Weise Voraussicht und Erfolgsplanung: Ziele, Inhalte und Strategien einer neuen Zukunftsforschung für Unternehmen
Von Holger Rust
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Über dieses E-Book
Das Buch entwickelt in einer prägnanten Analyse Antworten auf folgende Fragen: Wie lassen sich wirtschaftlich und gesellschaftlich notwendige Entscheidungen für die Zukunft ausreichend fundieren? Wie sind Strategien unter Bedingungen zunehmend unübersichtlicher Informationslagen anzulegen? Was kann Zukunftsforschung dazu überhaupt beitragen? Der Autor zeigt auf der Basis vernetzter empirischer Befunde der letzten zwanzig Jahre die zur Beantwortung der Fragen bedeutsamen Entwicklungsmuster – Strukturtrends –, die in unterschiedlichen Variationen den Alltag von Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen. Gleichzeitig werden aus den Daten Handlungsoptionen extrapoliert – Strategietrends als Mustervorlagen für die Organisation von Entscheidungsprozessen. Auf dieser Grundlage werden schrittweise variabel umsetzbare Systeme und Planungsmodule entwickelt. Eine inspirierende Lektüre für alle, die mit der Gestaltung der Innovationskultur, der Sicherung von Distinktionsgewinnen und mit der Zukunftsforschung in den Unternehmen befasst sind.
Aus dem Inhalt
- „Neue Zukunftsforschung“
- Strukturtrends
- Strategietrends
- Intellektuelle Wertschöpfung
- Extrafunktionale Fertigkeiten
- Kommunikationsprotokoll
- Organisatorische Umsetzungsbeispiele
Der Autor Holger Rust ist em. Professor für Wirtschaftssoziologie. Er lehrte und forschte unter anderem an den Universitäten Hamburg, Wien und Hannover und ist seit mehr als 30 Jahren als Scientific Consultant für Unternehmen und politische Institutionen tätig
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Weise Voraussicht und Erfolgsplanung - Holger Rust
Holger Rust
Weise Voraussicht und Erfolgsplanung
Ziele, Inhalte und Strategien einer neuen Zukunftsforschung für Unternehmen
1. Aufl. 2021
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Holger Rust
Aumühle, Deutschland
ISBN 978-3-658-32786-6e-ISBN 978-3-658-32787-3
https://doi.org/10.1007/978-3-658-32787-3
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Programm und Übersicht 1
1.1 Zukunfts-Schock März 2020 2
1.2 Spatzen der Minerva 4
1.3 Klassischer Doppelfehler 6
1.4 Strukturlogik empirischer Forschung 9
1.5 Grenzen des Berechenbaren 11
1.6 Entscheidungszwänge im Informations-Defizit 13
1.7 Entwicklungsmuster: „Strukturtrends" 15
1.8 Praktische Konsequenzen: „Strategietrends" 16
1.9 Hinweise zum Gebrauch dieses Buches 1: Heuristische Funktion 18
1.10 Hinweise zum Gebrauch dieses Buches 2: Modul-System 19
Literatur 21
2 „Neue Zukunftsforschung": Philosophie 23
2.1 Ursprünge aus Zweifeln 24
2.2 Random Copying und „kulturelle Algorithmen" 26
2.3 Bescheidenheit der Ansprüche: Schritt für Schritt 28
2.4 Muster mit Wert: Pattern Variables 30
2.5 Erkenntnistheorie der neuen Zukunftsforschung 32
2.6 Aktuelle exemplarische Initiativen 33
2.7 Zukunftsforschung und Reziprozität der Perspektiven 35
2.8 Das vergessene Motiv: Third Culture 36
2.9 Skizze der Projekte aus zwei Jahrzehnten 38
2.10 Strukturelle Relativierung 39
Literatur 41
3 Entwicklungspfade in die Zukunft: „Strukturtrends" 43
3.1 Strukturtrend 1: Fermi-Problem 4.0 44
3.2 Strukturtrend 2: Kumulative Paradoxien 46
3.3 Strukturtrend 3: Sektorale Intelligenz 48
3.4 Strukturtrend 4: Digitalismus 50
3.5 Strukturtrend 5: Distinktionsverluste 52
3.6 Strukturtrend 6: Digital Divide 55
3.7 Strukturtrend 7: Techlash 57
3.8 Strukturtrend 8: Split Customer Involvement 59
3.9 Strukturtrend 9: Kontextualität 61
3.10 Strukturtrend 10: Cultural Turn 63
Literatur 65
4 Praktische Konsequenzen: „Strategietrends" 67
4.1 Strategietrend 1: Produktentwicklung im soziokulturellen Kontext 68
4.2 Strategietrend 2: Produktentwicklung im digitalen Kontext 69
4.3 Strategietrend 3: Distinktionsbilanz 71
4.4 Strategietrend 4: Kontextuelle Digitalisierung 72
4.5 Strategietrend 5: „Duale Agenda" – Betriebssystem Intellektueller Wertschöpfung 74
4.6 Strategietrend 6: Orientierung der Kunden 75
4.7 Strategietrend 7: Dekonstruktion – Modularisierung der Forschungsergebnisse 77
4.8 Strategietrend 8: Rekonstruktion – problemorientierte Systematisierung 78
4.9 Strategietrend 9: Potenzialausschöpfung Zukunftstalente 80
4.10 Strategietrend 10: Embedded HR Development 81
Literatur 83
5 Intellektuelle Wertschöpfung: Philosophie 85
5.1 Generelles Ziel: Ganzheitlicher Kontext 86
5.2 Schumpeters Kernsatz und Nobelpreise 87
5.3 Differenzierung in Teilziele 88
5.4 Cultural Turn in IT, Big Data und Predictive Analytics 90
5.5 Entscheidungszwänge und Informations-Überschuss 92
5.6 Skepsis der Praktiker am Kennzahlformalismus 93
5.7 Skepsis der akademischen Experten 95
5.8 Die Bedeutung der Interpretations-Kompetenz 96
5.9 Das Paradox der Weak Signals-Research 98
5.10 Verstrickung im „Münchhausen-Trilemma" 99
Literatur 101
6 Intellektuelle Wertschöpfung: Praxis 103
6.1 Ebenen der Informationsverarbeitung 104
6.2 Ebene 1: Deskription 105
6.2.1 Impressionistischer Zugang 106
6.2.2 Empirischer Zugang 106
6.2.3 Kritisch-rationaler Zugang 107
6.3 Ebene 2: Kontextualisierung 107
6.3.1 Hypertext-Struktur 108
6.3.2 Systemischer Zugang 109
6.3.3 Musterbildung 110
6.4 Ebene 3: Erklärung (Analyse) 111
6.4.1 Adaption an vorhandene Daten-Cluster 112
6.4.2 Wissenschaftlicher Zugang 113
6.4.3 Modellbildung (Theorie) 114
6.5 Ebene 4: Prognose 114
6.5.1 Zielbestimmung 115
6.5.2 Emergenzanalyse 116
6.5.3 Strategische Realisierung 117
Literatur 117
7 Extrafunktionale Fertigkeiten: Philosophie 119
7.1 Vorbemerkung: Rolle von Querschnitt-Kompetenzen 120
7.2 Nachhaltiges Thema der wirtschaftswissenschaftlichen Studienergebnisse 121
7.3 Zwei Kulturen im Karrierekampf 123
7.4 Die Macht der physikalischen Weltbilder 124
7.5 Empirische Befunde 1: Nachwuchsvorstellungen Arbeitskultur 125
7.6 Empirische Befunde 2: Wachsende Bedeutung „extrafunktionaler Fertigkeiten" 128
7.7 Empirische Befunde 3: Wunschliste der Arbeitgeber an Nachwuchskräfte 129
7.8 Auflösung der starren Mentalitätsmilieus 130
7.9 Bewältigung kumulativer Paradoxien durch interne Komplexitätserhöhung 131
7.10 Überwindung der Trennung von Hard & Soft-Skills 135
Literatur 136
8 Extrafunktionale Fertigkeiten: Praxis 137
8.1 Vorbemerkung: Präzisierung der Begriffe 138
8.2 Erhebungsmethode der Bestandsaufnahme 139
8.3 Definitorische Präzisierung 140
8.4 Definitionen alphabetisch 141
8.5 Clusterung in Dimensionen 147
8.6 Übertragung in ein Verfahren für Selbst- und Fremdeinschätzung 149
8.7 Die fünfzehn wichtigsten persönlichen Eigenschaften 149
8.8 Die fünfzehn wichtigsten Führungsqualitäten 150
8.9 Die fünfzehn wichtigsten organisatorischen Talente 150
8.10 Wie wird dieser Test eingesetzt? Erfahrungsbericht 151
Literatur 153
9 Kommunikationsprotokoll: Philosophie 155
9.1 Intersubjektivität als konstruktiver Realismus 156
9.2 Philosophie der Kommunikation 157
9.3 Praxis der Philosophie 159
9.4 Interne Ziele der Kommunikation 161
9.5 Externe Ziele: Bewältigung von Legitimationsproblemen 162
9.6 Empirische Befunde 1: Vorstellungen vom idealen CEO der Zukunft 165
9.7 Empirische Befunde 2: Arbeitsstil des idealen CEO von morgen 166
9.8 Empirische Befunde 3: Aussagen von Nachwuchs und Spitzenmanagement 167
9.9 Konfrontative Kommunikations-„Kulturen" 169
9.10 Thesen zur „Kommunikation" 170
Literatur 171
10 Kommunikationsprotokoll: Praxis 173
10.1 Vorbemerkung: Angewandte Kommunikationstheorie 174
10.2 Zum Gebrauch des Protokolls 174
10.3 Kompensation der Einschränkungen 176
10.4 Funktionale Ebenen der Kommunikation 177
10.5 Grundformen verbaler Kommunikation 178
10.6 Objekte der Kommunikation 179
10.7 Referenzsysteme der Kommunikation 181
10.8 Ethische Voraussetzungen Kommunikationsinhalte 182
10.9 Ethische Voraussetzungen Kommunikationsstrategien 183
10.10 Funktionale Positionen der Beteiligten 184
Literatur 186
11 Umsetzungsbeispiele 187
11.1 Vorbemerkung: Infrastrukturelle Organisationsmodelle 188
11.2 Unternehmen als Bildungsinstitutionen 189
11.3 Matrix-Organisation der Intellektuellen Wertschöpfung 190
11.4 Einrichtung eines „Dual Agenda Lab" 192
11.5 Superforecasting – das Modell 193
11.6 Pragmatische Variation: „Problem Based Learning" 194
11.7 Die Organisation einer „Interpretation-Science" Task Force 194
11.8 Beispiel: Startup „Pattern Variables Decode" 195
11.9 Inhouse Delphi Variationen 196
11.10 „Zukunfts"-Projekte in verschiedenen Geschäftsfeldern 197
Literatur 204
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021
H. RustWeise Voraussicht und Erfolgsplanunghttps://doi.org/10.1007/978-3-658-32787-3_1
1. Einleitung: Programm und Übersicht
Holger Rust¹
(1)
Aumühle, Deutschland
Zusammenfassung
Die Einleitung informiert über alle Inhalte des Buches, in dessen weiteren zehn Kapiteln die Grundlegung („Philosophie) und die Umsetzung („Praxis
) einer „neuen Zukunftsforschung entwickelt werden. Ausgangspunkt ist der Zukunftsschock 2020 durch die Pandemie. Die Grenzen des Berechenbaren zeigten sich darin, dass weder in den einschlägig ausgerichteten Projekten der Künstlichen Intelligenz noch in den gewohnt abenteuerlichen Mutmaßungen vieler Trend- und Prognose-Manufakturen ein entsprechendes Szenario vorformuliert war. Daher stellt sich also Frage: Wie sind wirtschaftlich und gesellschaftlich notwendige Entscheidungen für die Zukunft überhaupt zu fundieren? Grundlegend erscheint die Vermeidung eines klassischen „Doppelfehlers
: einerseits Zusammenhänge zu konstruieren, die nicht belegbar sind; andererseits Zusammenhänge zu übersehen, weil Forschungsfragen inhaltlich zu fokussiert sind.
Auf der Grundlage von Erkenntnissen der letzten zwei Jahrzehnte wird die Idee einer „neuen Zukunftsforschung konkretisiert. Sie besteht im Prinzip darin, durch die technische Vernetzung und inhaltliche Kontextualisierung aller verfügbaren empirischen Befunde übergeordnete Entwicklungsmuster zu erfassen, die für die Zukunft prägend erscheinen, und die auf diese Strukturtrends ausgerichteten Strategietrends abzuleiten. Die Ergebnisse haben im mathematischen wie geisteswissenschaftlichen Wortsinn „heuristischen
Charakter, sind also je nach Bedarf variabel, analog oder digital, einsetzbar.
1.1 Zukunfts-Schock März 2020
Wenn, wie im Titel dieses Buches, von einer „neuen Zukunftsforschung die Rede ist, richten sich die Assoziationen fast zwangsläufig auf die Künstliche Intelligenz, deren algorithmische Prozesse, so zumindest die Theorie, ungeheure Datenmengen aus allen erdenklichen Informationsquellen auf Korrelationen durchsuchen und dann im Rahmen der so genannten „Predictive Analytics
ungeahnte Entwicklungen offenbaren. Dieser Optimismus erlebte allerdings im März 2020 einen herben Rückschlag, als die Corona-Pandemie ausbrach und deutlich wurde, dass selbst in den differenziertesten Ansätzen der KI dieses Szenario nicht vorkam, nicht einmal in den Programmen, die sich definitiv mit derartigen Krankheiten beschäftigten wie dem am Discovery Analytics Center der Virginia Tech-University situierten Projekt Early Model-Based Event Recognition using Surrogates (EMBERS). Immerhin: „EMBERS has been making forecasts into the future since November 2012, which have been evaluated by an independent party. Key event classes studied in EMBERS include influenza-like illness (ILI) case counts, rare disease outbreaks, civil unrest, domestic political crises, and elections" (https://dac.cs.vt.edu/research-project/embers/).
Die Anwendung solcher von Big Data-gestützten „Predictive Analytics reichte nicht, wohl auch, weil die bloße Informationssammlung keine Aufschlüsse darüber gibt, welche Kaskaden von unerwarteten Folgen sich im Rahmen von gesellschaftlichen Reaktionen, politischen Maßnahmen und wirtschaftlichen Folgen in wechselseitigen Einflüssen, ergänzt um die zum Teil irrationalen Verhaltensweisen von einzelnen Menschen oder Regierungen entwickeln würden. Die sich daraus ergebende Gleichung mit einer unbekannten Zahl von Unbekannten zu formulieren, geschweige denn zu einem Ergebnis zu führen, war offensichtlich selbst für die fortschrittlichsten Technologien der Informationsverarbeitung (noch?) zu komplex. Professionelle Entwickler der nicht-kommerziell ausgerichteten Künstlichen Intelligenz stellten denn auch diese Diagnose, zum Beispiel Kristina Libby, Professorin an der New York University und kritische IT-Aktivistin: „AI, in its current state, can’t save us, because it isn’t predicting the future
(Libby 2019). In einem Grundsatzbeitrag ergänzt der Senior Editor für Themen der Künstlichen Intelligenz der MIT Technology Review, Will Douglas Heaven, diese Perspektive: „AI could help with the next pandemic – but not with this one". Und, so der letzte, programmatische Satz des Beitrags: Entwicklungen, die uns in der Zukunft erwarten, ließen sich nur dann prognostizieren, wenn drei Bedingungen erfüllt seien: „making the most of AI will take a lot of data, time, and smart coordination between many different people. Es folgt ein aufrüttelndes Fazit: „All of which are in short supply right now
(Heaven 2020).
Mit Künstlicher Intelligenz, Big Data- und Predictive Analytics sind zwar hervorragende Techniken entwickelt, die wesentlicher Bestandteil jeder Prognostik sein werden und sein müssen, aber keine Prognostik darstellen. Sie sind in ihrem derzeitigen Gebrauch hauptsächlich Fortschreibungen aus erhobenen Daten (möglichst in „Echtzeit"), die eine eher ängstliche Perpetuierung der Gegenwart darstellen, aus der sich dann eventuell die Zukünfte ergeben, die aus bestimmten Korrelationen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu errechnen wären.
Das kann aus der Perspektive der Verantwortlichen für Marketingaktivitäten und die Ausrichtung von Influencers als hilfreiche Funktion gesehen werden, solange die Strategie sinnvoll erscheint, vorhandene Bedürfnisse weiter zuzuspitzen und im Grunde nur leicht zu variieren. Aber für komplexe wirtschaftliche Prozesse? Für die langfristige Sicherung von Wohlstand und Fortschritt? Für die Sicherung einer Innovationskultur?
In den eben zitierten Aussagen verbirgt sich ein Programm, das sich so zusammenfassen lässt: Zukunft lässt sich nur für die Bereiche vorhersagen, deren Dynamik und Folgen aus strukturell ähnlichen Begebenheiten der Vergangenheit extrapoliert werden können, wenn es eine ausreichende intellektuelle Auseinandersetzung über die denkbaren Ausprägungen in der Gegenwart und deren Folgen für die Zukunft gibt. Das zeigt sich zurzeit eindrucksvoll an der Rolle der Künstlichen Intelligenz bei der Organisation der Nachsorge auf die Pandemie: an Tracking-Systemen, der Impfstoff-Forschung und an der Logistik der Verteilung zum Beispiel.
Natürlich ist es nun, da man die virale Dynamik dieser Pandemie kennt, auch leichter, die „schwachen Signale" einer ähnlichen Entwicklung zu erkennen und die unvermeidlichen frühen Fehlreaktionen zu vermeiden. Das heißt aber auch, dass eine bislang unvorstellbare nächste Herausforderung wiederum unmöglich präzis zu erfassen ist. Die Frage, ob es jemals gelingen kann, dass Künstliche Intelligenz solche Entwicklungen, von denen man heute nicht die geringsten Vorstellungen hat, voraussagen kann, bleibt also bis auf weiteres unbeantwortet. Es ist sogar kaum möglich, aus bekannten Tendenzen eine konkrete Zukunft zu extrapolieren, weil ja eventuelle Voraussagen selbst wieder Reaktionen erzeugen, von denen keiner ahnt, was sie anrichten, oder, ahnte man ihre Folgen vielleicht auch noch, in einem „infiniten Regress" ununterbrochen weitere Folgen nach sich ziehen würden, die nicht kalkulierbar sind.
Für diese kumulativen Konsequenzen einer manchmal recht kleinen Ursache steht ein Fachbegriff: Emergenz – das selbstorganisierte Entstehen von geordneten, quasi-algorithmischen Entwicklungsmustern aus ungeordneten Handlungen. Und manchmal auch umgekehrt: die Entstehung von Chaos aus überstrapazierten Ordnungen, von denen man glaubt, sie funktionieren. Das Wort Emergenz hat alle Qualitäten, zu einem der wichtigen Grundbegriffe der näheren Zukunft zu avancieren. Um die Bedeutung des Begriffes „Emergenz" für eine Analyse angemessen zu definieren, ist deshalb noch eine wichtige Differenzierung in drei Möglichkeiten zu treffen:
Konstruktive Emergenz = Verstärkung der planvollen Impulse durch selbstverständliche Integration in den Alltag bzw. Beschleunigung und andere unerwartete unterstützende Faktoren; Beispiel: die Mode, Sportschuhe zu eleganter Kleidung zu tragen;
Modifikatorische Emergenz = Impulse durch unerwartete soziokulturelle Nutzungsmuster von Dingen und Aktivitäten; Beispiel: Umwidmung der ehemals als Lieferantenfahrzeuge gedachten Modelle aller Marken zu Familienautos;
Destruktive Emergenz = Beeinträchtigung der beabsichtigten Ziele durch unerwartete Gegen-Reaktionen oder nicht prognostizierte Langzeitfolgen; Beispiel: Abwertung von Milieus durch andere Milieus aufgrund der Nutzung bestimmter Markenprodukte.
Zwar ist der Begriff der Emergenzen im allgemeinen Sprachgebrauch nicht sehr geläufig und wirtschaftlichen Akteuren in der Regel zu abstrakt, wenngleich die wichtigsten Strukturen unerkannter Kausalitäten benannt werden. Vielleicht ist es auch diese, wenn man so will, „Bildungslücke", die dazu führte, dass die öffentlichen Zukunftsvorstellungen von Irritationen und Irrationalität geprägt waren.
1.2 Spatzen der Minerva
Niemand hatte das erwartet. Wie auch, wenn selbst die empfindlichsten Instrumente der fortschrittlichsten Technik keine Anhaltspunkte boten, um das ganze Ausmaß dieser Herausforderungen vorwegzunehmen? Eine Art Vision von dem, was in großen Zügen zu tun sei, was diese Gesellschaft ausmachen werde, blieb wenigen Qualitätsmedien vorbehalten. Naturgemäß blieb aber auch dieses Bild sehr diffus, vor allem, was die Rolle der medizinischen Statistik und die Vielfalt der Studien anging, die schon sehr bald und sehr falsch als „Streit" unter Experten diskreditiert wurde.
Dabei handelte es sich in Wahrheit um einen rationalen Prozess, in dem etwas Unmögliches versucht wurde: einer unerwartet hereinbrechenden Herausforderung mit ungewissen Folgen zu begegnen, ohne dass man ausreichende Informationen zur Verfügung hatte (oder zu viele einander widersprechende), um in Echtzeit Lösungen zu formulieren – Lösungen im Übrigen, die ihrerseits weitreichende existenzielle Folgen zeitigen würden. Die Rolle der Wissenschaft wurde fundamental falsch eingeschätzt und ihr Ruf, das heißt der Ruf ihrer Repräsentanten, daher zum Teil massiv beschädigt, auch und insbesondere für wirtschaftliche Domänen. Zwar konnte man auf Erfahrungen mit Pandemien wie SARS und Ebola zurückgreifen. Aber es zeigte sich, dass offensichtlich zusätzlich zu den bekannten strukturellen in dieser Herausforderung unerkannte einflussreiche Faktoren eine Rolle spielten. Das setzte Mutmaßungen frei. Und eine Diagnose, die sich als Ergebnis der Querschnittanalyse für die Berichterstattung über Digitalisierung in den letzten Jahren abzeichnete, erwies sich für die Qualifizierung der Berichterstattung über die Corona-Pandemie als tragfähig und aussagekräftig: anekdotisches Chaos durch eine an klassischen News Values (Personalisierung, Sensationslust, Skandalisierung und kleinteilige Beispielhaftigkeit) orientierte Berichterstattung (vgl. dazu Rust 2019, Abschn. 3.5 bis 3.9). Die Folge war und ist das, was Sozialpsychologen eine „erlernte Hilflosigkeit" nennen.
Und so verwundert es eigentlich, dass – ganz im Gegensatz zur Bescheidenheit vieler KI-Experten – wenige Tage schon, nachdem der Ernst dieser Pandemie deutlich wurde, die Trend- und Zukunftsforscher, Pop- und Kult- und Star-Philosophen und Wirtschafts-Gurus, die – obwohl sie zuvor nicht den Hauch einer einschlägigen Prognose formuliert hatten – schon wieder aus allen Ecken zukünftelten. Dass dann tatsächlich aber auch geweissagt wurde, Künstliche Intelligenz würde derartige Pandemien beim nächsten Mal voraussagen (Börsenguru Markus Horntrich), war ja nach den professionellen Analysen der Fachleute kaum erstaunlich. Ansonsten kam aber nicht mehr dabei heraus, als das „Ende der Alphatiere (Opaschowski), eine neue Beseeltheit im Umgang miteinander (Edelkoort), natürlich wie üblich die „Krise als Chance
, ein neues „Coping-Gefühl und der Niedergang ganzer Geschäftszweige als „evolutionäre
Selbstverständlichkeit (Horx) oder der Trend zum Home-Office (alle).
Man mag die letzten Passagen hochnäsig finden. Aber was in ihnen skizziert wird, legt einen der Schwachpunkte öffentlicher Wahrnehmung von Forschung und Fortschritt wissenschaftlicher Arbeit offen – zumal ja alle zitierten Kommentatoren mit ihrer Nähe zur Wissenschaft kokettieren – und nicht nur das: Manche stellen sich als die verständliche Alternative zum verzopften Intellektualismus weltfremder Akademiker dar. Und das seit langem. Ein Blick in das 1996 erschienene Pamphlet „Was ist Trendforschung? der damaligen Gründer des „Trendbüros
, Matthias Horx und Peter Wippermann, offenbart, wie auf sieben Seiten jegliche herkömmliche Wissenschaft als unfähig in den Mülleimer expediert wird. Das hat sich nicht geändert (vgl. Rust 2020).
Die Lautstärke, mit der sich diese Szene in der Öffentlichkeit als ultima ratio der Zukunftsforschung darstellte und auch für sich weiterhin den Anspruch formuliert, eine „neue" Zukunftsforschung etabliert zu haben, kann nun aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Trendforschung dieser Provenienz nichts anderes als die vorauseilende Variation der heutigen Influencers darstellte. Louis Bosshart, einer der Schweizer Vertreter dieses Gewerbes, räumte ja die Richtigkeit dieser Diagnose schon damals unumwunden ein: Etwas lerne man von den Amerikanern, nämlich wie, „man aus