Professionelle Beziehungen: Theorie und Praxis der Balintgruppenarbeit
Von Heide Otten
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Über dieses E-Book
Professionelle Beziehungen gestalten
Die Arbeitsmethode nach Balint hat die Arzt-Patient-Beziehung im Focus. Treten Störungen in dieser Beziehung auf, so wirkt sich dies auf Diagnose und Therapie aus. In der Balintgruppe haben Ärzte aller Fachrichtungen sowie Psychotherapeuten, Sozialarbeiter u.ä. eine strukturierte Möglichkeit des Austausches. Mittlerweile arbeiten auch Pädagogen, in Pflegeberufen Tätige, Juristen und Seelsorger mit der Methode.
Psychosomatische Grundversorgung
Die Teilnahme an Balintgruppen ist in der Facharzt-Weiterbildung verankert und zur Abrechnung der Leistungen der Psychosomatischen Grundversorgung obligat. In der Fortbildung ist sie ein wichtiges Angebot zur Entlastung und damit zum Wohle von Arzt/Psychotherapeut und Patient/Klient.
Eine strukturierte Anwendungsform der Psychoanalyse
Dieses Buch beschreibt die Methode der Balintgruppenarbeit: Wie stellt ein Experte seine Begegnungen mit Patienten/Klienten vor und wie geben dieGruppenmitglieder ihren Eindruck, ihre Gefühle und Phantasien hierzu wieder?, Wie entsteht daraus ein komplexes Bild der Beziehung und wie ist dieses Bild für den Präsentator nutzbar?, Welche Anregung für eine neue Sichtweise, welche Erhellung blinder Flecke wird möglich?, Welche Vorteile, aber auch Schwierigkeiten und Gefahren können mit den erlebten Vorgehensweisen verbunden sein?, Wie erlangt man Sicherheit bei der Leitung von Balintgruppen und wie entwickelt man einen eigenen Stil?
Die Balintarbeit eignet sich zum Einstieg in psychosomatisches Denken und in die Beziehungsanalyse auch für erfahrene Fachleute. Das Buch ist geschrieben zunächst für Ärzte aller Fachrichtungen, Psychotherapeuten (jeweils in Weiterbildung und Praxis), aber auch für Supervisoren, in Pflegeberufen Tätige, Lehrer, Seelsorger, Juristen, interessierte Patienten.
Eine Einführung für Fachleute
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Buchvorschau
Professionelle Beziehungen - Heide Otten
Teil 1
Einführung
Heide OttenProfessionelle BeziehungenTheorie und Praxis der Balintgruppenarbeit10.1007/978-3-642-03610-1_1© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
1. Einführung
Heide Otten¹
(1)
Mühlenstr. 8, 29342 Wienhausen
Heide Otten
Email: otten@balintgesellschaft.de
URL: www.balintgesellschaft.de
Zusammenfassung
Das Zeitalter der Kommunikation und der Information bringt es mit sich, dass sich die Unterschiede zwischen dem Fachmann und dem Laien einerseits nivellieren, andererseits bringt es Spezialisten hervor, die von immer weniger immer mehr wissen.
Das Zeitalter der Kommunikation und der Information bringt es mit sich, dass sich die Unterschiede zwischen dem Fachmann und dem Laien einerseits nivellieren, andererseits bringt es Spezialisten hervor, die von immer weniger immer mehr wissen.
Wir sind auf Vernetzung und auf Teamarbeit angewiesen. Professionelle Beziehungen bekommen eine neue Qualität. So wird die intime vertrauensvolle Zweierbeziehung zwischen Helfer und Hilfesuchendem abgelöst durch vernetzte Beziehungen zu Helferteams. Der Patient steht mit seinem System (Familie, Freunde, Internet) einer Gruppe von Spezialisten gegenüber, die sich seines Problems annehmen. Möglicherweise sind alle mit viel Kompetenz ausgestattet, aber es resultiert eine „Aufsplitterung der Verantwortung", wie Balint dies bereits benennt (Balint 1957). Wer fühlt sich verantwortlich für die manchmal lebenswichtigen Entscheidungen, die dort gemeinsam getroffen werden? Wie läuft die Kommunikation? Welche Bedeutung haben Emotionen?
Auch die professionellen Beziehungen untereinander innerhalb des Teams spielen eine Rolle und wirken auf die Zweierbeziehung ein.
In der Medizin ist der heutige Anspruch der Partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making) nicht selten konträr zu – oft nicht zugänglichen – Gefühlen und Wünschen des Patienten nach Versorgtwerden, Geborgenheit, Übergabe von Verantwortung, die sich als ambivalente Haltung unbewusst in der Beziehungsgestaltung auswirken. Konflikte können aus dieser Ambivalenz entstehen.
Eine Beziehungsanalyse kann diesem unbewussten Geschehen eine positive Richtung geben. Verstehe ich, in welchem Konflikt der Mensch, der Hilfe sucht, steht? Schaue ich hinter das Symptom, den Widerstand, die Abwehr? Welcher Einfluss bestimmt meine Haltung in dieser Beziehung?
Und welchen Einfluss auf die Zweierbeziehung haben die sozialen Systeme: Familie, Arbeitswelt, Krankenhaus, Gesundheitswesen, Gesellschaft …?
Der Arzt, Biochemiker und Psychoanalytiker Michael Balint (1896–1970) hat in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts zusammen mit Allgemeinärzten eine Methode der Gruppenanalyse entwickelt, die dem Erfassen der Beziehungsprobleme in der Arzt-Patient-Interaktion und einem besseren Krankheitsverständnis dient.
Er bezeichnete diese Arbeitsgruppe als „Training cum research group und bringt damit zum Ausdruck, dass sie sowohl der Fort- und Weiterbildung des Arztes, des Helfers dienen soll, als auch der Erforschung der Wirkung des Helfers auf den Hilfesuchenden („Der Arzt als Arznei
). Balint geht mit „wissenschaftlicher Einstellung" an die Arbeit, das heißt mit prinzipieller Offenheit und Fähigkeit zur Kritik, zur permanenten emotionalen und rationalen Überprüfung, Korrektur und Veränderung des Erkannten, das in der Form von Vorläufigkeit besteht. So wird auch heute diese analytische Gruppenarbeit bewertet und angesehen: als eine Methode, die zwischen Strukturieren und Gewähren, Verstand und Gefühl stets neue, auch überraschende Erkenntnisse bringt.
Diese Methode wird auch in anderen sozialen Berufen angewandt mit dem Ziel, die Beziehungsprobleme zu verstehen, die Hintergründe zu sehen und sowohl die äußere als auch die innere Realität zu beeinflussen. Vor allem Lehrer können hiervon profitieren, um ihre Beziehung zu Schülern und Eltern zu klären und zu verbessern. Das bedeutet nicht, Disharmonien, unterschiedliche Standpunkte oder alle unangenehmen Gefühle wie Wut, Neid, Ohnmacht auszumerzen, sondern sie bewusst und damit nutzbar zu machen. Was uns bewusst geworden ist, kann nicht wieder ins Unbewusste zurückgedrängt werden.
Die von Balint entwickelten Gedanken sollen hier dargestellt und zugänglich gemacht werden. Dafür ist es notwendig, zunächst einen kurzen Exkurs in die Geschichte der Medizin zu machen, um den historischen Wandel der Arzt-Patient-Beziehung lebendig werden zu lassen und die Entwicklung bis hin zu Balints Lebenswelt und unserer heutigen zu veranschaulichen.
Je geringer die naturwissenschaftlichen Kenntnisse waren, desto größer war der Einfluss der Person des Heilers, des Arztes auf den Kranken sowie die Bedeutung von Glauben, Magie, Mystik, Religion und Natur. Wissenschaftliche Erkenntnisse, deren Verbreitung und Anwendung in der Medizin lösen die Bedeutung der Person in der Behandlung des Kranken scheinbar ab. Wir erleben jedoch, dass für den Menschen als sozialem Wesen die interpersonellen Bezüge und damit die Beziehung zur Person des Helfers nach wie vor eine sehr wichtige Rolle spielen.
Bei Balint klingt das so: „Und gewiss nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Medizin führte die Diskussion (in der Gruppe) sehr bald zu der Erkenntnis, dass das am aller häufigsten verwendete Heilmittel der Arzt selber sei. und „Der Arzt wirkt selbst wie eine Arznei, mit Wirkung und Nebenwirkung.
(Balint 1957)
Zugewandt, vertrauenerweckend, emphatisch, gut informiert – so wünschen Patienten sich den Arzt. Offen, vertrauensvoll, verständig – so wünschen Ärzte sich den Patienten.
Dies ermöglicht eine ideale Beziehungsgestaltung, die dem Patienten nutzt, Diagnostik und Therapie erleichtert und unterstützt, die Kräfte und das Wissen des Arztes gezielt zum Einsatz bringt, dem Patienten Aufmerksamkeit und Zuwendung sichert und den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst.
„Eine als hilfreich erlebte Beziehung zum Behandler ist im Hinblick auf die Behandlungsprognose der wichtigste unspezifische Wirkfaktor." (Balint 1957)
Der Alltag macht den Umgang miteinander oft schwer. Es fehlt die Zeit, die Ruhe. Im Sprechzimmer gibt es nicht die verständnisvolle Zweierbeziehung allein; viele Dinge von außen und innen wirken hinein. Und es gibt meist nicht die Möglichkeit, sich dessen bewusst zu werden: Welche Gefühle bestimmen diese Begegnung? Kann ich sie nutzbar machen oder sind sie störend? Bringe ich Ärger, Angst, Frust, Vorurteile aus anderen Quellen mit in die Beziehung? Und welche Gefühle bringt mein Gegenüber mit? Wie wirken sich diese Emotionen aus, wenn sie verborgen bleiben?
Es lohnt sich, diesen Fragen nachzugehen.
Und das nicht nur in der Arzt-Patient-Beziehung. Jede professionelle Beziehung zwischen Helfern und ihren Patienten, bzw. Klienten, Mandanten oder Schutzbefohlenen kann beschwerlich werden. Der Lehrer kennt dies mit seinen Schülern, der Anwalt mit seinen Mandanten, der Pfarrer mit den Hilfesuchenden, der Sozialarbeiter mit seinen Klienten.
Beschwerliche Beziehungen bedeuten Stress für beide Seiten; sie zu klären ist Psychohygiene und erleichtert den Alltag. Dieser Klärungsprozess führt uns einerseits zur Introspektion: Was sind meine Anteile, warum fällt es mir so schwer, mich auf das Gegenüber einzustellen? Ich werde also etwas über mich selbst erfahren. Andererseits ermuntert es zum Perspektivwechsel: Was mag den Anderen bewegen? In welcher Situation befindet er sich? Was erwartet er von mir?
Wir wissen, dass gerade die unbefriedigende Beziehungsgestaltung sehr belastend ist und nicht selten zu Erschöpfung, seelischem Leid und Krankheit führt.
Dem vorzubeugen, dient die nach ihrem Begründer benannte Balintarbeit . Nach Dankwart Mattke ist sie die „robusteste Anwendungsform der Psychoanalyse" (Mattke 2009).
Und dass es die Mühe lohnt, sich dem Klärungsprozess zu stellen, möchte dieses Buch beschreiben.
Für die Beziehungsanalyse hat sich die Gruppenarbeit bewährt. Jedes Mitglied der Gruppe bringt eigene Aspekte zu der vorgestellten Beziehung ein und ermöglicht so, sowohl die Perspektive des Arztes und seines Umfeldes als auch die des Patienten in seinem Beziehungsgeflecht darzustellen. Es entsteht ein differenziertes Bild.
Diese Art der Gruppenarbeit ist auch – wie die Erfahrung in der Praxis zeigt – für andere Berufe mit dem Wunsch nach Beziehungsklärung geeignet und sinnvoll.
Es hat sich in den gut 50 Jahren seit dem Erscheinen des Buches von Michael Balint The Doctor, his Patient and the Illness(1957) eine Fülle von Literatur zu diesem Thema angesammelt. Hier werden Sie nur Hinweise auf einen sehr geringen Teil davon finden. Dieses Buch soll in Beispielen aus der Praxis und deren Erläuterungen Anregung sein und neugierig machen auf die Methode, auf weitere Lektüre und vor allem auf eigene Erfahrungen.
Im vorliegenden Buch wurde – ausschließlich aus Gründen der Lesbarkeit – entweder eine geschlechtsneutrale oder die konventionelle männliche Sprachform gewählt.
Teil 2
Geschichte und Grundlagen
Heide OttenProfessionelle BeziehungenTheorie und Praxis der Balintgruppenarbeit10.1007/978-3-642-03610-1_2© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
2. Die Arzt-Patient-Beziehung im Wandel
Heide Otten¹
(1)
Mühlenstr. 8, 29342 Wienhausen
Heide Otten
Email: otten@balintgesellschaft.de
URL: www.balintgesellschaft.de
Zusammenfassung
Krankheit und Gesundheit sind seit jeher wichtige Th emen für den Menschen. Dies schlägt sich in Geschichtsschreibung, Kunst und Literatur nieder.
Krankheit und Gesundheit sind seit jeher wichtige Themen für den Menschen. Dies schlägt sich in Geschichtsschreibung, Kunst und Literatur nieder.
Krankheit und Gesundheit
Je geringer die naturwissenschaftlichen Kenntnisse waren, desto größer war die Bedeutung von Glauben, Mystik, Religion, Philosophie und Natur.
Dem Heiler wurden magische Kräfte zugeschrieben, der Natur heilende.
2.1 Antike
Medicus curat, natura sanat – Der Arzt behandelt, die Natur heilt. So beschrieb es Hippocrates (460–370 v.Chr.).
Zur rechten Zeit das Richtige tun oder lassen
Er sieht den Arzt als Helfer, als unterstützenden Begleiter. Es ist nicht der Arzt, der eine Krankheit besiegt, sondern der Patient, es sind seine Heilkräfte und die der Natur. Der Arzt stellt sein Wissen und seine Erfahrung zur Verfügung. Der Krankheitsverlauf braucht Zeit. Dies nicht zu beachten, bringt Schaden statt Nutzen. Ein guter Arzt berücksichtigt die natürlichen Abläufe und ermuntert den Patienten, dies auch zu tun. Er begleitet, er dient mit seiner Heilkunst. Philosophie und Wissenschaft bilden die Grundlagen der antiken Medizin. Harmonie wird als Voraussetzung für Gesundheit angesehen. Krankheit entsteht durch eine Disharmonie der Körpersäfte. Der Arzt hilft, die Körpersäfte wieder ins richtige Mischungsverhältnis zu bringen und damit die Harmonie insgesamt wieder herzustellen. Die Kunst des Heilens ist, zur rechten Zeit das Richtige zu tun oder zu lassen.
Der Mensch befindet sich lebenslang zwischen Gesundheit und Krankheit; der Arzt ist der Steuermann, der den Menschen hilft, die Balance zu halten: Totale Gesundheit ist unerreichbar, totale Krankheit bedeutet den Tod. Wenn der Arzt nicht mehr helfend und heilend eingreifen kann, wenn der Tod naht, dann wendet er sich ab und überlässt den Sterbenden dem Priester. Hier sind die Grenzen ärztlicher Kunst deutlich definiert und respektiert.
Die Ärzte der Antike sehen einen wesentlichen Anteil am Verlauf von Krankheit und ihrer Heilung in psychologischen Faktoren. Diese werden berücksichtigt in der Behandlung. So dienen Tempel als Sanatorien, in denen Patienten über Nacht bleiben können. Träume und Gespräche spielen in der Behandlung eine wesentliche Rolle. Vermutlich wurden vor allem psychosomatische Krankheiten auf diese Weise behandelt.
Träume und Gespräche
Die Grundlage ärztlicher Kunst ist die liebevolle Hinwendung zum Menschen und der aufrichtige Wille zu helfen.
So ist es uns im Eid des Hippocrates überliefert: „Ich werde ärztliche Verordnungen treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden."
„… Rein und fromm werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren."
In der heute gültigen Deklaration von Genf(letzte Fassung 1994) heißt es: „Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich: mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. … Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.