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Handbuch Wahlforschung
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eBook1.849 Seiten20 Stunden

Handbuch Wahlforschung

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Über dieses E-Book

Die empirische Wahlforschung zählt zu den theoretisch und methodisch am weitesten entwickelten, von der Öffentlichkeit am stärksten beachteten Zweigen der Politikwissenschaft. Dieser Band vermittelt Grundlagenwissen über die zentralen Konzepte, Methoden und Befunde der empirischen Wahlforschung und gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung. Den Schwerpunkt bilden theoretische Ansätze zur Erklärung von Wahlverhalten. Sie werden ausführlich dargestellt, kritisch diskutiert und systematisch miteinander verglichen. Daneben geht der Band auf ausgewählte Themen der Wahlforschung ein, u.a. auf Nichtwahl, Wechselwahl, die Wahl extremer Parteien sowie den Einfluss von Wertorientierungen und Massenmedien auf das Wahlverhalten. Ferner enthält er Überblicke über die Geschichte demokratischer Wahlen, die Historische Wahlforschung, die Wahlsystemforschung und die Wahlkampfforschung. Dieser Band bietet auf neuestem Stand einen umfassenden Überblick über die empirische Wahlforschung und trägt dazu bei, ihre Möglichkeiten und Grenzen realistisch zu beurteilen.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer VS
Erscheinungsdatum12. Aug. 2014
ISBN9783658051648
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    Buchvorschau

    Handbuch Wahlforschung - Jürgen W. Falter

    Einleitung und Grundlagen

    © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

    Jürgen W. Falter und Harald Schoen (Hrsg.)Handbuch Wahlforschung10.1007/978-3-658-05164-8_1

    1. Die Rolle von Wahlen in der Demokratie

    Annette Schmitt¹ 

    (1)

    Institut für Politikwissenschaft, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Jakob-Welder-Weg 12, 55128 Mainz, Deutschland

    1.1 Einleitung

    1.2 Der Begriff der demokratischen Wahl

    1.2.1 Das „Recht der Rechte" der Bürger: allgemeine Wahlen in regelmäßigen Abständen

    1.2.2 Entscheidungsangebot: freie und geheime Wahl

    1.2.3 Entscheidungsergebnis: Verbindlichkeit der Wahl und Mehrheitsprinzip

    1.3 Grundfunktionen der Wahl

    1.4 Der Wert der Wahl

    1.4.1 Wahlen als notwendige und hinreichende Bedingung zur Verwirklichung der Werte, die mittels Demokratie verfolgt werden sollen

    1.4.2 Wahlen als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung zur Verwirklichung der Werte der Demokratie

    1.4.3 Wahlen sind weder notwendig noch hinreichend, um die Werte der Demokratie zu verwirklichen

    1.5 Abschließende Analyse

    References

    1.1 Einleitung

    In einer Demokratie herrschen – zumindest dem etymologischen Sinn des Wortes nach – die Bürger: alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. In modernen Massendemokratien beschränkt sich die Ausübung dieser Staatsgewalt weitgehend auf die Beteiligung der Staatsbürger an Wahlen. Die Wahl der Abgeordneten eines Parlamentes und, in präsidentiellen Demokratien, die des Präsidenten ist die elementarste Form demokratischer Partizipation: Von allen Beteiligungsformen fordert sie den Bürgern das geringste Maß an politischem Engagement ab – Wahlen finden relativ selten statt, und die Wahlbeteiligung ist praktisch ohne aktive inhaltliche Vorbereitung bei geringen Opportunitätskosten möglich. Folglich wird sie auch als einzige Beteiligungsform von der überwiegenden Mehrheit der Bürger wahrgenommen (vgl.  Almond und Powell 1996, 52; Nohlen 2004, 26).

    Angesichts dessen stellt sich die Frage, welche Bedeutung Wahlen in einer Demokratie zukommt. Demokratie ist aus Sicht vieler Menschen – und das gilt für Politikwissenschaftler, Regierende und Regierte gleichermaßen – mehr als nur ein Typus von Regierungssystem unter anderen: Demokratie wird als die bestmögliche aller politischen Ordnungen angesehen, weil sie bestimmten Werten¹ Geltung verschafft; das Prädikat „demokratisch gilt „als allgemeine[r] Ausdruck des Lobes (Hayek; 1991, 127). Welche Rolle spielen nun Wahlen bei der Verwirklichung dieser Werte? Sind sie notwendige oder gar hinreichende Bedingung dafür? Oder sind Wahlen lediglich ein unumgängliches Übel, das einer optimalen Einlösung dieser Werte im Wege steht, aber in modernen Demokratien (leider, leider) die einzige Möglichkeit darstellt, die massenhafte Partizipation von Bürgern zu organisieren? Oder stehen Wahlen gar für einen Mißstand, der durch entsprechende Reformen beseitigt werden könnte?² Mit diesen Fragen wird sich der nachfolgende Beitrag beschäftigen.

    Dazu wird im ersten Schritt geklärt, was im weiteren unter „demokratischen Wahlen" verstanden wird (Abschn. 1.2); in Abschn. 1.3 geht es dann um die Fragen, welche Funktionen Wahlen in modernen demokratischen Systemen übernehmen und ob beziehungsweise welche Alternativen denkbar sind. In Abschn. 1.4 schließlich wird der Frage nachgegangen, welche Rolle Wahlen bei der Einlösung demokratischer Werte zukommt, genauer: ob sie hierfür hinreichend, notwendig oder nichts von beidem sind.

    1.2 Der Begriff der demokratischen Wahl

    Aus Sicht der modernen Wissenschaftstheorie leitet sich die Bedeutung von Begriffen aus den Theorien ab, in die sie eingebettet sind (vgl. etwa Chalmers 2001, 87–88). Die Bedeutung, die dem Wort „Wahl zugeschrieben wird, hängt also von der jeweiligen (Demokratie‐)Theorie³ ab, die sich mit dem Phänomen der Wahl empirisch oder normativ beschäftigt. Es gibt folglich eine ganze Reihe unterschiedlicher Definitionen von „Wahl. Andererseits teilen viele dieser Theorien ein bestimmtes Kernverständnis dessen, was bei der Verwendung des Wortes „Wahl zum Ausdruck gebracht werden soll. Es lohnt sich daher, in Anlehnung an Rawls zwischen dem allen Theorien gemeinsamen concept, dem Kernverständnis von „Wahl, und den verschiedenen theoriespezifischen Auffassungen oder conceptions von „Wahl" zu unterscheiden (vgl. Rawls; 1971, 5). Während sich Abschn. 1.4 mit den conceptions beschäftigen wird, soll in den folgenden Ausführungen zunächst einmal das concept vorgestellt werden.

    Daß eine solche Vorabklärung des concept von Wahl keine rein akademische, d. h. eigentlich völlig überflüssige Übung ist (da dem Leser doch hinreichend bekannt sein dürfte, welche die definierenden Merkmale von Wahlen nach einem modernen Demokratieverständnis sind), lehrt der Blick in einen aktuellen Weltalmanach (siehe Baratta; 2002). Dort werden u. a. folgende Fälle des Erwerbs von Regierungsgewalt als Ergebnis von „Wahlen" vorgestellt:

    im Mai 2000 errang die Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) 472 von 548 Parlamentssitzen; von den verbleibenden 76 Sitzen blieben 53 Sitze vakant. 1995 hatte die EPRDF 540 der 548 Sitze gewonnen; die verbleibenden acht Sitze gingen an „Sonstige" (vgl. Baratta; 2002, 97–98).

    im November 2001 gewann Singapurs People’s Action Party (PAP) 82 von 84 Parlamentssitzen; allerdings konnte sich nur ein Drittel der Wahlberechtigten an dem Verfahren beteiligen: die Opposition sah sich nämlich außerstande, in 55 der 84 Wahlkreise einen Kandidaten aufzustellen, und deshalb wurden die dortigen Wahllokale erst gar nicht geöffnet (vgl. Baratta; 2002, 728).

    im September 2002 wurde Weißrußlands Präsident Lukaschenko im ersten „Wahl‐gang mit 75,6 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Beobachter der OSZE erklärten dazu, das Verfahren sei „weder frei noch fair gewesen (Baratta; 2002, 862).

    Wenn man sich zudem in Erinnerung ruft, daß die regelmäßige Bestätigung der SED in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ebenfalls als „Wahl bezeichnet wurde, dann scheint es zwingend notwendig zu sein, zunächst einmal klarzustellen, was gemeint (und vor allem nicht gemeint) ist, wenn in diesem Beitrag von „Wahl die Rede ist.

    Als „demokratische Wahl soll eine „Technik oder ein Verfahren, „eine Körperschaft zu bilden oder eine Person mit einer Führungsposition zu betrauen" (Nohlen; 2004, 21), nur dann bezeichnet werden, wenn erstens die Erteilung der Wahlberechtigung, zweitens das Entscheidungsangebot, aus dem die Wahlberechtigten wählen können, sowie drittens die Feststellung des kollektiven Wahlergebnisses bestimmten Kriterien entsprechen:

    1.2.1 Das „Recht der Rechte" der Bürger: allgemeine Wahlen in regelmäßigen Abständen

    Allen Demokratietheorien, klassischen und modernen, gemeinsam ist die Auffassung, daß ein definierendes Merkmal von Demokratie darin besteht, daß das Recht zur politischen Partizipation allen Bürgern zusteht. In repräsentativen Demokratien besteht dieses Recht vor allem darin, die Personen oder Parteien zu wählen, die mit der politischen Entscheidungsfindung betraut werden sollen. Daraus folgt, daß erstens das Wahlrecht ein allgemeines Recht ist und daß zweitens Wahlen in regelmäßigen Abständen⁴ stattfinden, so daß alle Bürger die Möglichkeit haben, ihr Recht zur politischen Partizipation, wenn schon nicht fortlaufend, so doch immer wieder wahrzunehmen.⁵ In diesem Sinne bezeichnet Waldron das Wahlrecht als Bürger‐„Recht der Rechte" (Waldron; 1999, 283–284).

    Demokratietheorien unterscheiden sich dann allerdings ganz erheblich hinsichtlich der Frage, welchen Mitgliedern der Gesellschaft Bürgerstatus zugestanden werden soll.⁶ Drei Kriterien scheinen für die Entscheidung, wer wahlberechtigt sein soll, ausschlaggebend zu sein: die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft,⁷ ökonomische Unabhängigkeit und, was häufig mit letzterem assoziiert wurde, geistige Reife. Für die Philosophen der griechischen Antike etwa war es selbstverständlich, daß zum Demos weder die „Fremden" (Barbaren) noch die abhängigen (und häufig ungebildeten) Mitglieder des Haushaltes, also Frauen, Kinder und Sklaven, gehörten (vgl.  Schmidt 2000, 36; vgl. auch Hayek 1991, 463, Fn. 2). Und selbst John Stuart Mill, der im 19. Jahrhundert für die repräsentative Demokratie und das Verhältniswahlrecht eintrat, um möglichst allen Gruppierungen einer Gesellschaft Einfluß auf die politische Entscheidungsfindung zu verschaffen, sah sich gezwungen, das von ihm angestrebte universelle Wahlrecht folgendermaßen einzuschränken: Um zu gewährleisten, daß die Mitglieder einer Gesellschaft ihr Wahlrecht verantwortungsvoll und sachgemäß wahrnehmen, ist seiner Ansicht nach vorauszusetzen, daß die Wahlberechtigten über ein Mindestmaß an Bildung verfügen …

    „I regard it as wholly inadmissible that any person should participate in the suffrage without being able to read, write, and, I will add, perform the common operations of arithmetic." (Mill; 1993, 303)

    …und Steuern zahlen, also nicht zum Kreis der Empfänger von „parish relief" (Mill; 1993, 305) gehören:

    „It is also important that the assembly which votes the taxes either general or local should be elected exclusively by those who pay something towards the taxes imposed. Those who pay no taxes, disposing by their votes of other people’s money, have every motive to be lavish and none to economise." (Mill; 1993, 304)

    Auch aus moderner demokratietheoretischer Sicht herrscht kein Konsens darüber, wer Bürgerstatus haben soll. Nur für solche Theorien, die davon ausgehen, daß die Bürger als gleich im Hinblick auf ihre politische Freiheit anzusehen sind, besteht die einzig legitime Einschränkung des Wahlrechts in der Festlegung einer Altersgrenze, die den Eintritt in das age of reason ⁸ markieren und die Erfüllung von (geistigen) Mindestvoraussetzungen für vernünftige politische Partizipation gewährleisten soll. Von solchen Demokratieauffassungen zu unterscheiden sind Theorien wie die von Joseph Schumpeter, die keinerlei Aussagen darüber trifft, wer an der Bestellung der Regierenden beteiligt sein soll (vgl.  Schumpeter 1993b; siehe auch Hayek 1991, 128–129). Diesem Demokratieverständnis zufolge, so Amy Gutmann, entsprach z. B. auch das politische System Südafrikas während des Apartheid‐Regimes den Kriterien einer Demokratie, obwohl der Bürgerstatus und somit das Wahlrecht der weißen Bevölkerungsminderheit vorbehalten war (vgl. Gutmann; 1993, 412).

    1.2.2 Entscheidungsangebot: freie und geheime Wahl

    Eine Wahl hat nach umgangssprachlichem Verständnis eine Person genau dann, wenn ihr mindestens zwei (Handlungs‑)Optionen zur Verfügung stehen, zwischen denen sie sich entscheiden kann.

    In diesem minimalistischen Sinne hat aber auch der Kassierer die Wahl, dem der Bankräuber zuruft, „Geld oder Leben (kurz für: „entweder Sie überreichen mir den Inhalt der Kasse, oder Sie weigern sich; im zweiten Fall erschieße ich Sie), da er sich ja zwischen zwei Handlungsalternativen entscheiden kann, nämlich dem Herrn mit der Waffe die Kasse auszuhändigen oder es zu unterlassen. Wie ist es also zu verstehen, wenn der Kassierer dem Gauner das Geld überreicht mit der Begründung, er habe keine andere Wahl? Und wieso dürfte ein Bankräuber verdutzt sein, wenn der Kassierer auf sein Entscheidungsangebot mitteilt, er ziehe es vor, erschossen zu werden?

    Die Entscheidungssituation des Kassierers ist durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Erstens beschränken sich seine Optionen darauf, eine Handlung zu tun oder zu unterlassen, und diese Alternativen werden vom Räuber willkürlich festgesetzt. Und zweitens ist eine dieser Handlungsoptionen mit Konsequenzen verknüpft, die, unter der Voraussetzung, daß ein Mensch an seiner Selbsterhaltung interessiert ist, unannehmbar sind. Entscheidungsangebote dieser Art sind mit dem Begriff der Wahl, der hier zugrunde gelegt wird, unvereinbar:

    Eine demokratische Wahl liegt demnach nur dann vor, wenn das Angebot an Entscheidungsoptionen – Parteien und Kandidaten – nach bestimmten Regeln zustande kommt, durch die gewährleistet wird, daß prinzipiell alle zur Verfügung stehenden Alternativen, d. h. alle Vereinigungen, die den Status einer Partei genießen, und alle Kandidaten, die über das passive Wahlrecht verfügen, auch zur Wahl stehen. Mit einer demokratischen Wahl unvereinbar ist folglich ein Entscheidungsangebot, das den Bürger vor die Wahl stellt, Partei A zu wählen oder sich seiner Stimme zu enthalten⁹ beziehungsweise seine Stimme für Partei A oder Partei B abzugeben, während ein Konkurrent C willkürlich aus dem Wettstreit um die Stimmen der Wähler ausgeschlossen ist. Ohne die in Abschn. 1.4 zu führende Wertediskussion vorwegnehmen zu wollen, soll eine Angebotseinschränkung dann als „willkürlich" bezeichnet werden, wenn bestimmte Entscheidungsalternativen nur deshalb nicht zur Wahl stehen, weil die Wettbewerbssituation einer Partei (oder eines Kandidaten) durch die Eliminierung der Konkurrenz verbessert werden soll. Für demokratische Wahlen bedeutet das, grob gesagt, daß die Regierungspartei(en) die Oppositionspartei(en) nicht daran hindern darf (dürfen), um die Gunst der Bürger zu werben, und umgekehrt (vgl. Downs; 1968, 23).¹⁰

    Eine demokratische Wahl setzt zweitens voraus, daß keine der zur Auswahl stehenden Alternativen mit Anreizen positiver oder negativer Art verbunden ist, die eine wahlberechtigte Person nicht ignorieren kann, wenn sie an der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse, im allgemeinsten Sinne nach physischem Wohlbefinden und sozialer Anerkennung (vgl. Lindenberg; 1985, 100), interessiert ist. Wenn sie sich zwar prinzipiell zwischen den Parteien A und B entscheiden darf, aber davon ausgehen muß, daß ihr in Folge der Stimmabgabe für B Berufsverbot, Freiheitsentzug und Schlimmeres drohen, bei der Wahl von A hingegen finanzielle Sicherheit und das Wohlwollen der Nachbarschaft winken, dann hat sie nicht „wirklich" die Wahl: angesichts der Erwartungskosten der Entscheidung für die Alternative B ist ein nicht zum Helden‑ oder Märtyrertum aufgelegter Wahlberechtigter bereits auf Nicht‐B festgelegt.

    Um zu verhindern, daß der Wähler aufgrund seiner Wahlentscheidung unangenehme Konsequenzen zu erwarten hat, d. h. um die Freiheit der Wahl zu gewährleisten, ist es sinnvoll, daß die Stimmabgabe geheim erfolgt (und die Stimmbezirke hinreichend groß sind, so daß die Anonymität der Wahlentscheidung auch tatsächlich gewährleistet ist). Folglich ist der Grundsatz der geheimen Wahl eine praktische oder technische Konsequenz, die sich aus der Freiheit der Wahl als einem konstitutiven Element von Wahlen in dem hier verstandenen Sinne ergibt.

    1.2.3 Entscheidungsergebnis: Verbindlichkeit der Wahl und Mehrheitsprinzip

    Alle, selbst die minimalistischsten unter den modernen Demokratietheorien, teilen die Auffassung, daß Wahlen dazu dienen, den Konkurrenzkampf der Kandidaten beziehungsweise Parteien um die Unterstützung der Bürger zu entscheiden. Das Wahlergebnis gilt somit nicht als unverbindlicher Vorschlag der Bürger, über den dann ein „qualifizierteres" Wahlmännerkollegium oder ähnliches zu befinden hat.¹¹ Es hat vielmehr unmittelbare Geltung hinsichtlich der Zuweisung von Regierungsgewalt. Wie Przeworski „in defense of minimalism" (Przeworski; 1999, 43) feststellt:

    „Voting is an imposition of a will over a will. When a decision is reached by voting some people must submit to an opinion different from theirs or to a decision contrary to their interest. Voting authorizes compulsion. […] Voting generates winners and losers, and it authorizes the winners to impose their will, even if within constraints, on the losers. This is what ‚ruling‘ is." (Przeworski; 1999, 47)

    Die Frage, wem Regierungsgewalt zuzuweisen ist, wird, und auch das scheint demokratietheoretischer Konsens zu sein, nach dem Mehrheitsprinzip entschieden. Schon John Locke wies in seiner „Zweiten Abhandlung über die Regierung" darauf hin, daß das Mehrheitsprinzip Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit eines body politic ist:

    „Denn wenn eine Anzahl von Menschen mit der Zustimmung jedes Individuums eine Gemeinschaft gebildet hat, dann haben sie dadurch diese Gemeinschaft zu einem einzigen Körper gemacht, was nur durch den Willen und den Beschluß der Mehrheit geschehen kann. Denn da eine Gemeinschaft allein durch die Zustimmung ihrer einzelnen Individuen zu handeln vermag und sich ein einziger Körper auch nur in einer einzigen Richtung bewegen kann, so muß sich notwendigerweise der Körper dahin bewegen, wohin die stärkere Kraft ihn treibt. Und das eben ist die Übereinstimmung der Mehrheit. Anderenfalls wäre es unmöglich, daß die Gemeinschaft als ein Körper […] handeln und fortbestehen kann […]" ( Locke 1992, 141, vgl.  1988, § 96).¹²

    Auch über die Frage, ob bei der Ermittlung des „Willens der Mehrheit" die Stimme jedes einzelnen Wahlberechtigten denselben Zählwert haben soll, herrscht weitgehend Konsens. Allerdings liegt der Aufforderung, one [wo‐]man one vote!, ein bestimmtes, die gleiche Freiheit der Bürger normativ voraussetzendes Demokratieverständnis zugrunde. Demokratietheorien wie die von Schumpeter, die keine normativen Annahmen dieser Art treffen, sind folglich hinsichtlich der Frage, wer und in welchem Umfang wahlberechtigt sein soll, „agnostisch".¹³

    Von der Frage hingegen, ob die Gleichheit des Zählwertes jeder Stimme zu den definierenden Merkmalen demokratischer Wahlen gehört, strikt zu trennen ist die Frage danach, ob sich jede Stimme auch gleichermaßen im Wahlergebnis niederschlagen, d. h. denselben Ergebniswert haben soll. Letztere betrifft die Diskussion um das der Demokratie prinzipiell angemessenste Wahlsystem, also etwa den Streit zwischen den Verteidigern von Verhältniswahlrecht einerseits (wie John Stuart Mill in seinen „Considerations on Representative Government") und von Mehrheitswahlrecht andererseits (wofür Schumpeter energisch eintritt) (siehe auch Kap. 18).

    1.3 Grundfunktionen der Wahl

    Nach den obigen Ausführungen soll im folgenden nur dann von einer demokratischen „Wahl" gesprochen werden, wenn allen Bürgern in regelmäßigen Abständen ein frei zustande gekommenes Entscheidungsangebot vorgelegt wird, aus dem sie eine freie (und um das zu gewährleisten: geheime) Auswahl treffen können. Zur Wahl stehen mindestens zwei Parteien oder Kandidaten. Das Wahlergebnis ist verbindlich; die Zuweisung der Regierungsgewalt erfolgt nach dem Mehrheitsprinzip. Welche Funktionen haben Wahlen nun de facto in demokratischen Systemen?

    Im präsidentiellen System wählen die Bürger sowohl die Mitglieder des Parlaments als auch den Präsidenten; im parlamentarischen System entscheiden sie darüber, welche Partei beziehungsweise Koalition von Parteien zusammen mit der vom Parlament zu wählenden Exekutive die Regierungsgewalt ausüben wird. Eine Funktion von Wahlen besteht also in der „Auswahl der Regierenden durch die Wählerschaft" ( Vogel et al. 1971, 9) oder, allgemeiner, in der „Rekrutierung politischer Führer" ( Almond und Powell 1996, 52; Hervorhebung im Original).

    Mit ihrer mehrheitlichen Entscheidung bestätigen die Wähler das amtierende Führungspersonal oder sorgen für einen Regierungswechsel. Durch Wahlen wird also mit der Bestellung der Regierenden auch der friedliche Übergang von einer Regierung zur nächsten gewährleistet.

    Die Wahl der Regierenden geht mit dem „Auftrag einher, bestimmte Inhalte in den politischen Entscheidungsprozeß einzubringen und durchzusetzen. Mit Art und Verbindlichkeit dieses Auftrags beschäftigen sich sogenannte Repräsentationstheorien. Sie gehen zum einen der normativen Frage nach, „What Ought the Representative Represent? ( Grunebaum 1981, 54–67; siehe Pitkin 1967; vgl.  Bowie 1981, Teil I), und unterscheiden demokratietheoretisch zwischen dem Ideal des gebundenen Delegierten, der vom Wähler ein imperatives Mandat erhält, um dessen Wünsche zu verwirklichen, einerseits, und dem Ideal des freien Repräsentanten, der weder an Weisungen noch Aufträge gebunden ist, sondern ein freies Mandat zur Wahrnehmung der langfristigen Interessen der Wählerschaft innehat, andererseits. Zum anderen beschäftigen sich Repräsentationstheorien mit der Realität „[z]wischen freiem und imperativem Mandat ( Kaltefleiter und Veen 1974, 246–267; vgl. auch Patzelt 1991, 166–199 sowie Dalton 2002, 196–199), also mit der Frage, wie die Gewählten tatsächlich ihren „Auftrag wahrnehmen und ausführen. Ungeachtet der jeweiligen normativen Position oder empirischen Erkenntnis scheint allerdings Konsens darüber zu bestehen, daß eine weitere Funktion von Wahlen darin besteht, dem Wählerauftrag eine gewisse Verbindlichkeit zu verschaffen.

    Mit der Auswahl der Regierenden erfolgt durch Wahlen aber auch die Bestellung der Opposition im Parlament. Im präsidentiellen System, in dem die Exekutive – der Präsident – in ihrem Bestand nicht von der Legislative abhängig ist, herrscht vergleichsweise geringe Fraktionsdisziplin, d. h. die Opposition ist fließend, die Mehrheiten wechseln und müssen im Prinzip zu jeder Entscheidung von neuem organisiert werden. Im parlamentarischen System hingegen ist die Opposition eine feste Größe. Während die Gewaltenteilung im präsidentiellen System weitgehend nach der klassischen Demarkationslinie zwischen Exekutive und Legislative erfolgt, stehen im parlamentarischen System Parlamentsmehrheit und Regierung der/n Oppositionspartei(en) gegenüber (vgl.  Ismayr 2000, 17). In Großbritannien wird dieser Dualismus besonders deutlich an der herausgehobenen Stellung des Führers von Her Majesty’s Opposition, der mit seinem Schattenkabinett im Plenarsaal der Regierungsfraktion gegenübersitzt (vgl.  Sturm 1994, 199). Während die Mehrheit vorwiegend die Wahl- und Gesetzgebungsfunktionen des Parlaments wahrnimmt, obliegt die öffentliche Kontrolle der Regierungspolitik sowie die Artikulation von Alternativen (vorwiegend) der Opposition.

    Bei der Bestellung der Opposition handelt es sich nicht unbedingt um ein Abfallprodukt der Bestellung der Regierungsfraktion(en). Es werden auch Kandidaten und Parteien gewählt, obwohl (oder gerade weil) sie keinerlei Chance haben, der Mehrheit anzugehören bzw. die Mehrheit zu bilden, oder es gar expressis verbis ablehnen, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Mit ihrer Wahl soll folglich Opposition gegenüber der Mehrheitspolitik artikuliert werden.

    Wahlen dienen also u. a. dazu, das Personal auszuwählen, das die Interessen und Wünsche der Bürger bei der politischen Entscheidungsfindung repräsentiert. Wozu bedarf es aber der Repräsentanten – warum übernehmen die Bürger die Wahrnehmung ihrer Interessen nicht selbst, indem sie direkt über Sachfragen entscheiden? In der heutigen Zeit, in der mehr und mehr Haushalte über einen Computer verfügen und Vernetzung kein Problem mehr darstellt, könnte (zumindest in naher Zukunft) eine, wie Fishkin sie nennt, „Teledemokratie ( Fishkin 1991, 21) eingerichtet werden, die es jedem Wahlberechtigten erlaubt, tagtäglich die zur Abstimmung stehenden Sachfragen auf seinem PC abzurufen und per Knopfdruck seine Entscheidung ins Netz zu geben. Gegen diese Form der direkten Demokratie sprechen allerdings schon rein praktische Gründe:¹⁴ In modernen Massendemokratien steht eine solche Menge von z. T. ungeheuer komplexen Sachfragen zur Entscheidung – man denke an Probleme wie steigende Arbeitslosigkeit, Ausstieg aus der Atomenergie, Genmanipulation, Müllentsorgung oder europäische Integration –, daß der einzelne Bürger, der sich ja darüber hinaus noch anderen Dingen wie Beruf, Haushalt, Familie und nicht‐öffentlichen Interessen widmen will und muß, von dieser Aufgabe völlig überfordert wäre. Schon Kelsen stellte deshalb fest, daß „mit Rücksicht auf die Größe des modernen Staates und die Vielfältigkeit seiner Aufgaben unmittelbare Demokratie „keine mögliche politische Form mehr darstellt", so daß ein System der Arbeitsteilung hergestellt werden muß, in dem die Bürger die Entscheidung der Sachfragen Berufspolitikern überlassen ( Kelsen 1981, 24, vgl. 29). Die allgemeinste instrumentelle Funktion von Wahlen besteht also darin, die Funktionsfähigkeit von modernen Massendemokratien zu gewährleisten.¹⁵

    Aber warum Wahlen, warum die immensen Kosten, die mit ihrer regelmäßigen Abhaltung einhergehen? Immerhin gibt es doch einfachere und damit kostengünstigere Wege, um die Regierenden ins Amt zu setzen, so etwa die „Bestellung nach Geburtsrecht, wonach ein Amt, wenn es sein Inhaber nicht weiter ausführen kann oder will, automatisch an den Erben fällt; die „Ex-officio-Bestellung, wonach man das Recht hat, dem Parlament anzugehören, weil man etwa ein dazu qualifizierendes Amt bekleidet (warum sollten Professoren der Politikwissenschaft nicht automatisch dem Deutschen Bundestag angehören?), einen bestimmten Titel trägt oder einem bestimmten Stand angehört; schließlich die „Bestellung durch Losentscheid", die in der Antike als die demokratische Methode schlechthin galt (vgl. Vogel et al. 1971, 1–2). Damit befinden wir uns mitten in der normativen Diskussion um die Ziele und Werte von Demokratie und die Rolle, die Wahlen bei ihrer Verwirklichung spielen sollen.

    1.4 Der Wert der Wahl

    Auf die Frage nach der Bedeutung von Wahlen bei der Realisierung der Werte und Ziele von Demokratie gibt es, wie eingangs angedeutet, ungefähr so viele Antworten, wie es Demokratietheorien gibt. Eine Möglichkeit, die folgenden Ausführungen zu strukturieren, bestünde somit darin, die verschiedenen Typen von Demokratietheorien vorzustellen, um jeweils herauszuarbeiten, welchen Stellenwert sie Wahlen zuweisen. Typologien dieser Art gibt es zuhauf.¹⁶ Zwei neuere Vorschläge seien hier kurz vorgestellt, nämlich der von Amy Gutmann (1993), 411–421 und der von Manfred G. Schmidt (2000), 175–306.¹⁷

    Gutmann unterscheidet zwischen

    der minimalistischen Demokratieauffassung Schumpeters, der Demokratie auf ein Verfahren zur Bestimmung der Regierenden reduziert,

    dem populistischen Demokratiemodell, das die Mehrheitsentscheidung der Bürger als freie und gleiche Akteure zum höchsten Wert erhebt,

    dem partizipatorischen Modell, nach dem der Mensch nur als zoon politikon Erfüllung findet und daher möglichst direkt an allen politischen Entscheidungen beteiligt sein soll,

    dem Modell der sozialen Demokratie, das Demokratie auf alle Lebensbereiche wie Arbeitsplatz und Familie ausdehnen will, um traditionelle Herrschaftsstrukturen aufzubrechen,

    dem liberalen Modell, das Demokratie in den Dienst individueller Freiheit stellt, und schließlich

    dem deliberativen Demokratiemodell, wonach Demokratie zwar der Freiheit des Individuums dienen, nämlich gewährleisten soll, daß der einzelne „nur seinem eigenen, keinem fremden Willen untertan" ist ( Kelsen 1981, 4), aber gleichzeitig dafür Sorge zu tragen hat, daß es sich dabei nicht um einen uninformierten, sondern um einen aufgeklärten Willen handelt, der politische Entscheidungen hinsichtlich ihrer Qualität zu überprüfen vermag (vgl.  Gutmann 1993, 412–418).

    Schmidt unterscheidet ähnlich wie Gutmann zwischen den eng miteinander verwandten elitistischen und ökonomischen Theorien der Demokratie, denen er Weber, Schumpeter und Downs zurechnet, sowie den Theorien der sozialen und der partizipatorischen Demokratie. Desweiteren differenziert Schmidt zwischen der pluralistischen, der kritischen und Scharpfs komplexer Demokratietheorie: Die pluralistische Demokratietheorie vertritt nach Schmidt die Auffassung, daß über die Teilnahme möglichst vieler Interessengruppen am politischen Entscheidungsprozeß gleich mehreren Zielen Rechnung getragen wird, nämlich der Herstellung weitestmöglicher politischer Gleichheit, der Vermeidung von Tyrannei durch den Konkurrenzkampf der Interessen sowie der Herbeiführung hoher Entscheidungsqualität. Die Vertreter der kritischen Demokratietheorie hingegen bezweifeln, so Schmidt, ob in einer pluralistischen Ordnung alle Interessen gleichermaßen im politischen Entscheidungsprozeß abgebildet werden. Ausgehend von dieser Kritik befasse sich Scharpf schließlich mit den Möglichkeiten, wie die von der pluralistischen Demokratietheorie postulierten Werte dennoch realisiert werden können (vgl. Schmidt 2000, 175–306).

    Bei derartigen Typologien ist nicht immer ganz offensichtlich, welche Ordnungskriterien zugrunde liegen. Einige dieser Modelle bedienen sich derselben Verfahren mit unterschiedlichen Zielen (so etwa das Schumpetersche und das populistische Demokratiemodell, wonach Demokratie in beiden Fällen durch Wahlen und Mehrheitsentscheid definiert ist, nach populistischer Auffassung aber dadurch der Selbstbestimmung der Bürger dienen soll, was für Schumpeter keine Rolle spielt), andere verfolgen ähnliche Ziele mit unterschiedlichen Verfahren (so etwa das Pluralismusmodell und Scharpfs komplexe Demokratietheorie).

    Da in diesem Beitrag ein bestimmtes Verfahren im Mittelpunkt steht, nämlich Wahlen, wird im weiteren der Versuch unternommen, Demokratietheorien im Hinblick auf die Bedeutung zu kategorisieren, die sie Wahlen bei der Verwirklichung ihrer jeweiligen Ziele und Werte beimessen. Dazu böte es sich an, zunächst einmal zwischen Theorien der repräsentativen – indirekten – Demokratie, für die Wahlen von mehr oder minder zentraler Bedeutung sind, und Theorien der plebiszitären – direkten – Demokratie, für die Wahlen eine untergeordnete Rolle spielen, zu differenzieren. Diese klassische Zweiteilung soll der analytischen Präzision halber in dieser Arbeit noch einen Schritt weitergedacht werden, indem zwischen drei Typen von Theorien unterschieden wird: erstens der Gruppe von Theorien, nach denen Wahlen notwendig und hinreichend sind, um die von ihnen postulierten Werte zu realisieren, zweitens der Gruppe von Theorien, nach denen Wahlen zum Zweck der Werterealisierung notwendig, aber nicht hinreichend sind, und drittens der Gruppe der Theorien, nach denen Wahlen zur Zielverwirk-lichung weder notwendig noch hinreichend sind. Anders ausgedrückt, liegt nach Vorstellung der Theoretiker von Gruppe (1) eine Demokratie dann vor, wenn regelmäßig Wahlen stattfinden, während für Theoretiker der Gruppen (2) und (3) ein politisches System neben Wahlen (wenn überhaupt) weitere Merkmale aufweisen muß, um sich als Demokratie zu qualifizieren. Schon aus Raumgründen kann nicht der Versuch unternommen werden, alle kursierenden Demokratiemodelle dieser Dreiteilung zuzuordnen. Da es hier, wie gesagt, um die Bedeutung von Wahlen geht und nicht um einen allgemeinen demokratietheoretischen Überblick, dienen die herangezogenen Theorien lediglich als Beispiele zur Illustration der drei oben genannten Kategorien.

    1.4.1 Wahlen als notwendige und hinreichende Bedingung zur Verwirklichung der Werte, die mittels Demokratie verfolgt werden sollen

    Für eine Gruppe von Theorien, die gemeinhin als „elitistisch oder „ökonomisch bezeichnet werden, sind Wahlen, die den Konkurrenzkampf zwischen Parteien oder Kandidaten nach dem Willen der Mehrheit der Wahlberechtigten entscheiden, sowohl notwendig als auch hinreichend, um den Zweck von Demokratie zu erfüllen. Drei Vertreter dieser Gruppe sollen hier – zugegebenermaßen verkürzt – vorgestellt werden: Max Weber, Joseph Schumpeter und Anthony Downs.¹⁸

    1.4.1.1 Max Weber: elitistische Demokratietheorie

    Webers Ideal ist das einer „plebiszitären Führerdemokratie" ( Schmidt 2000, 180), die durch drei Vorzüge gekennzeichnet ist: es handelt sich um die Herrschaft von kompetenten Eliten, die aus einem Bestellverfahren hervorgehen, das zur Vermeidung von Konflikten und damit zur Stabilisierung des politischen Systems beiträgt, und zwar langfristig, da durch regelmäßig stattfindende Wahlen die Eliten kontinuierlich auf friedlichem Wege kontrolliert und gegebenenfalls erneuert werden.

    Die Herrschaft kompetenter Eliten werde dadurch gewährleistet, daß sich die Anwärter auf politische Ämter zunächst einem Konkurrenzkampf stellen müssen. Dieser Konkurrenzkampf findet in Form des Wahlkampfes um die Stimmen der wahlberechtigten Bürger statt. Eine solche Auslese im Rampenlicht der Öffentlichkeit hält Weber für effizienter als Auswahlverfahren, die „hinter den verschlossenen Türen der Bürokratie stattfinden und in denen vor allem solche Kandidaten Chancen haben, die fügsam gegenüber dem Apparat und bequem für ihre Vorgesetzten seien. Im Wahlkampf hingegen sei der Politiker der „Kritik der Feinde und Konkurrenten in der Presse ausgesetzt, die die „Motive und Mittel, die seinen Aufstieg bedingten, rücksichtslos ans Licht brächten. Diese harte Schule sei erstens eine wichtige Lehre zur Vorbereitung auf Politik, die Weber als „Kampf auffaßt, und gebe zweitens den Wählern die Chance, eine zielgerichtete Wahl zu treffen ( Weber 1980, 861).¹⁹

    Wahlen sollen nach bestimmten Wahlrechtsgrundsätzen stattfinden. Vor allem die Gleichheit der Wahl war Weber ein zentrales Anliegen (siehe Weber 1988); dadurch werden große Teile der Bürger in das politische Geschehen eingebunden, und zwar als Staatsbürger, deren Stimmen gleich zählen. Darin komme „[d]ie Einheit des Staatsvolks an Stelle der Gespaltenheit der privaten Lebenssphären […] zum Ausdruck ( Weber 1988, 266). Das ist nach Weber Voraussetzung dafür, daß der Glaube an die Legitimität der Führungsschicht bei weiten Teilen der Bevölkerung, d. h. auch bei den „potentiell gefährliche[n] [politischen] Schichten, gestärkt und das politische System somit stabilisiert wird (vgl. Schmidt 2000, 188). Wahlen sind somit für ihn „Plebiszite,²⁰ durch die die Massen ihren „Glauben an den Gewählten und ihr Vertrauen an seinen „Führerberuf" aussprechen ( Weber 1980, 862).

    Da Wahlen in regelmäßigen Abständen stattfinden, ermöglichen sie den dauerhaften Erhalt von kompetenter Führerschaft und Stabilität: Die Bürger erteilen ihr Vertrauen nur auf Zeit; dadurch sei einerseits die Kontrolle der herrschenden Elite, und, wenn diese ihr nicht standhält, die friedliche Ablösung einer Teilelite durch eine andere gewährleistet, andererseits werde der Legitimitätsglaube gestärkt, da die Bürger sich von Zeit zu Zeit in ihrer Rolle als aktive Mitglieder des politischen Systems bestärkt sehen.

    Wie Schmidt ausführt, sieht Weber weitere, über gleiche und allgemeine Wahlen hinausgehende Bedingungen zur Verwirklichung von kompetenter Herrschaft unter stabilen innenpolitischen Umständen nicht vor: „Die Führer, die die Macht im Konkurrenzkampf um die Stimmen der Wahlberechtigten erworben haben, können ihre Entscheidungsbefugnis ungehindert ausüben" ( Schmidt 2000, 197). Damit sind Wahlen nach Weber notwendige und hinreichende Bedingung zur Herstellung von Demokratie und der Verwirklichung bestimmter Werte.

    1.4.1.2 Joseph Schumpeter: Ökonomische Demokratietheorie I

    Ebenso wie für Weber ist auch für Schumpeter die Konkurrenz um Führungspositionen das definierende Kennzeichen demokratischer politischer Systeme (vgl. Schmidt 2000, 201). In „Capitalism, Socialism and Democracy (1942; dtsch.: „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie 1950, hier 7. Auflage 1993b) definiert er Demokratie „als diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben" (Schumpeter; 1993b, 428).

    Dieser Konkurrenzkampf vollzieht sich in Form von Wahlen. Wahlen geben den wahlberechtigten Bürgern Gelegenheit, zwischen den Angeboten der verschiedenen Kandidaten, die sich um politische Ämter bewerben, zu wählen, d. h. ihr jeweiliges Angebot anzunehmen oder aber auch abzulehnen (vgl. Schumpeter; 1993b, 449). Mit der Wahl der Abgeordneten des Parlaments oder des Präsidenten haben die Bürger ihren Part im arbeitsteiligen Demokratiegeschäft erfüllt und „müssen einsehen, daß wenn sie einmal jemanden gewählt haben, die politische Tätigkeit seine Sache ist und nicht die ihre" (Schumpeter; 1993b, 468).

    Ziel von Wahlen sei es, arbeitsfähige Regierungen hervorzubringen, und diesem Ziel sei am besten gedient durch das Mehrheitswahlrecht (vgl. Schumpeter; 1993b, 433). Durch dieses öffentliche Auswahlverfahren sei allerdings keinesfalls gewährleistet, daß besonders befähigte Personen zu Amt und Würden gelangen:

    „die demokratische Methode schafft berufsmäßige Politiker, die sie dann zu Verwaltungsdilettanten und ‚Staatsmännern‘ macht. Da ihnen selbst alle Kenntnisse fehlen […] ernennen sie […] ‚Richter ohne Rechtskenntnis und Diplomaten ohne Französisch‘, ruinieren dadurch die Beamtenschaft und entmutigen ihre besten Elemente." (Schumpeter; 1993b, 458)

    Da es sich bei Demokratie dieser Auffassung zufolge um eine Methode handelt, sei sie als solche „unfähig, selbst ein Ziel zu sein" (Schumpeter; 1993b, 384). Was ist dann das Ziel, das mittels der demokratischen Methode, d. h. durch Wahlen, verwirklicht werden soll? Zunächst scheint Schumpeter zu dieser Frage nicht Stellung nehmen zu wollen. Es entsteht vielmehr der Eindruck, daß er der demokratischen Methode Zielvereitelung, zumindest mehr Nach‑ als Vorteile unterstellt: Abgesehen von der Gefahr, daß unfähige Personen in Führungspositionen gelangen, verdamme die regelmäßige Wiederkehr von Wahlen und die damit einher gehende Möglichkeit, Amt und Würden wieder zu verlieren, die Amtierenden dazu, einen Großteil ihrer Energie auf den Konkurrenzkampf zu verwenden, was wiederum den Beschluß kurzfristiger und ‑sichtiger Maßnahmen befördere und es erschwere, den „langfristigen Interessen der Nation zu dienen" (Schumpeter; 1993b, 465).

    Spätestens wenn er nach den Alternativen zur demokratischen Methode fragt, wird klar, daß Schumpeters Haltung zur Demokratie im allgemeinen und zu Wahlen im besonderen weder wertfrei noch negativ ist, wie zunächst angenommen werden könnte. Zum einen unterstellt er der Demokratie eine zumindest tentative Verbindung zur politischen Freiheit. Wahlen als freie Entscheidung zwischen zumindest zwei Alternativen führen „in den meisten, wenn auch nicht allen Fällen zu einem „beträchtliche[n] Maß an Diskussionsfreiheit [und] […] Pressefreiheit (Schumpeter; 1993b, 431). Diese Beziehung herrsche zwar nicht zwangsläufig, aber sei „vom Standpunkt des Intellektuellen [und als solchen dürfte sich Schumpeter gesehen haben] […] sehr wichtig (Schumpeter; 1993b, 431–432). Zum anderen, und hier ist eine Parallele zu Weber zu verzeichnen, geht Schumpeter davon aus, daß Politiker, die als Sieger aus den Wahlen hervorgehen, offensichtlich über „persönliche Kraft und andere Eigenschaften verfügen, die ihnen in ihrer Führungsposition sehr zustatten kommen; sie zeigen sich nämlich in der Lage, Hürden zu nehmen, die „de[n] Deppen oder de[n] Windbeutel[]" (Schumpeter; 1993b, 459) am Aufstieg hindern.

    Und schließlich ist für Schumpeter die potentielle Schwäche demokratischer Systeme gerade ihre Stärke. Durch Wahlen werde Tyrannei abgewendet, und das sei wünschenswert, denn: „Bestimmt wollen wir nicht die Objekte diktatorischer Leistungsfähigkeit sein, nicht bloßes Material für ein großes Spiel (Schumpeter; 1993b, 457). Die demokratische Methode mit ihrer Möglichkeit, Kandidaten für politische Ämter zurückzuweisen, vereitelt somit Tyrannei, und die von Schumpeter verordnete strikte Arbeitsteilung zwischen Bürgern als Stimmvieh und gewählten Politikern, die die eigentliche politische Tätigkeit ausüben, dient dem „Zustandekommen einer stabilen Regierung, die, von politischen Initiativen der Bürger unbehelligt, […] Entscheidungen zu treffen hat (Lenk und Franke; 1987, 274; Hervorhebung im Original).

    Über die regelmäßige Abhaltung von Wahlen hinaus nennt Schumpeter keine weiteren – institutionellen – Bedingungen zur Verwirklichung dieser Ziele. Allerdings macht er den Erfolg der demokratischen Methode an bestimmten Qualitäten des „Menschenmaterials (Schumpeter; 1993b, 461ff) fest, das einerseits die politische Führungsschicht und andererseits die Wählerschaft bildet: Es müsse sich um Personen handeln, die als Politiker über Entscheidungsqualitäten verfügen, aber in schwierigen Fragen sich nicht scheuen, den Rat der Experten einzuholen, und die als Politiker und Wähler über ein hinreichend hohes „intellektuelles und moralisches Niveau (Schumpeter; 1993b, 467) verfügen.

    1.4.1.3 Anthony Downs: Ökonomische Demokratietheorie II

    Schumpeters zentrale Annahmen wurden weiterentwickelt von Anthony Downs in seiner ökonomischen Analyse politischen Handelns, die er in „An Economic Theory of Democracy (1957; dtsch.: „Ökonomische Theorie der Demokratie, 1968) darlegte (vgl.  Downs 1957, 29, Fn. 11). Ebenso wie Schumpeter geht Downs davon aus, daß Wähler ihre Stimme abgeben, um der Partei zum Wahlsieg zu verhelfen, von der sie sich die größten persönlichen Vorteile versprechen (vgl. Downs; 1957, 36), und daß Parteien um die Wählerstimmen konkurrieren, nicht etwa um ein bestimmtes politisches Programm verwirklichen zu können, sondern um sich die persönlichen Vorteile eines politischen Amtes – „income, prestige, and power – zu sichern (Downs; 1957, 28). Die soziale Funktion, die Regierungen erfüllen, ist also strikt zu unterscheiden von den privaten Motiven der Regierenden, an die Regierung zu gelangen; „gutes Regieren ist vielmehr ein Nebenprodukt bei der Verfolgung persönlicher Interessen (vgl.  Schumpeter 1993b, 448; vgl.  Downs 1957, 29, 51; siehe auch Kap. 8).

    Das Demokratieverständnis, das Downs seinen Ausführungen zugrunde legt, ist allerdings weitaus differenzierter als das von Schumpeter. Zwar äußert er sich nicht explizit zu den Werten, die in einer Demokratie verwirklicht werden sollen, aber aus seinen Ausführungen über die Bedingungen demokratischer Wahlen, die weit über die von Schumpeter genannten hinausgehen, läßt sich ein populistisches Demokratieverständnis entnehmen, dem der Wert der gleichen Freiheit der Bürger, am politischen Entscheidungsprozeß teilzunehmen, zugrunde liegt.

    Downs geht davon aus, daß Wahlen nicht nur die Merkmale aufweisen, die schon eingangs als konstitutiv für diese Form von Entscheidungsverfahren festgestellt wurden – es stehen mindestens zwei Parteien zur Wahl, der Konkurrenzkampf wird nicht mit illegalen Mitteln geführt –, sie müssen zudem den Grundsätzen der allgemeinen und gleichen Wahl entsprechen (vgl. Downs; 1957, 23–24). Wichtiger noch ist, daß politische Freiheit, die für Schumpeter zwar mit großer Wahrscheinlichkeit, aber nicht notwendigerweise Folge des Konkurrenzkampfes um die Wählergunst darstellt, für Downs Voraussetzung von Wahlen in dem von ihm verstandenen Sinne ist: Die Regierungspartei dürfe die Chancen der Opposition nicht untergraben, indem sie etwa die Meinungs‑ und Pressefreiheit beschneidet oder den Wahltermin verschiebt (vgl. Downs; 1957, 12). Diese Bedingungen seien in der Verfassung verankert und stehen, soweit Downs das erkennen läßt, nicht zur Disposition. Damit ist Downs’ Theorie, auch wenn er bestreitet, daß sie normativen Gehalt hat (vgl. Downs; 1957, 31) zumindest ein Vorgänger des liberalen Demokratieverständnisses, das Demokratie in den Dienst individueller Freiheit stellt.

    1.4.2 Wahlen als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung zur Verwirklichung der Werte der Demokratie

    Liberale Theoretiker befürworten Demokratie, sofern sie allen Bürgern den größtmöglichen Raum zur Entfaltung individueller Freiheit innerhalb von Gesellschaft bietet (vgl. Pettit; 1997, 29–30). Regelmäßig stattfindende Wahlen, die nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden, sind demnach notwendige Bedingung für die Verwirklichung gleicher Freiheit, aber nicht hinreichend, denn es ist immer möglich, daß die Mehrheit für eine Partei stimmt, die verspricht, die Mitglieder einer Minderheit ihrer individuellen Freiheiten zu berauben. Wie Hayek ausführt, ist es durchaus möglich, die demokratische Methode für totalitäre Zwecke zu nutzen (vgl. Hayek; 1991, 125). Liberale Demokratie bedarf also institutioneller Vorkehrungen, damit individuelle Freiheit nicht der „Tyrannei der Mehrheit" zum Opfer fällt. Legitime Demokratie ist aus liberaler Sicht folglich immer eine konstitutionelle Demokratie, in der die Mehrheit ihren Willen nur innerhalb bestimmter inhaltlicher Grenzen ausüben darf.

    Es gibt eine Vielzahl liberaler Theorien, die sich zum Teil nur in Nuancen, zum Teil aber grundsätzlich hinsichtlich ihrer Vorstellungen unterscheiden, worin gleiche Freiheit besteht und welche institutionellen Vorkehrungen notwendig und hinreichend sind, um gleiche Freiheit zu schaffen und zu bewahren. Im folgenden sollen zwei liberale Vorschläge vorgestellt werden, die aufgrund unterschiedlicher Auffassungen davon, was unter „gleicher Freiheit verstanden werden soll, unterschiedliche Empfehlungen abgeben, wie Wahlen, die für demokratienotwendig erachtet werden, durch andere Institutionen ergänzt werden müssen, um zu gewährleisten, daß Demokratie ein „lobenswertes Unternehmen darstellt. Der eine dieser beiden Vorschläge stammt von John Rawls, der andere von Philip Pettit.²¹ In Rawls’ „A Theory of Justice (1971) bildet die konstitutionelle Demokratie den notwendigen Rahmen für eine freie und gerechte Ordnung; das Wahlrecht ist für ihn ein notwendiges Kontrollrecht der Bürger gegenüber dem Staat, das allerdings durch andere negative Rechte sowie bestimmte positive Rechte zu ergänzen ist, um für den einzelnen einen Wert zu haben. Diese von Rawls vorgesehenen Rechte dienen aus Sicht von Philip Pettit vor allem dem Schutz von Freiheit, verstanden als „non‐interference (vgl. Pettit; 1997, 50). Diese Auffassung von Freiheit lehnt Pettit jedoch ab: er plädiert statt dessen für eine Auffassung von Freiheit im Sinne von „non‐domination, und um sie zu verwirklichen, bedürfe es einer „contestatory democracy (vgl. Pettit; 1997, 277–278):

    1.4.2.1 John Rawls: Sozialliberale Demokratietheorie

    Liberale Theoretiker sind dem Wert individueller Freiheit verpflichtet. Anthropologische Grundlage ihres Wertmaßstabes ist die Einsicht in die geringe Instinktdeterminiertheit menschlichen Handels, weshalb dem Individuum in jeder Entscheidungssituation eine Unmenge von Optionen zur Verfügung stehen. Um dieser überwältigenden Komplexität, der „Gesamtheit aller möglichen Ereignisse" (Luhmann; 1974, 115–116), Herr zu werden – und zum Schutz vor einer feindlichen Umwelt – benötigt das Individuum Gesellschaft. Eine der wichtigsten Funktionen von Gesellschaft besteht darin, die Anzahl der dem Individuum verfügbaren Handlungsoptionen zu reduzieren, indem sie einige verbietet und andere gebietet, zu einigen ermutigt und von anderen abrät. Die politische Philosophie im allgemeinen und der Liberalismus im besonderen versuchen nun, Kriterien dafür zu entwickeln, welche Handlungsoptionen – oder allgemeiner: Vorstellungen vom guten Leben – legitimerweise aus der Menge möglicher Handlungsweisen entfernt werden dürfen, oder, positiv gewendet, welche Lebenspläne das Individuum frei verfolgen können soll. Dabei wird Rawls von einer soziologischen und einer epistemischen Einsicht geleitet (vgl. Rawls; 1993, 54–56): Zum einen betrachtet er einen Pluralismus von z. T. inkompatiblen Vorstellungen über das gute Leben als Faktum moderner Gesellschaften. Zum anderen stellt er fest, daß wir aufgrund unseres beschränkten Wissens und Urteilsvermögens nicht abschließend entscheiden können, welcher Lebensplan der beste, d. h. allen anderen Lebensplänen überlegen ist. Da das Individuum Gesellschaft benötigt und ein geordnetes Zusammenleben der Regelung der Frage bedarf, welche Sorten von Lebensplänen verfolgt werden dürfen, gibt es nur zwei Optionen: Entweder wird eine Auffassung vom guten Leben per Dekret zur allein selig machenden erhoben, oder es wird allen Gesellschaftsmitgliedern das Recht eingeräumt, ihre Auffassungen vom guten Leben in einem Umfang zu verfolgen, der damit vereinbar ist, daß die anderen Gesellschaftsmitglieder dasselbe tun können. Liberale Theoretiker plädieren klar für die zweite Option.²²

    Nach dieser Auffassung ist Demokratie diejenige Form von politischem System, die den größtmöglichen Handlungsspielraum an politischer Freiheit innerhalb von Gesellschaft bietet. Folglich sollen alle Bürger die gleiche politische Freiheit genießen, am politischen Entscheidungsprozeß teilzunehmen. Im Hinblick auf Wahlen folgt daraus, daß alle Bürger, die ein bestimmtes Alter und damit hoffentlich auch einen bestimmten Grad an geistiger Reife erreicht haben, nach dem Grundsatz one person one vote wahlberechtigt sein und Wahlen frei, geheim und regelmäßig stattfinden sollen (vgl. Rawls; 1971, 222). Das Prinzip der gleichen politischen Freiheit verlange zudem, daß alle Bürger das gleiche Recht haben, sich politischen Organisationen anzuschließen, und über das passive Wahlrecht verfügen (vgl. Rawls; 1971, 223–224). Damit die Bürger diese Rechte wahrnehmen können, bedürfen sie der „Meinungs‑, Versammlungs‑ und Glaubensfreiheit" (Rawls; 1971, 225), und es müsse ihnen möglich sein, sich umfassend über das politische Geschehen zu informieren.

    Bislang stimmt Rawls’ Forderungskatalog weitgehend mit dem von Downs überein. Wahlen sind jedoch nicht hinreichend, um seine Vorstellung von politischer Freiheit zu gewährleisten. Damit die Bürger diese Freiheiten wahrnehmen können, müssen diese Freiheiten erstens einen Wert besitzen, zweitens vor möglichen Versuchen der Mehrheit, sie einzuschränken oder gar abzuschaffen, geschützt werden, und drittens das Recht implizieren, sie nicht zu nutzen:

    Unter dem Wert der Freiheit versteht Rawls den Wert, den politische und andere Rechte für ihre Inhaber haben. Der Wert dieser Rechte werde geschmälert in dem Maß, in dem sich ein Bürger ihrer nicht bedienen kann, weil er zu arm ist (etwa um den Bus zum Wahllokal zu zahlen), zu ungebildet (etwa um den Wahlzettel zu lesen) oder in anderer Weise daran gehindert wird (vgl. Rawls; 1971, 204). Auch dann, wenn alle Bürger gleiche politische Freiheit haben, sei der Wert dieser gleichen Freiheit für die einzelnen Personen unterschiedlich groß. Aufgabe der Regierung sei es deshalb, Maßnahmen zu ergreifen, die jedem Bürger zumindest eine faire Chance einräumen, ins politische Geschehen einzugreifen. Zu diesen Maßnahmen gehört die von Rawls in seinem „Unterschiedsprinzip (difference principle) geforderte Ordnung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten in der Form, daß sie „zum größten Vorteil der am schlechtesten Gestellten einer Gesellschaft sind (unter Berücksichtigung des gerechten Sparprinzips und unter den Bedingungen von Chancengleichheit; Rawls 1971, 302), aber auch die kostenlose Bereitstellung von Materialien zur politischen Information, die Förderung politischer Bildung für alle Bürger bis hin zur staatlichen Teilfinanzierung der Parteien (vgl. Rawls; 1971, 225–226).

    Die Rechte der Bürger bedürfen der festen Verankerung in der Verfassung (vgl. Rawls; 1971, 222), zu deren Änderung qualifizierte Mehrheiten nötig sind. Im Konfliktfall genießen diese Rechte Priorität vor dem Willen der Mehrheit (vgl. auch Gutmann; 1993, 413) – die Einschränkung der politischen Freiheit der Mehrheit, ihren Willen gegenüber einer Minderheit durchzusetzen, sei gerechtfertigt, falls und insoweit andere Freiheiten dadurch geschützt werden und das Gesamtsystem an Freiheiten (das Rawls in seinem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz vorstellt) gestärkt wird (vgl. Rawls; 1971, 229). Vor diesem Hintergrund sei es z. B. gerechtfertigt, unter bestimmten, klar zu benennenden Bedingungen, Parteien vom politischen Wettbewerb auszuschließen, etwa wenn sie die Stabilität eines gerechten Gemeinwesens gefährden (vgl. Rawls; 1971, 219).²³

    Zum Prinzip der politischen Freiheit zähle schließlich das Recht, nicht am politischen Geschehen teilzunehmen. Das politische Leben sei nur eine Form des guten Lebens; daneben gebe es viele andere (vgl. Rawls; 1971, 228). Folglich ist es aus liberaler Sicht völlig legitim, ein Leben außerhalb der Politik anzustreben und das politische Geschäft denjenigen zu überlassen, die sich dafür interessieren. Rawls plädiert daher für eine indirekte Demokratie ohne Wahlpflicht. Wahlen dienen dazu, interessierten Kandidaten ein freies Mandat auf Zeit einzuräumen, so daß sie nach bestem Wissen und Gewissen für die Regierten politisch tätig werden können. Die Gewählten seien den Bürgern allerdings Rechenschaft schuldig, und sollte ihre Arbeit den Erwartungen der Wähler nicht gerecht werden, können diese ihr Mandat nach Ablauf der Zeit wieder zurücknehmen (vgl. Rawls; 1971, 222). Die Wahl ist somit eine notwendige Bedingung zur Realisierung des gleichen Rechts aller Bürger auf politische Partizipation und gleichzeitig ein Mittel zur Legitimierung und Kontrolle von Herrschaft. Wahlen stehen dabei stets im Dienst individueller Freiheit; daher dürfen Wahloptionen im Zweifelsfall zu ihrem Schutz eingeschränkt werden. Der liegt etwa vor, wenn die Bedingungen von Art. 21. 2 GG, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen gegen die SRP 1952 und die KPD 1956 expliziert hat, gegeben sind.

    1.4.2.2 Philip Pettit: Republikanische Demokratietheorie

    Während der hier skizzierten liberalen Sicht zufolge die Freiheit, in deren Dienst die Demokratie steht, als Nicht‐Einmischung in die Privatangelegenheiten der Bürger verstanden wird, begreift Pettit ²⁴ die Freiheit, die durch Demokratie gesichert werden soll, im Sinne von Nicht‐Beherrschtwerden (non‐domination). Unfreiheit liegt seiner Auffassung nach dann vor, wenn man wie ein Sklave oder Untertan der Willkürherrschaft eines anderen ausgesetzt ist. Willkürlich sei diese Herrschaft dann, wenn sie ungeachtet der „wahrgenommenen Interessen des davon Betroffenen ausgeübt wird (Pettit; 1999, 165). Der Unterschied zur Auffassung von Freiheit im Sinne von Nicht‐Einmischung bestehe darin, daß einerseits Unfreiheit im Sinne von domination auch bei Nicht-Einmischung vorliegen kann, nämlich dann, wenn man „nur potentiell willkürlichen Eingriffen ausgesetzt ist, und daß andererseits nicht jede Form der Einmischung als domination, also als Angriff auf die Freiheit angesehen wird. Sofern durch das Gesetz die Interessen der Adressaten berücksichtigt werden und die Herrschaft des Gesetzes nicht willkürlich ausgeübt wird, liege keine Verletzung der Freiheit im Sinne von non‐domination vor:

    „The laws of a well‐constituted republic may reduce the number of choices available to a person […] but so far as they are not arbitrary, so far as they are required to track people’s common perceived interests, they will not compromise people’s freedom." (Pettit; 1999, 167)

    Um Freiheit in diesem Sinne zu gewährleisten, bedürfe es zunächst einmal notwendigerweise einer Demokratie, in der regelmäßig Wahlen nach den Grundsätzen der allgemeinen und gleichen Stimmabgabe stattfinden. Dadurch werde gewährleistet, daß die Regierenden, sofern sie wiedergewählt werden wollen, keine Politik betreiben, die den Interessen der Bürger völlig zuwiderläuft (vgl. Pettit; 1999, 173). Zur Vermeidung von Willkürherrschaft und damit zur Verwirklichung des Ziels der non‐domination seien regelmäßig stattfindende Wahlen jedoch nicht hinreichend, da sie, wie gesagt, keinen Schutz davor bieten, daß die gewählte Mehrheit im Parlament die legitimen Interessen (vgl. Pettit; 1999, 176) einer Minderheit ignoriert.

    Um eine Tyrannei der Mehrheit zu vermeiden, bedürfe es einer „Anfechtungsdemokratie (contestatory democracy), die dem einzelnen zwar kein Veto einräumt, dafür aber das Recht, „to call [public decisions] into question on […] [the] basis [of their avowable, perceived interests] and to trigger a review; in particular, to trigger a review in a forum that they and others can all endorse as an impartial court of appeal (Pettit; 1999, 179). Eine solche – aber keineswegs die einzig denkbare – Instanz ist etwa das Bundesverfassungsgericht, vor dem jeder Bürger der Bundesrepublik Verfassungsbeschwerde einlegen kann, wenn er der Ansicht ist, durch ein Gesetz, ein Urteil oder einen Verwaltungserlaß in seinen grundlegenden, in der Verfassung niedergelegten Rechten verletzt worden zu sein.

    Spätestens hier sollte klar sein, daß diese Demokratietheorie, die Pettit „republikanisch" nennt, sehr eng mit der liberalen Demokratietheorie verwandt ist. Allerdings sind die Unterschiede recht bemerkenswert: während liberale Theorie vor allem die Abwehrrechte des Individuums gegenüber dem Staat betont (und folglich immer ein wenig mit der Anarchie liebäugelt), konzentriert sich die republikanische Variante mehr darauf, wie die Individuen am demokratischen Entscheidungsfindungsprozeß mitwirken können, so daß legitime Interessen bei der verbindlichen Zuteilung von Werten nicht unterdrückt werden. Die Partizipation der Bürger, allerdings weniger im Sinne einer anfechtenden Kontrollinstanz, sondern vielmehr als aktive Teilnehmer an der Genese politischer Entscheidungen steht auch im Mittelpunkt der dritten Gruppe von Demokratietheorien, für die Wahlen – was die Verwirklichung der von ihnen vorgebrachten Werte angeht – weder notwendig noch hinreichend sind.

    1.4.3 Wahlen sind weder notwendig noch hinreichend, um die Werte der Demokratie zu verwirklichen

    Zu behaupten, daß für die nachfolgend vorgetragenen Demokratievorstellungen Wahlen weder notwendig noch hinreichend sind, ist irreführend. Auch Benjamin Barber etwa ist sich durchaus bewußt, daß die Umsetzung seiner Vorstellungen von „Starke[r] Demokratie (1994, engl. : „Strong Democracy, 1984) „nur als modifizierte Form liberaler Demokratie möglich ist (Barber; 1994, 234). Wahlen sind aber nicht deshalb für Barber notwendig, weil sie der Verwirklichung bestimmter Werte dienen – im Grunde genommen seien sie sogar demokratieschädlich, da ihr Produkt, Repräsentation, „Partizipation und Bürgerschaft torpediere (Barber; 1994, 13)²⁵ –, sondern weil die überwältigende Mehrheit der Bürger Demokratie mit der regelmäßigen Wiederkehr von Wahlen identifiziere: Demokratie ohne Wahlen sei für die Bürger, und das scheinen empirische Untersuchungen zu bestätigen, undenkbar (vgl. etwa Fuchs; 1997, 98). Die Abschaffung von Wahlen kann, wenn man Barbers Überlegungen folgt, erst am Ende der erfolgreichen Durchführung eines „starkdemokratische[n] Programm[s] zur Wiederbelebung der Bürgerschaft" (Barber; 1994, 290) in Erwägung gezogen werden; andernfalls müsse wohl mit dem unmittelbaren Entzug der diffusen Systemunterstützung von seiten der Bürger und damit mit dem Scheitern des Projekts gerechnet werden.

    Soweit, Wahlen als „demokratieschädlich" einzustufen, geht James Fishkin nicht. Er stellt seine Vorstellungen zur „Deliberative Democracy" ( 1991) auch eher als eine Ergänzung zu bestehenden demokratischen Verfahren dar, die dafür sorgen soll, daß die Bürger informierter am politischen Entscheidungsprozeß teilnehmen. Wenn man allerdings seine Ausführungen zum deliberative opinion poll ernst nimmt und seiner Argumentation zustimmt, daß dadurch allen demokratischen Werten Rechnung getragen wird, nämlich der Vermeidung von Tyrannei, der gleichen Freiheit der Bürger sowie der informierten vernünftigen Partizipation, dann ist nicht klar, worin der zusätzliche Wert der Wahl bestehen soll – außer vielleicht, um, ganz im Sinne Barbers, eine Entfremdung der Bürger vom politischen System zu verhindern.²⁶

    1.4.3.1 Benjamin Barber: kommunitaristische Demokratietheorie

    Benjamin Barbers Demokratietheorie ist dem „kommunitaristischen Lager zuzuordnen: Ebenso wie die Vertreter des Liberalismus sind auch kommunitaristische Theoretiker „der Freiheit verpflichtet, allerdings verstehen sie darunter weder die Freiheit des Individuums von Einmischung noch die Freiheit des Individuums von Willkürherrschaft, sondern vielmehr die Freiheit der Gesellschaft als partizipatorisches Regime. Ebenso wie liberale Theoretiker gehen sie davon aus, daß das Individuum Gesellschaft benötigt, aber nicht nur in dem von Liberalen angenommenen instrumentellen Sinn einer Schutzgemeinschaft, sondern im moralischen Sinn einer Wertegemeinschaft, durch die der Mensch erst zu dem wird, was ihn als Mensch ausmacht, nämlich zur moralbefähigten Person. MacIntyre (1993), 92–93 etwa führt aus:

    „Wenn es erstens der Fall ist, daß ich die Regeln der Moral nur in der Version aufnehmen kann, wie sie in einer bestimmten Gemeinschaft verkörpert werden; und wenn es zweitens der Fall ist, daß die Moral in Begriffen bestimmter Güter gerechtfertigt werden muß, die innerhalb des Lebens bestimmter Gemeinschaften genossen werden können; und wenn es drittens so ist, daß ich typischerweise nur durch die besonderen Arten moralischer Unterstützung, die mir meine Gemeinschaft gewährt, zum moralisch Handelnden werde und als solcher erhalten werde, dann ist es klar, daß ich ohne diese Gemeinschaft kaum als moralisch Handelnder gedeihen kann."

    Die Regeln der Moral sind demnach stets die Regeln einer Gemeinschaft; Loyalität gegenüber dieser Gemeinschaft ist Voraussetzung dafür, moralisch handeln zu können. Die politische Gemeinschaft, der der einzelne als Bürger angehört, ist die Nation. Loyalität ihr gegenüber, d. h. Wertschätzung und „Verehrung ihrer „besonderen Merkmale, Vorzüge und Errungenschaften (MacIntyre; 1993, 85), nennt MacIntyre Patriotismus, und sie ist für ihn eine zentrale Tugend.

    Dieser Ansicht ist auch Charles Taylor, wenn er auf die besondere Bedeutung von Patriotismus gerade für eine freie Gesellschaft verweist. Unter einer „freien Gesellschaft versteht Taylor zunächst einmal das Gegenteil von Despotie: während eine Despotie darauf angewiesen ist, ihre Untertanen extrinsisch zum Gehorsam zu motivieren, d. h. durch negative Anreize wie Zwang und Bestrafung, sind die Bürger einer freien Gesellschaft intrinsisch motiviert, die bestandsnotwendigen Leistungen für das Gemeinwesen freiwillig und selbstdiszipliniert zu erbringen (vgl. Taylor; 1993, 100). Quelle dieser Selbstdisziplin ist die Identifizierung der Bürger mit der Republik, die sie als gemeinsames Unternehmen auffassen. Aus dieser Identifizierung mit der Polis erwächst ein Gefühl, das „irgendwo zwischen Freundschaft oder Familiengefühl einerseits und altruistischer Hingabe andererseits angesiedelt ist, nämlich Patriotismus (Taylor; 1993, 111).

    Patriotische Identifikation mit dem Gemeinwesen ist folglich Bedingung dafür, daß eine Gesellschaft möglichst wenig auf Zwangsmaßnahmen zurückgreifen muß, um bestandsnotwendige Leistungen einzufordern, und damit frei ist im Sinne von nicht‐despotisch. Patriotische Identifikation ist aber auch Voraussetzung dafür, daß eine solche Gesellschaft in einem positiven Sinn „frei" ist: Für Taylor zeichnet sich eine freie Gesellschaft nämlich nicht etwa dadurch aus, daß der einzelne größtmöglichen Raum hat, um seinen privaten Neigungen nachzugehen, sondern gerade dadurch, daß die Bürger „aktiv an öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen (Taylor; 1993, 117). Dieses Ideal einer freien Gesellschaft entspringt wiederum der Vorstellung, daß ein „Leben in Würde nur durch Selbstregierung möglich ist (Taylor; 1993, 125).

    Dieses Ideal der partizipatorischen Selbstregierung als höchstes politisches Gut liegt auch Benjamin Barbers Überlegungen zugrunde, der für eine Starke Demokratie ( 1994) eintritt. Die Theorie der starken Demokratie verbindet die Möglichkeit,

    „private Angelegenheiten in öffentliche, Abhängigkeit in Interdependenz, Uneinigkeit in Kooperation, Willkür in Selbst‐Gesetzgebung, Bedürftigkeit in Liebe und Knechtschaft in Bürgerschaft zu transformieren, mit dem Gedanken der Bürgerbeteiligung." (Barber; 1994, 103)

    Folglich versteht Barber unter starker Demokratie

    „partizipatorische Politik, wobei Uneinigkeit bei Fehlen eines unabhängigen [Handlungs‑]Grundes durch Teilhabe an einem Prozeß fortlaufender, direkter Selbstgesetzgebung und durch die Schaffung einer politischen Gemeinschaft aufgelöst wird, die es vermag, abhängige, private Individuen in freie Bürger und partikulare wie private Interessen in öffentliche Güter zu verwandeln." (Barber; 1994, 120–121)

    Das soll durch Institutionen ermöglicht werden, die es erlauben, daß „das ganze Volk sich zumindest in einigen öffentlichen Belangen und wenigstens über einen gewissen Zeitraum regiert" (Barber; 1994, 14). Sein „starkdemokratisches Programm zur Wiederbelebung der Bürgerschaft" ( Barber 1994, 290; vgl. Kapitel 7) ist folglich darauf angelegt, öffentliche Diskussion, gemeinsames Entscheiden und Handeln zu ermöglichen, und zwar mit Hilfe folgender Institutionen:

    Um „starkdemokratisches Sprechen, d. h. gemeinsame „Beratung, Festlegung der Tagesordnung, Zuhören, Einfühlung (vgl. Barber; 1994, 240, 241–257) zu institutionalisieren, bedarf es seiner Ansicht nach eines nationalen Systems der Nachbarschaftsversammlungen als lokale Foren zur Diskussion kommunaler, regionaler und nationaler Fragen, einer mit Hilfe moderner elektronischer Kommunikationstechniken (etwa durch Vernetzung der Nachbarschaftsversammlungen) hergestellten nationalen Bürgerversammlung sowie der öffentlichen und kostenlosen Bereitstellung staatsbürgerlicher Information.

    „Starkdemokratisches Entscheiden" (vgl. Barber; 1994, 257–280) wiederum erfordere die Einführung von Volksbegehren und Volksabstimmungen, die gegen demagogische Manipulationsversuche zu immunisieren seien, indem die verfügbaren Entscheidungsalternativen im Multiple‐Choice‐Format angeboten werden und Entscheidungen erst dann Gesetzeskraft erlangen, wenn sie in einem zweiten oder gar dritten Abstimmungsgang bestätigt werden. Personalentscheidungen, etwa bei der Vergabe kommunaler Ämter oder der Entsendung von Delegierten in Bürgerversammlungen, sollen vor allem per Los stattfinden, die Nachfolge im Amt soll im Rotationsverfahren bestimmt werden.

    „Starkdemokratisches Handeln" (vgl. Barber; 1994, 281–289) schließlich beinhalte einen allgemeinen Bürgerdienst im militärischen oder zivilen Bereich, den alle Bürger und Bürgerinnen absolvieren, sowie die verstärkte Durchführung von freiwilligen Nachbarschafts‑ und anderen Gemeinschaftsprojekten zur Verbesserung der Lebensqualität aller. Durch die Erfahrung solch gemeinschaftlichen Tuns im nationalen und lokalen Interesse soll genau das geschürt werden, was Taylor für die Lebensfähigkeit freier Regime voraussetzt, nämlich Patriotismus (vgl.  Taylor 1993, 111; Barber 1994, 285). Zu Barbers Vorstellung einer starken Demokratie gehört aber auch die Demokratisierung der Arbeitswelt, die, so Barber, „nicht nur die ökonomische Gleichstellung, sondern auch den staatsbürgerlichen Geist" (Barber; 1994, 288) fördere.

    Nicht enthalten in dieser langen Liste von Institutionen, deren Einführung Barber zur Aktivierung des Bürgersinns vorstellt, sind Wahlen. Ihnen trägt Barber auch nur implizit Rechnung, etwa wenn er feststellt, daß die von ihm vorgeschlagenen Institutionen „die primären repräsentativen Institutionen großer moderner Gesellschaften ergänzen und mit ihnen vereinbar sein" sollen (Barber; 1994, 234) oder daß die Feststellung der Repräsentanten im Parlament, wenn überhaupt, nur in geringem Umfang per Los stattfinden soll (vgl. Barber; 1994, 272). Aus diesen Überlegungen läßt sich schlußfolgern, daß zur Verwirklichung des Wertes, den Barber (stellvertretend für die kommunitaristische Tradition) mittels Demokratie erreichen will, nämlich partizipatorische Selbstregierung, Wahlen auf keinen Fall hinreichend und nicht einmal unbedingt notwendig sind.

    1.4.3.2 James Fishkin und deliberative Demokratietheorie

    Ebenso wie Barbers Vorstellungen von einer starken Demokratie käme auch Fishkins Auffassung von einer deliberativen Demokratie ohne Wahlen aus, wenn nicht rein faktisch eine Demokratie ohne Wahlen unrealisierbar erschiene. Das von ihm postulierte Ziel ist allerdings nicht die partizipatorische Selbstregierung möglichst vieler Bürger, sondern die Verbesserung der Qualität ihrer politischen Entscheidungen. Während es Barber darum geht, politische Verantwortung auf immer breitere Schichten der Bürgerschaft zu verteilen, und das weitgehend ungeachtet ihrer Kompetenz, sollen die Bürger nach Fishkin am politischen Geschehen nicht irgendwie, sondern aufgrund wohlerwogener Urteile partizipieren. Anders ausgedrückt: „in einer deliberativen Demokratie bestimmen die Bürger kollektiv die Grundzüge ihrer eigenen Politik, und zwar mittels überzeugender Argumente (Gutmann; 1993, 417). Dem zugrunde liegt die hauptsächlich von Habermas’ (1981 1992) Diskurstheorie ausgehende Idee, daß Demokratie „der Transformation und nicht einfach der Aggregierung von Präferenzen dienen soll und politische Entscheidungen nur dann legitim sind, wenn sie aufgrund von informierter Diskussion zwischen gleichberechtigten, freien Individuen zustande kommen (vgl. Elster; 1998, 1, 5), so daß erwartet werden kann, daß sie von einer „höherstufigen Intersubjektivität" (Habermas; 1992, 362) gekennzeichnet sind.²⁷

    In „Democracy and Deliberation" ( 1991) beschäftigt sich Fishkin damit, wie der Rahmen für eine solche Diskussion in modernen Massendemokratien institutionalisiert werden könnte, nachdem die „ideale Sprechsituation, die Habermas vorschwebt, „völlig utopisch sei (Fishkin; 1991, 36). Seiner Ansicht nach sind es vor allem drei Werte, die mittels Demokratie verwirklicht werden sollen, nämlich Gleichheit,²⁸ Nicht‐Tyrannei²⁹ und Deliberation.³⁰ Wahlen sind seiner Ansicht nach zwar ein mehr oder weniger angemessenes Mittel, um die Gleichheit der politischen Partizipation zu ermöglichen und Tyrannei abzuwenden; in Sachen Deliberation versagen sie aber völlig. Die Wähler seien weitgehend uninformiert und desinteressiert, weil die Rolle, die ihnen in den modernen Massendemokratien zuteil werde, viel zu klein sei, um ihren Ehrgeiz zur Deliberation, d. h. zur informierten Auseinandersetzung mit politischen Positionen, Kandidaten und Parteien, zu wecken. Er schlägt deshalb vor, „deliberative Meinungsumfragen" (deliberative opinion polls; Fishkin 1991, 81ff) einzuführen, die etwa den eigentlichen Vorwahlen zur Nominierung der Präsidentschaftskandidaten vorgeschaltet werden sollen, um normativen Einfluß auf die nachfolgenden Entscheidungen der breiten Wählerschaft zu nehmen.

    Mit der deliberativen Meinungsumfrage glaubt Fishkin, sowohl Tyrannei vermeiden als auch die Werte der politischen Gleichheit und der Deliberation verwirklichen zu können. Konkret stellt er sich vor, eine Zufallsstichprobe der Wahlberechtigten zu ziehen (d. h. jeder Bürger hat die gleiche Chance, dieser Stichprobe anzugehören) und diese Bürger dann mit den Kandidaten der bevorstehenden Wahlen zu konfrontieren, so daß sie sich im einzelnen über deren politische Positionen informieren und mit ihnen über ihre Programme diskutieren können. Dieses Verfahren führe dazu, daß nicht nur die Bürger besser informiert seien und damit auch fundiertere Wahlentscheidungen treffen können, sondern auch neue Issues durch die Diskussion mit den Kandidaten in den politischen Entscheidungsprozeß gelangen können. Da eine solche „deliberative Meinungsumfrage ein „Modell der Ansichten der Öffentlichkeit bilde, die diese vertreten würde, wenn sie eine angemessene Chance hätte, über die zur Diskussion stehenden Themen nachzudenken (Fishkin; 1991, 1), habe sie präskriptiven Charakter (vgl. Fishkin; 1991, 81).

    An dieser Stelle endet Fishkins Vorschlag; zu der Frage, ob ein System, in dem deliberative Meinungsumfragen durchgeführt werden, auf Wahlen verzichten kann, äußert er sich nicht. Wenn man allerdings seine Überlegungen konsequent weiterdenkt, gelangt man zu genau dieser Schlußfolgerung: Die Prozedur, eine repräsentative Gruppe von Bürgern tagelang einem politischen Crash‐Kurs zu unterziehen, steht in keinem Verhältnis zu dem, was damit bewirkt werden soll, nämlich daß diese exzellent informierten Bürger ihren unwissenden Mitbürgern einen guten, aber völlig unverbindlichen Rat für die bevorstehenden Präsidentschafts‐Vorwahlen geben können. Den Mitbürgern steht es dann frei, sich diesem qualifizierten Votum anzuschließen oder es zu unterlassen. Im ersten Fall liegt eine unnötige Verdopplung der Entscheidungsfindung vor; im zweiten Fall wird der für Fishkin zentrale Wert – Deliberation – durch die Wahlen vereitelt. Aus den Fishkinschen Prämissen folgt demnach logisch, daß seine informierten Bürger, die ebenso wie Geschworene gezwungen sind, sich mit der Sachlage aufrichtig auseinanderzusetzen, auch eine verbindliche Entscheidung treffen können müssen. Damit wären Wahlen im Sinne der allgemeinen und gleichen Stimmabgabe durch die Wählerschaft obsolet und sollten (immer noch: konsequenterweise) durch deliberative Referenden ersetzt werden.³¹

    1.5 Abschließende Analyse

    Freie, geheime, allgemeine und gleiche Wahlen sind aus modernen Demokratien nicht wegzudenken: „without periodic elections […], we would simply not have democratic order as it has come to be understood" (Brennan und Lomasky; 1993, 1). Selbst die Theoretiker, die Wahlen eine untergeordnete oder sogar kontraproduktive Bedeutung bei der Verfolgung der Werte unterstellen, die durch Demokratie verwirklicht werden sollen, tragen diesem Faktum Rechnung. Sie gehen davon aus, daß die Bürger erstens Demokratie mehrheitlich befürworten, zweitens Demokratie mit regelmäßig stattfindenden Wahlen identifizieren und sich folglich der Abschaffung von Wahlen energisch widersetzen dürften. Dieser kontrafaktisch‐hypothetischen Argumentation zufolge könnte man vermuten, daß das regelmäßige Abhalten von Wahlen hauptsächlich dazu dient, die Systemunterstützung seitens der Bürger zu bewahren und somit für die Stabilität des demokratischen Systems zu sorgen.

    Während für die Bürger Demokratie ohne Wahlen offenbar undenkbar ist und, mehr noch, Wahlen die Essenz von Demokratie auszumachen scheinen, sind Demokratietheoretiker darüber differenzierterer Meinung. Das liegt daran, daß sie zwischen Begriff und Auffassung von Demokratie unterscheiden, nämlich einerseits zwischen Demokratie als Methode oder Verfahren, bei der die Kandidaten für öffentliche Ämter um die Stimmen der Wahlberechtigten konkurrieren, und andererseits Demokratie als politischem Instrument zur Verwirklichung bestimmter Werte. Während die Bürger Demokratie vor allem mit regelmäßig stattfindenden Wahlen gleichsetzen, qualifiziert sich aus Sicht vieler (normativer) Demokratietheoretiker ein politisches System nur dann als Demokratie, wenn die demokratischen Verfahrensregeln durch weitere Institutionen ergänzt werden, die der Verfolgung von als wertvoll erachteten Zielen dienen. Erst durch die Berücksichtigung dieser Ziele erhalte Demokratie als politisches System den moralischen Wert, durch den sie anderen Formen der politischen Ordnung überlegen ist und damit das „Lob verdient, das mit der Bezeichnung „demokratisch nahezu automatisch erteilt wird.

    Es scheint nun, daß die Bedeutung von Wahlen abnimmt, je anspruchsvoller die Ziele sind, die mittels Demokratie verwirklicht werden sollen, bis sie schließlich nur noch als faktische Notwendigkeit Berücksichtigung finden, an der auch ein „anspruchsvoller" Demokratietheoretiker nicht vorbeikommt. Man könnte gar den Eindruck gewinnen, daß es sich bei Wahlen im Grunde um ein demokratiehinderliches Instrument handelt, das seine Berechtigung lediglich als Garant des öffentlichen Friedens angesichts der unreflektierten Demokratievorstellungen theoretisch ungebildeter Bürger findet.

    Dieses Ergebnis zu akzeptieren setzt voraus, daß man sich dem Plädoyer für eine „anspruchsvolle" Demokratie anschließt. Die Ziele, die sich dahinter verbergen, sind aber nicht unumstritten, ebensowenig die Mittel, die zur Verfolgung dieser Ziele vorgeschlagen werden. Bevor man also über Wege nachsinnt, Wahlen bürgerverträglich abzuschaffen, lohnt es sich, noch einmal systematisch über Ziele und Mittel, Werte und Verfahren der Demokratie nachzudenken (siehe dazu auch Mackie 2003). Dies soll hier abschließend geschehen, und zwar in Form einer konstruktiven Analyse der Gemeinsamkeiten, die die verschiedenen hier diskutierten Demokratieauffassungen aufweisen.

    Was die vorgestellten Autoren und die demokratietheoretischen Strömungen, die sie vertreten, eint, ist die Ablehnung ungezügelter Machtausübung, die von Schumpeter „Diktatur, von Taylor „Despotie und von Fishkin „Tyrannei genannt wird. Ungezügelte Machtausübung bedeutet nicht notwendigerweise tatsächliche Willkürherrschaft, unter der die essentiellen Interessen von Individuen ohne Not verletzt werden; sie kennzeichnet auch die Herrschaft des benevolenten Diktators, der seine Macht „nur dazu verwendet, um seine Vorstellung davon, was das beste für „sein Volk" ist, durchzusetzen (vgl. Pettit; 1997, 22). Ungezügelte Machtausübung ist somit dadurch gekennzeichnet, daß die Betroffenen potentiell ein Leben unter Zwang führen müssen, indem sie jederzeit und in allen Bereichen des Lebens nicht gerechtfertigten, weil ihren fundamentalen Interessen

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