Germaine Berton, die rote Jungfrau
Von Yvan Goll
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Über dieses E-Book
Yvan Goll
YVAN GOLL (1891–1950) war ein deutsch-französischer Dichter und der Ehemann von Claire Goll. Als Pazifist vor dem Wehrdienst fliehend, emigrierte er zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 in die Schweiz, wo er in Zürich, Lausanne und Ascona lebte.
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Buchvorschau
Germaine Berton, die rote Jungfrau - Yvan Goll
Yvan Goll
Germaine Berton, die rote Jungfrau
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2022
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066435813
Inhaltsverzeichnis
Film vom Selbstmord eines Knaben
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Epilog.
Nach dem Krieg. Nach dem Frieden. Frankreich fiebert. Fieber ist der Kampf zwischen heiß und kalt. Geht es nach rechts? Geht es nach links? Eine bestimmte Krankheit ist nicht zu konstatieren, aber um so gefährlicher ist jeder Millimeter der Kurve. Das Tamtam des Sieges ist groß, aber das Schweigen der Massen ist imposant. 1920 wirft ein Streik einen roten Schein in die Nacht. Paris ist die Stätte der ehrfurchtgebietenden Patina, die ererbten Ideologien leben im Volke weiter, wie Bart und Nägel an den Kadavern weiter wachsen. In Wirklichkeit hat die russische Revolution die Weltgeschichte mit einem Ruck um Jahrhunderte weiter gebracht: aber Frankreich lebt noch nach alten Kalendern, mit den entwerteten dreiprozentigen Renten und einer Ideologie, die aus feinem Weißbrot ist, aber schon acht Tage altem, ungenießbar gewordenem Weißbrot, an dem man sich die Zähne zerbricht. Die sozialistischen Köpfe selbst leben von ererbtem Gut, von Jules Guesde und Vaillant, und glauben an die Namen von vor 1914. Aber von der Front stürmen junge Männer zurück, die riechen nach Blut, die haben einen Wind vom weiten Europa herüberwehen hören, und schütten ihn jetzt auf den öffentlichen Plätzen aus, in den Wahlversammlungen, in den Meetings. Sie sind die Abgeordneten der Kriegsbetrogenen im Ballsaal der Geretteten. Sie gründen Clarté, mit Barbusse zusammen. Es ist eine wirre, neblige Zeit. Das Gespenst der Revolution wird auf den Boulevards herumgetragen: eine freche, rotbärtige Fratze, mit einem Messer zwischen den Zähnen, das ist das Wahlplakat der Reaktion gegen den Kommunismus. Der Bürger hat aber genug Blut gehabt, er braucht Ruhe. Die Amerikaner haben Montmartre besetzt gehalten, und die Hotels Meublés, die Bäckereien, die Dancings verzehnfachen ihre Einnahmen. Das Volk wählt für die berühmte Ordnung der Kassa.
Der Zorn des Parti Socialiste schlägt nach innen. Das Geschwür ist nicht gereift, die Blutzirkulation ist zerstört und vergiftet. Nun kommen Handel und Händel mit Moskau. Auf dem berühmten Kongreß von Tours tritt der Parti in die III. Internationale ein. Aber nur die Partei: dem individualistischen Franzosen behagt kein Papsttum, er versucht die eisigen Dekrete Rußlands auf seine Körper- und Seelenmaße umzumildern. Die Diktatur meint es anders. Und langsam krachen die Fugen des Hauses. Die linke Minorität hat einen Augenblick noch die Oberhand und erobert definitiv im nächsten Pariser Kongreß die Humanité mit allem Drum und Dran, und die tatsächliche Erbfolge Jaurès. Der Parti Socialiste, mit Blum und Renaudel, glitscht langsam in den Parlamentarismus zurück.
Viele Arbeiter, angeekelt von den politischen Umtrieben der Führer, sehen sich nach was anderem um. Da ist die Anarchie. Sie ist eine lockende Illusion, sie negiert Staat, jegliche Autorität und proklamiert die Freiheit des Individuums. Ziel: die arbeitenden Massen sollen Arbeitsgemeinschaften bilden und alle Produktionsmöglichkeiten an sich reißen. Keine Politik, direkte Tat. Es ist nur eine Illusion. Aber sie tröstet. Viele kommen zu ihr.
In den Pariser Faubourgs gedeiht eine eigentümliche Fauna. Nirgends, wie sonst in Vorstädten, der Geruch von Armut oder Elend. Fast ein behäbiges Leben. Die proletarischen Allüren immer menschlich und zivilisiert. Irgendwo ist der kleine Mann immer ein Monsieur. Äußerlich fast ein Bürger: auch die Casquette, auch der rote Gürtel sind elegant. Sonntags nimmt man den Amer Picon auf der Terrasse der Cafés und bringt ein Dutzend Austern zu 1 Franken heim. „Ich will, daß jeder am Sonntag seine frischen Austern habe," könnte