und hatte sich in Reichweite zur Klinik einquartiert. Die Nähe und Mitwirkung von Angehörigen galten als förderlich für eine Rehabilitation.

    Was mir in der Reha beim einführenden Arztgespräch augenzwinkernd als sportlicher Aufstieg vorgestellt wurde, entpuppte sich als steiler Anstieg unter harter Fron. Ein wöchentlich aktualisierter Stundenplan mit Arztgesprächen, Trainingsstunden zu Wasser und zu Lande, abwechselnd im Freien oder einer Gymnastikhalle, waren eine Art Korsett, das stetig enger geschnürt wurde. Es sollte mich zurückführen in den Kreis der Zweibeiner, die ohne Hilfen aufrecht gehen. Aufmunternd präsentierte der Oberarzt die jeweils nächste Stufe als Ergebnis meiner Fortschritte und der Unterstützung durch Sophia. Undenkbar blieben für mich die kleinen Verstöße gegen das Reglement des Hauses, welche sich manche Mit-Patienten ungeniert leisteten: das Bier und die Zigarette am nahen Kiosk nach den Trainingseinheiten oder das kleine Vesper zwischendurch. Ich glaube, sie schauten bisweilen mitleidig auf mich herab, was ich mit Fassung ertrug. Vielleicht hatte ich, so motivierte mich Sophia zum Durchhalten, krankheitsbedingt mehr auf- und nachzuholen als diese Fastenbrecher.

    Sophia war es auch, die mich dazu brachte, meine Erlebnisse aufzuzeichnen: „Alex, wir sollten realistisch sein. Wie sich die Welt um uns herum entwickelt, wissen wir nicht. Momentan herrscht Stillstand, aber auch Konfusion. Davon bleibt unser Geschäft nicht verschont. Deine Arbeit als Reiseleiter wirst du so schnell nicht mehr aufnehmen können. Was willst du machen, wenn sie dich als geheilt entlassen? Abwarten und Trübsal blasen? Nicht dein Ding, wie ich dich kenne. Du bist Historiker, hast einen interessierten Blick auf das, was um dich herum geschieht. Vielleicht kannst du für spätere Zeiten so eine Art Tagebuch führen?"

    Da hatte sie den Keim gelegt zu einem Vorhaben, das mich fortan nicht mehr losließ. Dass eine aufreibende Zeit für alle bevorstand, war selbst in der Reha nicht zu übersehen. Vorhersehbar war auch, dass die vor uns liegende Wegstrecke in allen Gesellschaften starke Fliehkräfte freisetzen würde: Wir müssten selbstverständliche Freiheiten und gewohnte Annehmlichkeiten binnen kurzem für längere Zeit aufgeben. Mein besonderes Interesse galt der Frage, ob und wie uns das gelänge. So begann ich bald darauf, die Ereignisse aufzuzeichnen. Dabei konnte ich auf Erlebtes wie auch auf allgemein zugängliche Quellen zurückgreifen. Nicht immer war es einfach zu erkunden, was tatsächlich geschah. Zu oft versuchen Akteure Unliebsames zu verschleiern, versuchen Berichterstatter, ihre Beobachtungen einer tatsächlichen oder vermuteten Tendenz folgend zu filtern. Doch für die vorliegende Auswahl und das Bemühen um ‚Wahrheit‘ des Geschriebenen und Gesagten bin ich alleine verantwortlich.

    Bedrohliches rückt näher

    Nach drei Wochen harten Trainings sollte ich auf Sophia als sanfte Antreiberin und nimmermüde Stütze verzichten. Die Lage in Oberitalien hatte sich dramatisch zugespitzt. Den Fernsehnachrichten war zu entnehmen, dass in der Lombardei und in Venetien ganze Städte abgeriegelt und die Zufahrtsstraßen von den Carabinieri streng kontrolliert wurden. Ebenso wie zuvor schon in Wuhan im fernen China durften Zehntausende ihre Wohngebiete nicht mehr verlassen. Wie nicht anders zu erwarten, gab es einen Ansturm auf Läden mit den unverzichtbaren Waren des Alltags. Besonders hat sich mir ein älterer Herr eingeprägt, der vor einer Kamera klagte, die Pasta sei ausverkauft! Hilflos hielt er seinen leeren Einkaufsbeutel hin. Da die Zahl der Infizierten sprunghaft anstieg, wurde gleich darauf der Karneval in Venedig abgesagt und die Scala in Mailand stellte ihren Betrieb ein. Auch von ersten Grenzschließungen in Europa war die Rede, der Bahnverkehr zwischen Österreich und Italien war vorübergehend blockiert.

    Für mich, der ich im Minikosmos Rehaklinik gefangen war, waren dies zunächst befremdliche Vorgänge aus einer medial vermittelten Welt. Doch mit zunehmender Mobilität erschien deutlicher ein Warnsignal am heimischen Horizont: Sophia war Hals über Kopf nach Hause gefahren, weil die Entwicklung im gar nicht so fernen Italien nicht ohne Auswirkungen auf unsere Reiseagentur bleiben konnte. Deren wichtiges Standbein Asien war eingeknickt, die Ziele im Süden Europas lahmten ebenfalls. Was würde aus unseren Mitarbeiterinnen werden? Wie sollten besorgte Kunden beraten oder eher betreut werden? Wenn schon ich als Mitarbeiter ausfiel, war Sophia als Chefin unverzichtbar. Ganz abgesehen von unseren Kindern: Obwohl erwachsen, benötigten sie Gespräch und mahnenden Zuspruch ihrer Mutter. Marcus drohte sich wie eh und je in der Weltverbesserung zu verheddern, Cornelia verzweifelte wegen ausbleibender Kunden in ihrer Boutique für Reisebedarf. Auch um meine Eltern, die vor kurzem in ein Seniorenheim gezogen waren, mussten wir uns kümmern. Unsere Kinder konnten das nicht leisten, sie hatten eigene Sorgen. Und im Heim gab es Befürchtungen, sie könnten dort das unbekannte Virus einschleppen.

    Dass eine Art Unwetter aufzog, blieb selbst im Schutzraum Reha-Einrichtung nicht länger verborgen. Wir Patienten wurden angehalten, vor und nach jeder therapeutischen Anwendung die Hände gründlich zu waschen, die Therapeuten selbst hielten nicht anders als die Ärzte deutlich größeren Abstand zu uns ein, meist auch untereinander. Schutzmaterial wurde mehrfach angekündigt, lieferbar, erfuhren wir, war so gut wie nichts.

    Von Sophia, die nun telefonisch mit mir in Verbindung blieb, erfuhr ich, dass unsere Reiseberaterinnen eine Art Rückwärtsgang eingelegt hatten: Statt Reisen zu verkaufen, mussten sie verkaufte Reisen stornieren und Rückbuchungen vornehmen. Cornelia hatte ihren Laden im nahen Flughafen geschlossen. Denn ans Fliegen wagte kaum noch jemand zu denken, zumal auch in heimischen Regionen die Zahl der Infizierten anstieg.

    In einem Telefongespräch mit unserem Freund und Apotheker Dr. Mohr wollte ich erfahren, wie er die Situation zuhause und darüber hinaus einschätze. Mohr war überrascht über meinen Anruf: „Alexander, ich habe schon ab und zu mit Sophia über deine Genesung gesprochen. Doch jetzt, nach so vielen Wochen deine Stimme am Telefon, das ist für mich, als seist du gerade ins Reich der Lebenden zurückgekehrt. Schlägt die Reha an, machst du ordentlich Fortschritte?" Da die Apotheke bereits geschlossen war und er noch in seiner ‚Hexenküche‘ arbeitete, durfte ich ihn ausführlich informieren. Ich verspürte den Drang, über das zu sprechen, was ich erlebt hatte. Bei solchem Monolog, das ist klar, geht es nicht um Information im strengen Sinne. Wer so berichtet, verschafft sich neue Klarheit über Erlebtes, ordnet es anders ein, verändert es unwillentlich. Der Zuhörende auf der anderen Seite macht möglich, was einsames Blättern in der Erinnerung nicht bewirken könnte.

    Nachdem ich im Gespräch vieles hatte Revue passieren lassen, fand ich zu meinem eigentlichen Anliegen zurück: Wie er die Bedrohung durch das neue Virus einschätze?

    „Ich will ehrlich sein, Alexander. Ich bin kein Virologe und kann deshalb wenig Zuverlässiges sagen. Ich weiß nur, dass der Übeltäter inzwischen auf den Namen Covid-19 getauft wurde."

    „Und wie kann ich mir so ein Virus vorstellen, Alfons?", unterbrach ich ihn.

    „Wenn man den wechselnden Darstellungen in den Medien vertrauen darf, müssen wir uns das Ungeheuer wie einen Seeigel vorstellen, oder anders, wie die stachelige Fruchthülle von Kastanien. Das allerdings im Nanogrößenbereich!"

    „Nano? Und warum ist ein so winziges Biest derart gefährlich?"

    „Alexander, es ist nicht der einzelne Winzling, der uns bedroht. Das Biest, wie du richtig sagst, kann sich teuflisch schnell vermehren, wenn es auf die Schleimhaut in unserer Nase oder im Rachen trifft. Es überquert dann in Kompaniestärke mit seinen Trägern Kontinente, Ozeane und weite Landstriche als eine Art blinder Passagier. Mitfahrgelegenheiten findet die Virenschar, unruhig und rastlos wie wir Menschen heutzutage sind, mehr als genug. Nehmen wir Italien: Dort ist das Virus mit Sicherheit nicht aufgekommen, es wurde wohl von weither aus Asien eingeschleppt. Segnungen einer großen asiatischen Community! Erstaunlich für mich: Dort, wo es herkommt, scheint man die Sache leichter in den Griff zu bekommen, sofern man den Nachrichten vertrauen darf."

    „Was meinst du, Alfons, wollte ich wissen, „werden wir das auch bei uns in den Griff bekommen? Du kannst dir ja ausmalen, was das für unser Geschäft bedeutet.

    Alfons Mohr lachte unüberhörbar gezwungen: „Wenn du so fragst, Alex, dann wäre es an der Zeit, bereits jetzt einer großflächigen Infektion vorzubeugen. Es ist lange schon bekannt, was man zu tun hat. Wer es dennoch nicht weiß, kann es in einem alten Pandemieplan nachlesen oder von den Asiaten lernen. Aber unsere Politiker sind gerade mit Wichtigerem beschäftigt. Den einen steckt noch der Fasching in den Knochen, andere verhöhnen in Bierzelten den politischen Gegner, und einzelne reisen durch die Lande, um sich als Parteiführer zu empfehlen. Vielleicht glauben sie tatsächlich, dass es nichts Wichtigeres gibt als das, was sie gerade treiben. Wenn sie sich da mal nicht täuschen! Hoffen wir, dass ihnen die Einsicht noch rechtzeitig kommt. Sonst kommen uns die Folgen teuer zu stehen!"

    Soweit Alfons Mohr, Freund und Gesprächspartner in ernsten und weniger ernsten Fragen des Lebens. Hoffnung auf eine schnelle Wende zum Besseren konnte er nicht vermitteln; er schien eher vom Gegenteil überzeugt. Das war nicht gerade Rückenwind für meinen Anstrengungen, in den Alltag zurückzufinden. Andererseits wusste ich, dass ich in unserem Reiseunternehmen jetzt mehr als je zuvor gebraucht würde. Dabei würde es weniger um neue Buchungen gehen als um den Versuch, eine drohende Pleite abzuwenden. Auch Cornelia baute auf meine Unterstützung.

    Dies trieb mich dazu, meine Trainingseinheiten zu forcieren. Zusätzlich zur Betreuung durch meine Therapeuten machte ich Übungen auf eigene Faust. So ging ich, wenn auch noch unsicher, mit Krücken vor meinem Zimmer auf und ab oder las die Tageszeitung laut, um meine sprachliche Artikulation zu normalisieren. Die betreuenden Ärzte wunderten sich über die Fortschritte und stimmten nach mehr als sechswöchigem Aufenthalt in der Reha einer Entlassung und weiteren Betreuung zuhause zu: „Machen Sie einen fliegenden Wechsel, aber nehmen Sie das mit dem Fliegen nicht wörtlich! Und nehmen Sie sich in Acht, damit Sie nicht nach überstandenem Knockout in die nächste Katastrophe stolpern."

    Ein Land wechselt in den Leerlauf

    Sophia holte mich dann zu einem Zeitpunkt ab, an dem Deutschland die Grenzen zu Nachbarländern schloss. Für die Heimreise war dies nicht von Belang, dennoch war allein das Wissen bedrückend. Als ich meiner Chauffeurin vorschlug, unterwegs eine Rast einzulegen, war sie skeptisch, ob das möglich sei. Sie sollte recht behalten. In den Ortschaften, durch die wir fuhren, herrschte schon weitgehend Stillstand. Gaststätten hatten sich auf Weisung von oben in Unrast-stätten verwandelt: schwach beleuchtete oder dunkle Fenster überall, kaum eine Menschenseele auf der Straße. Lock-down, erklärte mir Sophia, nenne sich das. Und schon behaupteten einige Politiker lautstark, dass man die Zügel, wie sie es nannten, gar nicht genug anziehen könne. Einer von denen, verriet sie mir, erinnere sie an eine Figur aus Rotkäppchen. „Rotkäppchen?", wollte ich wissen. „Wie kommst du

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