Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

"Wenn ich im Sommer wirklich gehen muss ...": Schicksalsjahre einer Südtiroler Familie
"Wenn ich im Sommer wirklich gehen muss ...": Schicksalsjahre einer Südtiroler Familie
"Wenn ich im Sommer wirklich gehen muss ...": Schicksalsjahre einer Südtiroler Familie
eBook381 Seiten5 Stunden

"Wenn ich im Sommer wirklich gehen muss ...": Schicksalsjahre einer Südtiroler Familie

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Eine Südtiroler Familie steht 1939 vor der Entscheidung ihres Lebens: Soll sie in der Heimat bleiben und dafür definitiv italienisch werden oder in das faschistische Deutschland ziehen? Georg Dignös verwebt Erinnerungen, Fiktion und die Originalkorrespondenz zweier Eheleute zu einer spannenden, bewegenden Familiengeschichte. Gleichzeitig dokumentiert er ein Stück europäischer Zeitgeschichte, das bei vielen Südtirolern Wunden hinterlassen hat, die bis heute, fast siebzig Jahre nach Kriegsende, nicht verheilt sind.
SpracheDeutsch
HerausgeberAllitera Verlag
Erscheinungsdatum14. Sept. 2012
ISBN9783869064048
"Wenn ich im Sommer wirklich gehen muss ...": Schicksalsjahre einer Südtiroler Familie

Ähnlich wie "Wenn ich im Sommer wirklich gehen muss ..."

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für "Wenn ich im Sommer wirklich gehen muss ..."

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    "Wenn ich im Sommer wirklich gehen muss ..." - Georg Dignös

    Bist narret?

    Georg! Essen!«

    Es ist die Tota, die ruft. Aber für Georg gibt es jetzt Wichtigeres. Er hat eine Entdeckung gemacht: Eine Schaufel hat er hinter sich hergezogen, über den Schotterweg, und das hat ein Geräusch ergeben, als ob die Ochsen die Holzfuhre den steinigen Weg aus dem Wald herunterschleiften. Ein gezogenes Quietschen, ein Knirschen, von Dunkel nach Hell, von Hell nach Dunkel. So echt! Könnte das nicht noch stärker werden, wenn man die Schaufel belastet? Das müsste aber schon ein Gewicht sein … Ein großer Stein wäre da recht. Nur ist da keiner. Also in den Schupfen, wo der Bauer seine Werkzeuge hat. Der Hammer? Zu leicht. Da, der Schusterdreifuß, der ist fast nicht zu heben …

    »Ja Bub, bist narret?« Der Hansl. Der Bauer.

    »Ich brauch das auf die Schaufel drauf.«

    »Essen hat’s g’heißen. Aber schnell!«

    Na gut, dann halt später. Dieses ziehende, rieselnde Gequietsche! Dass das so leicht herzustellen war! Das muss er dem Pepi vorführen.

    Jetzt wird halt erst einmal gebetet, im Stehen vor dem Herrgottswinkel in der Küche. Hansl hat seinen Hut auf den Haken hinter der Tür gehängt. Fängt er an oder ist es die Tota? Vater unser kommt vor und Gegrüßet seist du Maria, da kann Georg schon mithalten. Es dauert ziemlich lange. Einmal bringt Hansl den Rhythmus durcheinander, weil er auf »der Herr sei mit … dir!« nach einer Fliege schlägt, die sich auf seinem linken Daumen niedergelassen hatte. Er lächelt dem Buben verschmitzt zu und entblößt seinen Goldzahn.

    Dann setzt sich Georg auf seinen Platz an der Stirnseite, Hansl auf die Bank hinter dem Tisch und die Tota so, dass sie leicht zum Herd hinüber kann. Auf einem Brett bringt sie die frische Polenta. In der Mitte liegt ein Stück Speck, das Weiße ganz glasig. Hansl nimmt sich mit dem Löffel eine ordentliche Portion und schneidet den Speck mit einem spitzen Messer in drei Teile. Er spießt sie auf und legt sie in die Teller.

    Der heiße Speck, das Beste, was es gibt. Er sondert etwas Fett ab, davon profitiert die Polenta. Aber der Salat … Nein. Es sind zwar auch da Speckbröckchen drin, aber alles ist sauer, der Essig so etwas von scharf! Dennoch, die Tota nötigt Georg drei Gabeln auf. Sonst bleibe er nicht gesund. Was würde dann seine Mama sagen?

    »Kommt die Mama am Sonntag?«

    »Weiß ich noch nicht.«

    Gesund bleiben muss er natürlich, also isst er den Salat. Der Mama hat er bei ihrem letzten Besuch das weiße Fleisch seines Oberarms gezeigt und gemeint, das alles verdanke er der Tota, die immer für ihn koche.

    Jetzt wird wieder gebetet. Aber in Gedanken ist er schon woanders.

    »Tota, darf ich?«

    Sie weiß, was er will, wenn er so fragt. Er will hinunter zum Wirt. Da ist die Kegelbahn, da ist die Bocciabahn, da ist die Wirtsstube mit den Zigaretten und Toscanizigarren im Regal. Da sind immer Leute, und da ist der Wirtenpepi. Der ist aber an die zwei Jahre älter – und das ist viel bei einem Sechsjährigen. Ob Pepi sich für das Experiment mit der Schaufel interessiert?

    Die Tota schaut ihn an mit ihrem gütigen Gesicht, und er weiß, dass sie nicht Nein sagen wird. Er solle halt gehen, in Gottes Namen, aber wenn jetzt dann die Schule angehe, werde das nicht mehr so oft möglich sein. Und wann er denn heute das Holz hereintragen wolle?

    »Nach der Marenn.«

    Hansl meldet auch Ansprüche an: Georg soll ihm helfen, Erdäpfelpflanzen auf dem Acker vor dem Haus zu häufeln.

    »Alles nach der Marenn.«

    »Dann vergiss nur nicht zu kommen zur Marenn.«

    Die Tota und Hansl schauen ihm aus dem Küchenfenster nach. Er läuft hinüber zum Kirschbaum, barfuß, in seinem gelben Hemd und in der kurzen Lederhose, die ihm die Mama bei ihrem letzten Besuch gebracht hat. Aber plötzlich macht er eine ärgerliche Handbewegung und kehrt um. Als er wieder ins Blickfeld der Alten kommt, hat er eine Schaufel auf der Achsel.

    »Ja, was will er denn mit der Schaufel!« Hansl macht Anstalten hinauszugehen.

    »Geh lass ihn, er wird schon nichts anstellen.« Und nach einer Pause: »Wer weiß, wie lang er noch da ist.«

    »Meinst nicht, dass sie ihn uns lassen?«

    »Die Gretl vielleicht schon. Sie hat gemeint … wenn er das Höfl kriegt … Aber der Franz …«

    »Er hat ja noch seine zwei Gitschelen. Man tät halt wissen, für was man arbeitet. Ich geh schlafen.«

    Tata Franz am 23. März 1941 aus München an Mama Margret in Kardaun:

    Oh, ich möchte der Tante Tota und Hansl auch so einen lieben Buben wünschen, aber ich fürchte gar sehr, daß das ganz und gar umsonst ist.

    Ja, es war eben ihre Kinderlosigkeit, die die Bäuerin Marie zur Tota, zur Patin des halben Orts werden ließ.

    Georg erwischt den Pepi gerade, als er vom Mittagessen auf die Veranda herauskommt und ins grelle Licht blinzelt. Was die Schaufel bedeuten solle? Er müsse ihm etwas zeigen, sagt Georg. Zögernd kommt Pepi die Treppe herunter und brummt, er werde auf keinen Fall irgendetwas arbeiten. Georg geht rückwärts und zieht den Schaufelrücken über den Sandweg, drückt auch darauf, aber das Geräusch befriedigt ihn selbst nicht.

    »Bist jetzt ganz narret?«, fragt Pepi, nimmt ihm die Schaufel ab und schiebt sie mit der Spitze nach vorn, sodass sie einiges Material aufnimmt. »So geht das.«

    Aber Georg schüttelt den Kopf und erklärt, worauf es ihm ankäme. Als Pepi verstanden hat, geht er in den Schupfen und holt eine besonders breite Schaufel. Damit gehen sie hinter das Haus, wo ein vernachlässigter steiniger Feldweg vom Weinberg herunterkommt.

    »Steig drauf und heb dich beim Stiel.«

    Georg muss sich sehr bücken und hat Mühe, die Balance zu halten. Aber das Geräusch ist jetzt so überzeugend, dass auch Pepi Gefallen an dem Spiel findet. Nach einiger Zeit kommt Rosa, seine große Schwester, schüttelt die hellblonden Zöpfe und fragt, ob sie ganz und gar narret geworden seien. Wie solle ihr Tata bei diesem Lärm schlafen? Pepi antwortet, es sei schon recht, sie könne wieder gehen, sie hätten jetzt sowieso aufgehört.

    Sie gehen zur Bocciabahn, die neben der Kegelbahn in den dicht bewachsenen Hügel hineingeschnitten ist. Die dürren Blätter von den Akazien stören nicht weiter. Eher tun das schon die Äste und Steine, die der steile Abhang da und dort auf die festgestampfte Bahn entlassen hat. Pepi packt eine der Kugeln, die die letzten Spieler achtlos liegen gelassen haben. Er macht einen ersten großen Schritt, und gleichzeitig mit dem zweiten wirft er die Kugel unter der Hand hinaus, auf eine andere, die er so wacker trifft, dass sie wegfliegt, während die seine nahezu stehen bleibt. Er ist von diesem Treffer so begeistert, dass er einen Jubelschrei herauslässt. Georg probiert es auch, aber seine Hände sind zu klein, er kann die Kugel nicht von oben halten. Also wirft er sie von unten in die Luft und hat damit keine Chance zu treffen. Dennoch schlägt er ein richtiges Spiel vor. Also holt Pepi hinter einem Brett den Piccolo hervor, die Kugel, die kleiner ist als alle anderen, und lässt ihn hinausrollen. Georg muss die vier Genagelten nehmen, die er gar nicht liebt, weil die Nägel, die sie von den anderen unterscheiden sollen, wegen des häufigen Gebrauchs schon stark hervorstehen. Pepi rollt dem Piccolo eine Kugel nach, die aber erst drei Meter dahinter zum Stehen kommt. Da ist die von Georg schon viel besser. Pepi schlägt vor, die beiden Kugeln aufzuheben und neu zu beginnen. Aber Georg ist nicht einverstanden, also muss Pepi weitermachen. Seine zweite Kugel ist auch nicht besser, sie begibt sich neben seine erste.

    »Was!«, schreit er empört und visiert die gute Kugel seines Gegners an, um sie durch einen direkten Wurf zu eliminieren. Nach erlaubten drei Schritten lanciert er sein Geschoss, ganz wie vorhin, als er so erfolgreich war. Aber jetzt ist die Entfernung viel größer, die Kugel schlägt irgendwo vorne auf und treibt sogar eine seiner beiden schlechten noch weiter nach hinten. Georg freut sich und ermuntert seinen Gegner. »Noch so eine!« Und Pepi tut ihm den Gefallen: Statt seine letzte Kugel in Ruhe anzulegen, also einfach zum Ziel hinzurollen, versucht er es mit Gewalt. Er feuert sie über die Bahn, wie beim Kegeln, um den Piccolo nach hinten zu stoßen und damit seine schlechten Kugeln zu guten zu machen. Aber er trifft nicht. Es knallt nur kräftig an der hinteren Begrenzung.

    »Jetz woll!«, freut sich Georg. Er weiß von seinem Tata, der schon ein paarmal mit ihm bocce gespielt hat, bevor er »außi« gegangen ist, nämlich nach Deutschland, dass das geduldige Hinrollen immer der sicherste Weg ist. Und tatsächlich, die zweite Kugel hat auch. Pepi weiß, dass eine dritte oder gar vierte die Punkte verdoppelt.

    »Hex, Hex, Hex!«, versucht er es mit übernatürlichen Kräften. Nicht ohne Erfolg: Die dritte bleibt an einem der Akazienstöckchen hängen, die in der Bahn herumliegen. Ein Protest wäre nutzlos, denn solche Hindernisse gelten ja für beide Parteien. Jetzt die vierte. Besonders gut ist sie nicht.

    »Hat! Sechse!«, jubelt Georg vorsorglich. Aber Pepi stellt sich rittlings über den Piccolo, schaut nach rechts, schaut nach links und schüttelt den Kopf. Es beginnt ein umständliches Messen, zuerst mit den schmutzig grauen Füßen, hintereinandergesetzt und ungenau, dann mithilfe zweier Stöcke, die, aneinandergelegt, so lange verschoben werden, bis sie die Entfernung zwischen zwei Kugeln exakt wiedergeben. Das Messungsergebnis geht doch zugunsten Georgs aus, wenn auch knapp, und es spricht für Pepi, dass er, obwohl körperlich so weit überlegen, dies auch anerkennt. Er wird sich seine Punkte schon noch holen, die Partie geht ja, bis einer einundzwanzig hat.

    Aber es kommt nicht einmal zu einem weiteren Spiel. Denn da stehen an der Kegelbahn auf einmal zwei junge Burschen in kurzen blauen Schürzen, lustige Brüder, die eben vom großen Dorf Kurtatsch mit ihrem Ochsenfuhrwerk heraufgekommen sind und zur Hebung ihrer Lebensfreude schnell ein Halbele auskegeln wollen. Ihren Ochsen täte eine kleine Verschnaufpause gut, meinen sie. Nun brauchen sie einen, der ihnen die Kegel aufstellt. Das bringt ein bisschen Geld ein. Dass Pepi sich als Erster anbietet, kann man ihm nicht verübeln. Dafür darf sich Georg auf den Weg machen, um der Rosa auszurichten, dass eine Halbe Rotwein gefragt ist.

    Er kommt an dem Fuhrwerk der Burschen vorbei und betrachtet die Tiere, die sich mit Ohrenschlackern und Schwanzschlagen der Fliegen und Bremsen zu erwehren versuchen. Die haben aber dunkle Gesichter, die sind ja … ein bisschen unheimlich! Die Ochsen vom Hansl sind fast weiß und bestimmt viel milder, sanfter.

    Margret am 15. September 1937 aus Penon an Franz in Bozen:

    Hansl hat wirklich Ochsen gekauft und die Kuh verkauft und hat eine riesige Freude damit. Es sind recht nette Viecher, schöne Köpfe, jung und ganz gut genährt. Halt noch klein. Lire 4375.

    Wie zum Beweis ihrer Wildheit ziehen die beiden Dunklen plötzlich an und schleifen die Carrula trotz angezogener Bremsen vorwärts, in Richtung Hinterpenon, wo sie ihren Heimatstall wissen. Eines der Räder blockiert mitunter, und da ist wieder das Geräusch, das es Georg so angetan hat, aber das kann er sich jetzt nicht lange anhören. Er läuft schreiend zur Kegelbahn zurück, von wo ihm bereits der Ältere der Brüder mit Ostia Madonna und viel Ähnlichem entgegenkommt. Jetzt setzt es aber eine Strafe bei den Ausreißern! Etwas haben sie ja auch verdient, die Unheimlichen, die dürfen doch nicht einfach lospreschen. Dass es dann aber gleich solche Prügel sind … Mit dem ledernen, harten Handgriff der Peitsche schlägt ihnen der Bursche auf die Schnauzen, schnell hintereinander und wahllos. Mitunter klingt es hohl, mitunter patscht es. Die Wehrlosen können nichts tun, als ihre Augen zuckend zusammenkneifen und versuchen, nach hinten oder seitlich auszuweichen. Dabei geben sie keinen Laut von sich, während die christlichen Flüche ihres Herrn umso lauter ausfallen. Georg schneidet die brutale Aktion bald ins Herz, es ist vor allem die Lautlosigkeit der sich windenden Tiere, die er nicht ertragen kann.

    »Aufhören! Genug!«, ruft er. Aber der Kerl hört nichts, so hat er sich in Wut gesteigert. Georg zerrt den Burschen am Hemd, bis der ihn anherrscht: »Willst etwa auch eine?« Das braucht Georg nicht zu beantworten, da geht er besser auf Distanz. Aber jetzt ändert sich die Szene, weil auf dem ebenen Wegstück ein anderes Fuhrwerk entgegengekommen ist, geführt von einem alten Graukopf. Der fragt den Prügler, ob er denn narret sei? Wenn er den Ochsen das Maul derschlage, könnten sie ja nicht mehr fressen, dann könne er seine Carrula selber ziehen. Das wirkt. Es erinnert den Burschen wohl auch daran, dass er sich zu Hause zu rechtfertigen hätte, und so lässt er seine verstörten Ochsen wenden, um sie am Bildstock neben der Kegelbahn anzubinden.

    Georg besinnt sich auf seinen Auftrag und steigt die Treppe im Wirtshaus hinauf, um Rosa zu suchen. Er findet sie in der Stube, wo sie mit ihrer älteren Schwester Mizzi die Bilder eines Buchs anschaut, das Mizzi aber schnell weglegt, als der Bub hereinkommt.

    »Ja was will denn das Georgele?«, fragt sie, und sie redet, als hätte sie einen Säugling vor sich. Fehlt nur, dass sie ihm am Kinn killekille macht.

    »Einen halben Liter Wein«, sagt er trotzig.

    »Ja, will denn das Georgele einen halben Liter Wein trinkelen?«

    »Ich doch nicht! Die zwei Kegelmänner draußen.«

    »Geh, Rosa.«

    Georg wendet sich ebenfalls ab.

    »Bleib doch noch ein bissl bei der Tante Mizzi. Was hast denn da für ein schönes Hösel? Nein, hast du ein schönes Hösel. Das ist ja ein Lederhösel. Wo hast denn das her?«

    »Von der Mama.«

    Mama Margret am 9. April 1941 an Tata Franz in München:

    Am Sonntag war ich in Penon, unserem lieben Söhnchen einen Osterbesuch machen. Er sieht blühend aus und wächst wie eine Tanne im Frühling. Er war sehr erfreut und hat sich wirklich die Zeit genommen, uns Gesellschaft zu leisten. Ich brachte ihm auch eine Lederhose, die ich von meiner Schwester bekommen habe. Er hat sie gleich angezogen und war recht stramm und stolz damit. Professor Kramar ist mit mir gegangen, er wollte auch Penon kennen lernen, doch es war schlechtes Wetter und viel Nebel, so daß wenig zu sehen war.

    »War sie da? Warum kommt sie denn nicht öfter zum Georgele?«

    »Sie kommt schon. Sie muss Schule halten. Ich muss jetzt gehn, Kegel aufstellen.«

    »Ist der Herr, der mit der Mama gekommen ist, dein Tata?«

    »Nein! Du kennst doch mein’ Tata!«

    »Ja, wer ist es denn nachher?«

    »Weiß ich nicht. Ein Lehrer, ein anderer Lehrer. Lass mich aus jetzt!« Sie hat ihn am Hosenträger gehalten, er reißt sich los und hört noch, wie sie nachsichtig lacht. Diese Ausfragerei! Und muss man mit ihm reden wie mit einem Kleinkind? Er kommt doch im Herbst schon in die Schule! Wie kann sie den alten Mann, mit dem die Mama an Ostern hier war, mit seinem Tata verwechseln? Der kommt aus Penon, von Voldersberg drüben, den kennt sie doch!

    Gerade hält die Kugel reiche Ernte unter den Kegeln, das hört er schon von Weitem, da fängt er an zu laufen. Pepi vorn springt mit einem verwunderten »Jioi!« aus seinem sicheren Platz in das schräg gestellte Quadrat und räumt die Kegelleichen beiseite. Ein mächtiger Wurf, aber eine schwierige Konstellation! Außer dem König steht nur noch der Eck ganz vorne. Natürlich gilt es jetzt, den allein umzulegen und den König stehen zu lassen, ein Kranzl ist viel mehr wert als ein restlos abgeräumtes Feld. Wie aber …? Der Bursche, der jetzt dran ist, weiß, dass er den Eck nur allein wegbringt, wenn er ihn knapp seitlich erwischt und obendrein ganz sanft. Es ist der, der vorhin die Ochsen so grausam gezüchtigt hat, also wünscht ihm Georg, dass es ihm misslingt. »Hex, Hex, Hex!«, sagt er leise vor sich hin, und Rosa, die noch dasteht mit ihrem leeren Tablett, fragt ihn verwundert: »Ja warum?«

    »Er hat seine Ochsen verdroschen.«

    Rosa sagt nichts, streicht ihm aber über das Haar. Der Bursche hat den einen Zipfel seines blauen Fürtuchs ins Schurzband gesteckt, um ungehindert zu sein, beugt sein Knie fast bis zum Boden, und im Aufstehen, mit einem Schritt nach vorn, setzt er die Kugel auf das schmale Brett. Aber er sieht sofort, dass es nichts wird: Links, sie tendiert nach links. Mit einem gezischten Oschtia! und weit ausholenden Drehbewegungen der Arme versucht er, den Kurs zu korrigieren, vergebens: Die beiden Kegel bleiben unbehelligt. Rosa, die den glücklosen Spieler wohl in einem ganz anderen Licht sieht, droht Georg mit dem Finger: »Wenn ich ihm sag, dass du’s verhext hast …« Ein bisschen Angst macht sie ihm damit schon. Dennoch bleibt er tapfer stehen, als der Bursche herankommt, um einen Schluck aus seinem Glas zu nehmen. Sie sagt aber nichts, und der Bursche scheint sich ohnedies nur für das Mädchen zu interessieren.

    »Hast du schöne Zöpflen«, sagt er, nimmt einen in die Hand und führt ihn an seine Nase. Rosa wird rot und bewegt sich nicht. »Du wirst einmal eine schöne Gitsch. Oder bist es schon? Ich glaub, du bist es schon. Komm, gib mir ein Bussl.«

    Rosa, dunkelrot, befreit ihren Zopf. »Geh, bist ja narret«, sagt sie leise. Georg kann nicht verstehen, dass sie nicht schimpft, wo sie doch so bedroht wird. Und sie scheint sogar ganz zufrieden ins Wirtshaus zurückzugehen.

    Der andere Kegler hat inzwischen enttäuscht aufgeheult, weil er nicht nur den Eck, sondern auch den König umgelegt hat. Obwohl er jetzt getroffen hat, hat er insgesamt verloren, er muss die Halbe zahlen. Pepi stellt neu auf, aber das Spiel geht nicht weiter. Die Burschen scheinen sich auf ihre Pflichten zu besinnen, auch auf die Ochsen, die schon ein paarmal gebrüllt haben. Pepi bekommt seine fünf Centesimi für das Aufstellen und die sechzig für den Wein.

    Das Fuhrwerk entfernt sich, es wird still in der Hitze des Nachmittags. Der Wind fährt zwar hie und da in die Akazien, auch Zikaden wären zu hören, aber die Buben nehmen das nicht wahr. Das Bocciaspiel fortsetzen? Pepi weiß noch Besseres. Georg solle nur mitkommen. Er schlägt den steinigen Feldweg ein, der hinter dem Haus hinaufführt bis zum Anfang des Weinbergs. Kein Vergnügen für die bloßen Füße. Im Vorbeigehen sehen sie die Trauben hängen, die anflugweise zu dunkeln beginnen unter den grünlichen Vitriolspritzern, aber es dauert noch Wochen bis zu ihrer Genießbarkeit, es hat keinen Sinn, auch nur eine zu versuchen. Georg fragt, wohin es gehe, und wie weit. Ihm ist eingefallen, dass er zur Marenn zu Hause sein muss. Pepi aber geizt mit den Antworten, das hat er seinem Tata abgeschaut, das ist männlich. Er geht voraus, durch eine Pergel, über sich haben sie die Trauben, unter sich dichtes Gras und Kraut. Das müsse demnächst untergepflügt werden, meint er einmal lakonisch. Am anderen Rand geht es aufwärts, und, etwas versteckt zwischen den Reben findet er das Pfirsichbäumchen, auf das es ihm ankommt. »Jioi!«, jubelt er, sobald er die rotbackigen Früchte sieht. Wenn sie jetzt auch noch reif sind … Und das müssen sie sein, sonst lägen nicht so viele schon am Boden und sonst würden jetzt auch nicht die zwei großen Vögel unter ärgerlichem Gekreische vom Bäumchen oben wegfliegen. Sofort hat Pepi ihnen einen Stein nachgeworfen, ohne Aussicht zu treffen. Es sind Gratschen, Eichelhäher, die offenbar auch einmal für süßes Obst zu Hause sind. Es gibt keinen, der sie nicht kennt. Die kleinen weißblauen Federn, die sie an der Seite haben, möchte sich jeder auf seinen Hut stecken. Jetzt haben sie sich außer Wurfweite niedergelassen. Während Pepi sich auf eine lange Querstange hinaufzieht, um an die Pfirsiche heranzukommen, sucht Georg am Boden. Sie sind alle etwas verschmutzt oder angeschlagen oder angefault. Der da! Ah! Das weiße, saftige Fleisch! Der feine Geschmack! Die samtige Haut!

    »Die sind ja gut!«, ruft er hinauf.

    »Das will ich meinen!«, antwortet Pepi schmatzend. »Jetzt brauch ich ein Fürtig

    Aber keiner der beiden hat eines an. Nicht dass sie keines hätten. Kein Bub, kein Mann ohne blauen Schurz. Hansl hat Georg erst vor ein paar Wochen seinen ersten gekauft, in Kurtatsch, im Konsumverein. Aber heute ist es einfach zu warm, Hemd und Hose allein sind schon zu viel. Sie müssen sich anders behelfen. Pepi wirft die Pfirsiche herunter, Georg soll jeden einzeln fangen, was ihm in den meisten Fällen auch gelingt. Allerdings platzen die ganz reifen gerne auf, bald läuft ihm der Saft an die Ellbogen.

    »Und jetzt?«, fragt er, als Pepi die Strecke am Boden besichtigt.

    »Jetzt ziehst du’s Hemd aus, deins ist sauberer.«

    Sein schönes gelbkariertes Hemd, soll er es wirklich dafür hernehmen? Aber die Tota wird sich freuen, wenn er ihr so gute Pfirsiche bringt.

    Wie spät es wohl sei, fragt er den Pepi, als er ihm das Hemd hinhält. Den Kirchturm mit der Uhr kann man von hier nicht sehen. Schmal kommt er heraus unter seinen Hosenträgern, und weißhäutig. Pepi meint, er hätte es vier schlagen hören. Da erschrickt Georg, denn um vier gibt es die Marenn. Er fordert hastig sein Hemd zurück, er will sofort heimrennen. Pepi aber bremst, was denn da so schlimm sei, die schönen Pfirsiche könne man doch nicht einfach liegen lassen, wozu hätte er sie denn so mühselig geklaubt? Er hält das Hemd auseinander, so gut es geht, heißt den Georg einfüllen und macht zuletzt eine Art Beutel daraus, indem er die Ärmel zuknotet. Die ersten feuchten Flecken werden sichtbar. Wie lang doch der Rückweg ist! Und die Turmuhr bestätigt, was Pepi gesagt hat. Schnell wird oben beim Wirt der Großteil herausgenommen, mit dem Rest im triefenden Bündel rennt Georg hinauf zu seinem Haus, atemlos, schuldbewusst, angsterfüllt. Durch das Hoftor, zur Haustür, die Klinke heruntergedrückt – zu! Es ist zugesperrt! Sie haben ihn ausgesperrt! »Tota! Tota!« Er rüttelt an der Klinke, weint, heult, von einer bisher nicht erlebten Angst besetzt. Keine Heimat! Nirgends zu Hause! Er tue das nie mehr, schreit er, sie solle doch nur noch dies eine Mal aufmachen, er habe so schöne Pfirsiche gebracht, für sie, nur deswegen sei er zu spät gekommen. Er hält inne und lauscht mit offenem Mund, ob sich etwas rührt. Aber alles bleibt still, sie sitzen da drin und wollen nichts mehr von ihm wissen. Weinend geht er zum Hoftor zurück. Ist durch das Küchenfenster etwas zu erreichen? Da fällt sein Blick auf den Schusterdreifuß auf der Werkbank. Den wollte er … Ach, die Schaufel! Er hat die Schaufel unten gelassen, beim Pepi, da wird Hansl noch extra wütend sein. Gleich wieder hinunterlaufen? Nein, wenn er jetzt nicht dableibt, machen sie überhaupt nicht mehr auf. Er muss weiterbetteln. Also ans Küchenfenster hingejammert: »Tota, Tota, lass mi eini, bittschean, bittschean!«

    »Ja Georg!«

    Da drüben, da stehen sie doch, neben dem Brunnen, am Eingang zum Hohlweg, der den Weinberg, den Geirich, hinter dem Haus teilt. Da haben sie gearbeitet, Hansl mit der Hau, die er auf der Schulter hat, und die Tota mit der Sichel. Georg starrt sie an, ein Anflug von Lächeln erscheint auf seinen nassen Wangen. Also war dieser Schrecken umsonst?

    »Was ist denn mit deinem Hemd?«

    »Da! Pfearscher, für euch«, sagt er kläglich.

    »Ja Madonzki, das ist ja wie Häuslsur, da drin«, sagt Hansl, nachdem er in das Bündel geschaut hat. Die Tota schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen. »Wie soll denn das noch sauber werden? Pfirsichflecken!«

    »Die Mama. Die Mama wird’s waschen.«

    »Die Mama«, sagt die Tota resigniert. »Die Mama kann auch nicht hexen.«

    »Doch! Die Mama kann alles.« Er lacht sie ein wenig an, schon ist so etwas wie Übermut in ihm. Er weiß, dass es ausgestanden ist. Sie sind selbst zu spät gekommen. Die Verzweiflung war unnötig, aber sie war furchtbar, so furchtbar.

    Die Tota schüttet die überreifen Früchte in eine Schüssel. Hansl probiert und meint, sie wären ja so weit ganz gut, wenn man sie nur nicht mit dem Löffel essen müsste. Das Hemd wird vorerst einmal eingeweicht. Dann stellt Tota Milch auf für den Malzkaffee. Georg, in einem frischen Hemd, raunt ihr zu, er renne schnell, um die Schaufel zu holen, er solle nichts merken. Und wirklich, als der Kaffee fertig ist, ist er auch schon wieder da. Die Schaufel war noch an Pepis Scheunentor gestanden. Georg ist jetzt so glücklich, dass er anfängt, vor sich hinzusummen. Es gibt Weißbrot mit Marmelade, mit einer ganz besonderen Marmelade, die so fest ist, dass man sie aus einer kleinen Kiste herausschneiden muss. Hat auch die Mama gebracht. Er ist begeistert. Marmelade läuft doch sonst immer den Brotrand hinunter. Hansl aber hat sich ein Viertele von seinem Hauswein geholt und ein schmales Stück Speck von der großen Metzet im Keller herabgeschnitten. Georg erzählt von seinem erfolgreichen Bocciaspiel und von den beiden Gratschen, die vom Pfirsichbäumchen weggeflogen sind. Das mit den Gratschen interessiert Hansl. Dass sie auch Pfirsiche mögen, ist ihm neu. Dann bräuchte er eigentlich nicht zu warten, bis die Nussen oberhalb seines Gemüsegartens reif sind, um ihnen aufzulauern. Im vorigen Herbst war Georg einmal beim Ansitzen mit der Schrotflinte geduldet gewesen, aber weil er allenfalls flüstern durfte und die Gratschen partout nicht kommen wollten, es also nie zum Knall kam, hatte er sich bald wieder verabschiedet.

    Fackengrint

    Die Mama kommt am Sonntag nicht, dafür aber ihr Bruder, der Onkel Karl. Ein schöner Mann, mit Löckchen auf dem Kopf. Vielleicht weil sein großes Gesicht so fleischig ist, nennen ihn Georgs Schwestern Fackengrint . Das bedeutet immerhin Schweinskopf, aber es stört ihn nicht. Er liebt Kinder, umso mehr, als er und seine Frau keine haben.

    Jetzt allerdings, in diesen Monaten, haben sie ein Kind, nämlich Georgs große Schwester Annemie, die bei ihnen in Pension lebt, bis über die Auswanderung entschieden ist.

    Der Onkel packt den Manndl zur Begrüßung hinten an den Hosenträgern und hebt ihn hoch, wie er es mit ihm oft gemacht hat, als er noch nicht aufrecht ging. Aber er lässt ihn schnell wieder herab, so schwer ist er geworden. Oder hat ihn der lange Anmarsch von der Bahnstation erschöpft?

    Jetzt sitzt er hinter dem Küchentisch, der städtische Mann, zur einen Seite den Manndl, zur anderen Hansl, der vom Kirchgang noch im Feiertagshemd ist und sich dennoch geniert angesichts der herrischen Ausstrahlung. Vor sich haben die Männer ein Glas vom Besseren. Speck und Brot hat der Gast abgelehnt, um sich nicht den Appetit auf das Mittagessen zu verderben, an dem Tota vor aller Augen arbeitet. Nicht die übliche Polenta, sondern einen gebratenen Gicker soll es heute geben, mit Reis und Salat. Der junge Gockel war ohnedies nicht mehr zu halten gewesen, er war mit

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1