Jakob Kellenberger. Zwischen Macht und Ohnmacht: Annäherung an einen Diplomaten
Von René Sollberger
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Jakob Kellenberger. Zwischen Macht und Ohnmacht - René Sollberger
René Sollberger
Jakob Kellenberger
Zwischen Macht und Ohnmacht
Annäherung an einen Diplomaten
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2019 (ISBN 978-3-03810-440-7)
Lektorat: Corinne Hügli, Richterswil
Umschlaggestaltung: GYSIN [Konzept+Gestaltung], Chur
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
ISBN E-Book 978-3-03810-452-0
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Inhalt
Vorwort
1 Eine Nacht in Kandahar
2 Bergtour mit Popper, Sloterdijk und Fontane
3 Zerreissprobe in Washington
4 Im Chalet Les Trois Arolles
5 Im Bann des Sudan
6 Die innere Temperatur der Schweiz
7 In der Hölle des Heiligen Landes
8 Arroganz der Macht
9 Der Leidgenosse
Schauplätze
Zeittafel
Publikationen
Bildnachweis
Dank
Der Autor
Vorwort
Jakob Kellenberger ist ein unmöglicher Mensch. Unmöglich fleissig, ehrgeizig, diszipliniert, pflichtbewusst, loyal, kompetent und erfolgreich. Aber auch unmöglich schwierig, komplex und kompliziert. Zudem ist er unmöglich bescheiden, wenn es um seine Person geht, aber nicht, wenn es um die Sache geht. Dann ist er äusserst ehrgeizig.
Er steht ungern im Mittelpunkt. Er scheut das Rampenlicht. Mit dieser Biografie hat er immer wieder gehadert, denn darin dreht sich naturgemäss alles um seine Person, um sein Leben und seine Karriere. Eigentlich wünscht er kein Buch über sich selbst. Geschickt verschiebt er im Gespräch den Fokus immer wieder auf Sachthemen wie die Integrationspolitik der Schweiz in der EU oder auf die «Organisation», wie er das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) nennt. Eigentlich schreibt er am liebsten selbst, damit er selbst die volle Kontrolle hat.
Jakob Kellenberger ist aber auch unmöglich freundlich und zuvorkommend und manchmal unmöglich geduldig. Ein Gutmensch? Nein, aber ein guter Mensch. Er sieht seit langem schon zehn Jahre älter aus als er ist, mit seinem weissbärtigen, hageren Gesicht, den tief liegenden Augen und den Sorgenfalten auf der Stirn. Nur wenn er schmunzelt oder lächelt – was selten vorkommt –, scheint er um Jahre verjüngt. Ein Porträt vermag dem gebürtigen Appenzeller kaum gerecht zu werden. Aber einen Versuch ist es wert. Die vorliegende Biografie beobachtet anhand von Episoden und Begegnungen aus nächster Nähe das Handeln und – weit bedeutender – das Denken des ehemaligen IKRK-Präsidenten und Schweizer Chefdiplomaten. Aber es kommen Zweifel auf. Lässt sich ein derartig reichhaltiges Leben und Wirken auf 200 Seiten einfangen?
Es war auf einer zweitägigen Bergtour im Berner Oberland, zusammen mit dem damaligen SBB-Chef Benedikt Weibel, als ich Jakob Kellenberger erstmals persönlich begegnete. Das war am 31. August 2002. Die Tour war anspruchsvoll, nicht nur wegen des steilen Geländes und des schlechten Wetters, sondern auch wegen der intensiven Gespräche über Literatur und Philosophie. Als Journalist hätte ich erwartet, mehr über Politik und Wirtschaft zu hören. Eines ist mir auf dieser Tour hingegen klar geworden: Sprache ist für Kellenberger wichtig, mehr noch: entscheidend.
Seine frühere Funktion als Chefunterhändler des ersten Bündels bilateraler Verträge zwischen der Schweiz und der EU hatte der Spitzendiplomat im Januar 2000 gegen eine ganz andere Position eingetauscht: die des Präsidenten der weltumspannenden Hilfsorganisation IKRK in Genf. Nach seiner Einarbeitungszeit geschah etwas, das seine gesamte zwölfjährige Amtszeit prägen sollte: die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA. Dadurch verlagerte sich der Schwerpunkt der Arbeit der Organisation. Während früher die Bekämpfung der Folgen von Armut, Hunger, Naturkatastrophen und Bürgerkriegen vor allem in Schwarzafrika im Fokus stand, richtete sich das Augenmerk fortan auf die Kriege im Irak und in Afghanistan sowie auf die Rolle der USA und ihrer Verbündeten und die Rolle der Taliban und der Al-Kaida. Dazu kam – kurz vor dem Ende von Kellenbergers Amtszeit – 2010 der Arabische Frühling, während der Nahostkonflikt ein Dauerthema blieb. Im Sommer 2012, im Alter von fast 68 Jahren, verabschiedete er sich vom IKRK. Seither arbeitet er als Hochschuldozent und Publizist.
Das Buch erzählt reportageartig von den Treffen des ehemaligen Chefdiplomaten und IKRK-Präsidenten mit Verhandlungspartnern, Staats- und Regierungschefs, aber auch mit Anführern der Taliban, der Hamas, der Hisbollah und der Fatah. Berührungsängste kennt Kellenberger nicht. Grundlage des Porträts bilden neben vielen Gesprächen die ausführlichen Tagebücher, die er für diese Biografie erstmals zugänglich macht. Die detaillierten Aufzeichnungen erlauben es, Reisen und Begegnungen wie in einem Film nachzuzeichnen, insbesondere die zuweilen lebensgefährlichen Feldbesuche. Das Buch nimmt die Leserinnen und Leser mit, wenn der Diplomat mit den Machthabern im Weissen Haus und im Kreml Klartext redet oder seine Verhandlungskünste einsetzt. Die Szenen sind aussergewöhnlich, weil das IKRK nie öffentlich informiert, wie Verhandlungen ablaufen, was gesprochen wird und wer wie reagiert. In den Tagebüchern finden sich auch Gedanken und Schilderungen, die ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Darauf nimmt die vorliegende Biografie Rücksicht, soweit es Kellenberger wünscht. Denn er will keinesfalls Hypotheken für das IKRK schaffen. Er will auch vermeiden, dass sich Personen oder Organisationen übermässig kritisiert, angegriffen oder beleidigt fühlen.
Jakob Kellenberger ist wohl der am meisten unterschätzte Aussenpolitiker der Schweiz. Das zeigen Kommentare von Weggefährten, darunter ehemalige Bundesräte. Unabhängig von der politischen Couleur sind sie des Lobes voll. Kaum einer hat in den Beziehungen zum Ausland so viel bewegt und erreicht wie er, zuerst als Chef des Integrationsbüros und Chefunterhändler für die Bilateralen, dann als IKRK-Präsident. Kaum ein anderer Schweizer wurde seit dem Zweiten Weltkrieg international derart beachtet, geachtet und ausgezeichnet. Er hat dem Bundesrat den Weg nach Europa aufgezeigt, bis hin zum EU-Beitrittsgesuch von 1992, das aus seiner Feder stammt. Das Buch zeigt, was Kellenberger antreibt, was ihm wichtig ist, was ihn bedrückt und aufregt. Und warum er in praktisch allem, was er gemacht hat, erfolgreich war. Aber trotz seiner kritischen Haltung zu seinem Land ist er durch und durch Patriot.
Das Porträt gibt nicht nur Einblick in die Arbeit des Spitzendiplomaten und Kämpfers für das humanitäre Völkerrecht. Es enthält auch Geschichten aus seinem Privatleben, etwa über die schon in der Studienzeit geschlossene Ehe mit Elisabeth Kellenberger-Jossi – ebenfalls Akademikerin. Er hat ihrer ausdauernden und mitdenkenden Unterstützung viel zu verdanken, auch bei der Entstehung dieser Biografie. Das Buch erzählt weiter, wie es zu Hause in Kellenbergers Chalet in den Waadtländer Alpen aussieht, aber auch von seinen Auftritten als Gastdozent an der ETH in Zürich. Und obwohl Kellenberger nie ein politisches Amt innehatte, ist er doch ein sehr politisch denkender Mensch. Er erklärt, warum er – aus freisinnigem Haus – die Abzocker-Initiative unterstützte und kein Verständnis für die Mentalität der Grossbanken aufbringen kann. Mit seinen Ansichten steht er der pragmatischen Linken näher als dem offiziellen Freisinn.
Schliesslich zeigt das Buch Kellenberger auch als Kenner und Liebhaber von Literatur und Philosophie. Gedichte zu rezitieren, hilft ihm in heiklen Situationen, zur Ruhe zu kommen. In der Literatur und Philosophie findet er Anleitungen für seine Arbeit und sein Leben.
Ein kleines Buch über einen grossen Mann, dem die Schweiz viel zu verdanken hat.
René Sollberger
1 Eine Nacht in Kandahar
«Es regnet und es ist kalt in Kabul», schreibt Jakob Kellenberger in sein Tagebuch. Es ist ein grosses, schwarzes Heft, wie es der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) bei Feldbesuchen oft dabei hat. Es hilft ihm, sich zu sammeln, sich zu konzentrieren, sich vorzubereiten, zu fokussieren, zu reflektieren, zu verarbeiten und letztlich sich zu erinnern. Die Handschrift ist schön, aber schwer zu entziffern. Sie ist regelmässig, egal, ob Kellenberger im Flugzeug sitzt oder im Hotelzimmer. Sie ist konstant und verlässlich. So wie er selbst.
Es ist Donnerstag, der 10. April 2008. Kellenberger steht vor dem berüchtigten Pul-i-Charkhi-Gefängnis etwas ausserhalb von Afghanistans Hauptstadt Kabul. Hierher kommt keiner freiwillig. Ausser die Delegierten des Roten Kreuzes. Und jetzt ihr Chef. Das Zuchthaus ist mit mehreren tausend Insassen weitaus das grösste im kriegsgeschüttelten Land. Kellenberger kennt die dunklen Gemäuer. Er ist heute, im Alter von 63 Jahren, bereits das zweite Mal da. Bei seinem ersten Besuch 1999 waren noch die Taliban an der Macht, und in den Zellen sassen deren Gegner, die Warlords, die alten Kriegsherren, sowie deren Helfer und Helfershelfer. Heute ist es umgekehrt. Die Taliban sitzen im Gefängnis, und die Häftlinge von damals regieren wieder das Land – mit Unterstützung der USA. «Gleich geblieben sind die miserable medizinische Versorgung und die dürftige Ernährung», notiert Kellenberger.
In Block 3 sind die radikalen Sicherheitsgefangenen untergebracht. Die Gefängniswärter wagen sich dort schon lange nicht mehr hinein. Zu gefährlich. Der Block wird daher von den Insassen selbst verwaltet. Sie allein haben jenseits der Gitterstäbe das Sagen. Und die Macht. Über Mobiltelefone sind sie ständig mit der Aussenwelt verbunden. Auch sollen sie über Waffen verfügen. Die Wärter lassen Kellenberger ein und schliessen hinter ihm ab. Auch der stellvertretende afghanische Justizminister zieht es vor, im Büro des Gefängnisdirektors zu warten. Der selbsternannte Chef von Block 3 ist ein Anführer der Taliban. Turban, langer, schwarzer Vollbart. Er ist umgeben von anderen leitenden Häftlingen, als Kellenberger zusammen mit einer IKRK-Delegierten und einem Übersetzer auf ihn trifft. Der IKRK-Präsident erinnert sich noch gut an die Begegnung. «Der Formalismus war unglaublich. Und da war ein wunderschöner Teppich.» Der Mann mit Turban stellt ihm viele persönliche Fragen und Fragen zum Roten Kreuz, nennt aber nicht einmal seinen eigenen Namen. Kellenberger: «Hören Sie, ich weiss nichts von Ihnen, sagen Sie mir wenigstens, woher Sie kommen und wie alt Sie sind.» Der Mann reagiert erstaunt. Immerhin sagt er dann, er sei 37 Jahre alt und stamme aus Ghazni, einer Provinzhauptstadt 150 Kilometer südlich von Kabul. Kellenberger ist nicht begeistert. Er hat keine Mühe gescheut, um hierherzukommen, um zuzuhören. «Aber der wusste nicht einmal, was ein Dialog ist. Dass ein Dialog darin besteht, dass man selbst auch Fragen beantwortet.» Schliesslich beginnt der Mann mit dem Vollbart aus einem langen Brief vorzulesen, mit vielen Koran-Zitaten am Anfang. «Offenbar ein lupenreines Erziehungsergebnis der Taliban-nahen Madrasa [extreme Religionsschule]», notiert Kellenberger. Er ist ein verständnisvoller Mensch. Aber jetzt wird er langsam ungeduldig. «Nach langem Zuhören bitte ich ihn, konzise seine Begehren vorzutragen. Scheint nicht gewohnt, unterbrochen zu werden», so das Tagebuch.
Rund zwei Stunden verbringt er in diesem Verlies mit den inhaftierten Taliban. «Stimmung mitunter angespannt», hält er fest. Schliesslich nennt der Gefangene drei konkrete Begehren, mit der Bitte, diese den afghanischen Behörden zu unterbreiten: faire Prozesse, bessere Gesundheitsversorgung und Unterscheidung zwischen Gemeinverbrechern, Kriegsgefangenen und politischen Häftlingen. Kellenberger findet die Begehren legitim. Sie entsprechen dem humanitären Völkerrecht. Aber es ist ihm klar, dass Justizgarantien, wie zum Beispiel faire Prozesse, in diesem Land oft kaum das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Das gleiche Thema hat er schon am Vortag beim Treffen mit Afghanistans Präsidenten Hamid Karzai angesprochen. «Ich habe bei Karzai auf die Einhaltung der Rechtsgarantien in der Untersuchungs- und Verhandlungsphase bestanden. Insbesondere habe ich ihn gebeten, keine Todesstrafen zu vollstrecken, solange nicht gesichert ist, dass die Justizgarantien eingehalten werden.» Im Gefängnis trifft er auch auf zwei zum Tode Verurteilte. Sie erzählen ihm, dass sie keinen fairen Prozess bekommen hätten. Kellenberger erklärt, dass sich das IKRK weiter für Gerechtigkeit einsetzen werde.
Die Türen müssen von Gefängniswärtern an zwei Orten von aussen aufgeschlossen werden, damit der Besucher den Trakt wieder verlassen kann. Notiz: «Stelle in mir selbst grössere Gelassenheit fest als beim letzten Besuch 1999.» Gleichwohl waren es ungewöhnliche zwei Stunden allein mit Insassen, von denen manche ziemlich gefährlich sein müssen. Am Mittag lädt der Gefängnisdirektor – «ein kleiner, schmächtiger General, der alles andere als Sicherheit ausstrahlt» – zu Tee und einer kleinen Mahlzeit.
Afghanistan ist einer von Kellenbergers Schwerpunkten während seiner Zeit beim IKRK. Insgesamt drei Mal besucht er das Land. Seine zweite Mission knapp sieben Jahre früher zeigt eindrücklich, dass er auch in heikelsten Phasen nicht vor Feldbesuchen zurückschreckt. Sein Grundsatz: Wo die Delegierten sind, soll auch der Präsident hingehen können. Und zwar unbewaffnet und ohne Personenschutz. Wäre es für ihn zu gefährlich, dürften auch keine Delegierten vor Ort sein. Eine solche Situation bahnte sich an, als die USA im Oktober 2001 mit Unterstützung der Nordallianz die herrschenden Taliban angriffen. Alle nichteinheimischen IKRK-Mitarbeiter mussten das Land aus Sicherheitsgründen verlassen. Einige kehrten aber zurück, als Kellenberger trotz sicherheitsbedingter Vorbehalte der Genfer Zentrale nach Kabul reiste. «Das war eine der abenteuerlichsten Sachen, die ich je gemacht habe», muss er, der normalerweise sehr zurückhaltend ist, heute einräumen.
Rückblende: Als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 greifen die USA am 7. Oktober Kandahar und andere Taliban-Hochburgen mit B-52-Bombern an. Erklärtes Ziel: Aufspüren und Ausschalten des Terroristenführers Osama bin Laden. Die Taliban kontrollieren das Land schon seit gut fünf Jahren, auch dank Unterstützung durch pakistanische Soldaten und die Terrororganisation Al-Kaida. Die islamistische Miliz profitiert von einem Machtvakuum, das nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 und dem Zusammenbruch des sowjetgestützten kommunistischen Regimes 1992 entstanden ist. Erstmals treten die Taliban 1994 in der südlichen Stadt Kandahar in Erscheinung. Entstanden ist die Bewegung ursprünglich aus religiösen Schulen für afghanische Flüchtlinge in Pakistan. Im November 2001 verstärken nun die USA die Luftangriffe in Afghanistan, während immer mehr Bodentruppen einmarschieren. Das Aufgebot ist massiv. Kabul fällt am 13. November, nur fünf Wochen nach Kriegsbeginn. Die Regierung der Taliban ist gestürzt.
Kellenberger vereinbart schon lange vor diesen Ereignissen ein Treffen mit Pakistans Präsidenten Pervez Musharraf. Dieser hat sich zwei Jahre zuvor – noch als Generalstabschef – mit der Armee an die Macht geputscht. Formell ist er seit Juni 2001 Staatsoberhaupt. Eine zwielichtige Gestalt, hat er doch die Taliban-Kämpfer am Hindukusch jahrelang mit pakistanischen Soldaten unterstützt. Kellenberger zur damaligen Ausgangslage: «Unsere Delegation in Pakistan fragte an, ob ich nach Islamabad kommen würde und Musharraf sehen könnte. Ich sagte zu.» So kommt es, dass er exakt in der heissen Phase des Afghanistan-Kriegs, im November 2001, in Islamabad ist. «In Afghanistan eskalierte die Lage, alles stürzte ein. Dann kam der Machtwechsel, die Taliban waren am Ende. In dieser Situation konnte ich nicht in Pakistan weilen, ohne zu versuchen, auch nach Kabul zu gelangen. Das wäre für mich psychologisch und politisch unvorstellbar gewesen.» Kellenberger spricht mit Musharraf über seine Pläne, und dieser unterstützt ihn –, wenn auch nicht ganz uneigennützig: Immerhin befinden sich unter den in der Stadt Kunduz von der Nordallianz eingekesselten Taliban-Kämpfern auch 2000 pakistanische Soldaten. Musharraf rechnet sich für diese bessere Überlebenschancen aus, sollte das IKRK intervenieren. Er sagt zu Kellenberger: «Also, wenn Sie es tatsächlich schaffen, nach Kabul zu gelangen, dann sagen Sie denen, dass jemand, der sich ergibt, menschlich behandelt werden muss.» Das war auch Kellenbergers Anliegen: «In Kabul sitzen seit ein paar Tagen neue Machthaber. Diese sollten von mir als IKRK-Präsident persönlich hören, dass wir unsere Tätigkeit im Land auch künftig ausüben werden, wie wir es zu Taliban-Zeiten getan haben. Aber auch, welches Recht jetzt anwendbar ist, damit keiner hinterher sagen kann, er hätte die Regeln des humanitären Völkerrechts nicht gekannt, zum Beispiel was zu tun ist, wenn sich Truppen ergeben. Das muss ihnen sonnenklar sein.» Die Lage in Kunduz spitzt sich stündlich zu. «Musharraf hat mir bestätigt, dass er davon wusste. Es waren wohl über 10 000 Kämpfer, von der Nordallianz eingeschlossen und mit schweren Waffen belagert.» Obwohl sich die Pläne, nach Kabul zu reisen, erst im Gespräch mit Musharraf festigten, sagt Kellenberger: «Ich wäre auch sonst gegangen.»
Die Zeit drängt. Das IKRK sucht nach einem geeigneten Kleinflugzeug, das den Präsidenten und seinen persönlichen Mitarbeiter ins Kriegsgebiet bringen soll. Kellenberger hält an seinem Plan fest, obwohl sich die internationalen Mitarbeitenden seiner Organisation aus Afghanistan zurückgezogen haben. «Ich entschied zu gehen, und so mussten nun halt einige Delegierte nach Kabul zurückkehren.»
Am Freitag, dem 23. November 2001, macht er sich auf den Weg. An eine Landung in der Hauptstadt Kabul ist allerdings nicht zu denken. Zu gross ist die Gefahr, unter Beschuss zu geraten. Für die Landung kommt einzig der Flugplatz auf dem amerikanischen Armeestützpunkt Bagram infrage, etwa 50 Kilometer nördlich der Hauptstadt. Der Anflug ist nicht ungefährlich, er erfolgt nach militärischen Regeln und ist nicht jedermanns Sache. Kellenberger kennt den Vorgang. In rund 10 000 Metern Höhe über dem Stützpunkt beginnt ein sturzflugartiger Abstieg. In einer engen Spirale lässt der Pilot das Flugzeug so schnell wie möglich fallen. Dadurch verringert sich die Gefahr, abgeschossen zu werden, weil die Maschine für Raketen weniger lang erreichbar ist. «Körperlich für mich kein Problem, ich bin relativ gut trainiert», sagt Kellenberger, «aber es ist dennoch gewöhnungsbedürftig.» Solche extreme Anflüge funktionieren nur in enger Koordination mit der Armeespitze: «Das Militär ist damit vertraut und weiss jeweils, dass wir vor Ort sind.»
Und da steht er nun, an jenem Freitagnachmittag, mit einer Handvoll Delegierter, auf dem Militärflugplatz Bagram. Auf dem Landweg weiter nach Kabul zu gelangen, ist zunächst das grösste Problem. «Man sagte uns, die Gegend, durch die die beiden möglichen Strassen führten, sei vermint, wir müssten aufpassen, dürften nicht aussteigen oder gar den Strassenrand übertreten. Wir wählten dann die eine Route, von der man annahm, sie sei weniger stark vermint als die andere.» Zu diesem Zeitpunkt hat Kellenberger noch keinen einzigen Termin mit den neuen Machthabern, die zu sprechen er gekommen ist. Aber er ist fest entschlossen, eine ganze Reihe von wichtigen Leuten