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Nina X: Roman
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eBook372 Seiten5 Stunden

Nina X: Roman

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Über dieses E-Book

Nina X ist die Geschichte einer außergewöhnlichen jungen Frau, die von Geburt an in einer maoistischen Kult-Kommune in "ideologischer Reinheit" erzogen wird und dann in unsere moderne Welt flieht. Über 20 Jahre lang hat Nina X keine Bücher, keine Spielsachen und keine Privatsphäre. Ihre engste emotionale Beziehung unterhält sie zu den Vögeln vor ihrem Zimmerfenster, wenn sie mutig genug ist, die Gipsplatte zu entfernen, die es verdeckt. Nina hat das kleine Haus in London noch nie verlassen. Sie hat nie ein anderes Kind getroffen. Sie hat keine Mutter und keinen Vater; sondern einen Führer und vier Genossinnen. Der allmächtige Führer nennt sie Das Projekt; sie wird von den "falschen Göttern des Kapitalismus" und vom "Kult um das Ich und das Selbst" ferngehalten. Der Führer verlangt von ihr, alles in Notizbüchern festzuhalten, um ihre Gedanken verfolgen zu können; zwingt sie, die Einträge so lange zu überarbeiten und umzuschreiben, bis sie seiner Vorstellung entsprechen. Ihre eigenen Worte werden ausgelöscht, wieder und wieder …Doch das war damals. Jetzt ist Nina in Freiheit, und alle Regeln haben sich verändert. Sie muss sich immer wieder sagen, dass jetzt alles das Gegenteil von dem ist, was sie gelernt hat – und trotzdem ergibt die Welt immer noch keinen Sinn. Ein geheimnisvoller Roman mit einer exzentrischen, unzuverlässigen Protagonistin, die unsere Welt in einem ganz anderen Licht sieht.
SpracheDeutsch
Herausgebermarixverlag
Erscheinungsdatum25. Okt. 2019
ISBN9783843806213
Nina X: Roman

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    Buchvorschau

    Nina X - Ewan Morrison

    Kladde #2422018

    Nina hat eine Liste mit Dingen, die auszuprobieren sind, und das ist viel zu aufregend für Nina, also muss sich hingelegt werden, aber das darf nicht auf dem Schotter oder auf dem Weg passieren, denn Ninas erstes Haus ist nicht ihr Privatbesitz, sondern es ist das Charity House. Nina ist sehr dankbar, eine Tür zu haben und das Recht hinauszugehen, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen. Es gibt viele wichtige Dinge, die so bald wie möglich zu erledigen sind:

    Alle Arten von Schokolade essen.

    Ein Flugzeug fliegen.

    Kenntnisse über das Ausruhen erwerben.

    Einen Supermarkt aufsuchen.

    Lippenstifte in allen Farben kaufen.

    Alles über Geld lernen.

    Heiraten.

    Lernen, wie man mit einer anderen Person tanzt.

    Das Charity House riecht nach Kleber und alten Socken und frischer Farbe. Der braune Teppich ist das Beste, und Nina mag es, auf seinem Luxus zu liegen. Am Fenster sind noch Fingerabdrücke von den letzten Flüchtlingen. Nina nimmt an, dass es eine Mutter und ein Kind waren, weil Nina einen zerbrochenen Buntstift und einen Krümel Süßes gefunden hat. Es gibt hier drei Zimmer, und alle sind nur für Nina, und eins davon hat sogar einen Tisch für einen Fernseher, aber Nina ist noch nicht bereit, also hat Nina den Tisch ans Fenster gerückt, um Menschen zu betrachten, und es gibt Tausende. Nina ist froh, wieder ein Fenster zu haben.

    Eine lebende Berühmtheit treffen.

    Eine Affäre haben.

    Speisen aus anderen Ländern probieren, aber nichts Chinesisches.

    Eine Ärztin sein.

    Alle Worte in ihr Gegenteil verkehren.

    Sich täglich daran erinnern, dass alles gut ist und dass alles, was vorher war, Lügen waren.

    Nina sitzt da und starrt hinaus, aber Nina darf das nur durch die Jalousien tun. Nina darf nicht gesehen werden, falls ein Fotograf ihr Gesicht stehlen will.

    Lernen, wie man lächelt, ohne anderen Angst zu machen.

    Einen besten Freund haben.

    Keine Schwäne mehr falten.

    Die 23 Arten, ihn zu verwöhnen, auswendig lernen.

    Vögel jedweder Art füttern und ihre Namen lernen.

    Einige der Dinge, die Nina verpasst hat, kann man nicht nachholen, zum Beispiel mit anderen Kindern spielen, denn das sind völlig Fremde. Nina wird das nicht nochmal in der Nähe des Charity House versuchen, denn sie weinen, und Nina hatte Glück, dass die Eltern nicht bei den Bullenschweinen angerufen haben. Ab sofort dürfen sie nicht mehr Bullenschweine genannt werden. Sie sind das Gegenteil von Schweinen. Charity Sonia nannte sie die Polizei.

    Charity Sonia ist von Sanctuary, das ist eine Organisation in einem Telefon, die jeden Tag Frauen rettet, und sie hat ein weiches Gesicht mit bemalten Lippen und lockigen braunen Haaren und großen, dunklen Augen und sie ist keine Sklavin, riecht aber nach süßlichem Parfüm und Zigaretten, die sie aufgeben will, weil sie über einen freien Willen verfügt. Nina wollte sie Genossin Sonia nennen, aber sie sagte, dass das ein bisschen seltsam wäre heutzutage, wenn Nina also versucht ist, Genossin zu sagen, radiert Nina es einfach aus und ändert es in Charity. Das lässt Nina lachen, aber das sieht niemand, weil es nur in Ninas Kopf stattfindet.

    Dinge, an denen Nina wirklich arbeiten muss:

    Nach draußen gehen, ohne die Angst zu haben.

    Menschen nicht packen, ziehen oder sich an ihnen festkrallen.

    Augenkontakt herstellen.

    Sich nicht immer verstecken, wenn jemand an der Tür klingelt oder das Licht anmacht.

    Alleine essen.

    Nicht mit hängenden Schultern herumlaufen, weil das als defensive Geste gewertet wird.

    Sich jeden Tag waschen.

    Sich anziehen, bevor sie zur Tür oder ans Fenster geht.

    Sich erinnern, dass es keine Strahlung vom Himmel gibt, abgesehen von Blitzen, und dass diese selten sind und vor allem am Äquator auftreten, wo die vorkapitalistischen Menschen leben.

    Ohne Unterbrechung schlafen.

    Lernen, Ich zu sagen, statt immer nur Nina, weil die Leute es als ein Zeichen für Zurückgebliebenheit werten, wenn man sagt, Nina will dies oder Nina will jenes, man sollte stattdessen sagen, ich mag dies und ich will das. Und man darf auch nicht zurückgeblieben sagen.

    Charity Sonia sagt, Nina braucht nicht mehr zu schreiben, weil niemand sonst in der Welt zwanzig Jahre lang ein Beicht-Tagebuch schreiben müsse und dass es ja wirklich eine Art Folter gewesen sein muss. Sie sagt, es könnte ein Zeichen sein, dass es Nina besser geht, wenn Nina ihre eigenen Erfahrungen für sich behält, und dass Nina das jeden Tag üben könnte, indem sie Ich, Ich, Ich sagte. Es sei nicht notwendig, es aufzuschreiben.

    Sie berührt Ninas Kopf und sagt, Du Armes.

    Aber Nina muss schreiben, denn wenn Nina nicht schreibt, wird Nina niemals aus ihren Fehlern lernen.

    Versuchen, alles anders zu sehen.

    Schlecht ist gut. Der Himmel tötet nicht.

    Charity Sonia kam wieder zu Besuch und stand in dem Zimmer mit den Stühlen, und sie sagte, Hast Du geübt, draußen zu sein, Nina? Und Nina sagte, dass Nina gelesen habe. Nina erzählte Charity Sonia, dass Nina ganz aufgeregt war, in Freiheit zu sein, weil Nina den vierten Comic von Der Zauberer von Oz finden könnte, denn Nina hat die ersten drei Teile hundertachtundvierzig Mal gelesen, denn abgesehen von den Büchern der großen Väter der Revolution und Ninas beiden Lehrbüchern und den zwei Ausgaben von National Geographic war das alles, was im Kollektiv erlaubt war. Und Nina hat nie herausgefunden, wie die Geschichte endet, denn der dritte Comic hörte auf, als Dorothy und ihre Freunde von der Bösen Hexe des Westens gefangengenommen wurden.

    Charity Sonia lächelte und sagte, sie habe nicht gewusst, dass es einen Comic zu Der Zauberer von Oz gab, da sie daran immer als Film dachte, also an einen großen Fernseher in einem dunklen Raum mit Fremden, die hinter einem essen. Charity Sonia war überrascht, dass Nina den Film nie gesehen hatte, da er immer zu der Zeit laufe, wenn die Sklaven des Kapitalismus ihren Wohlstand ausstellen und alle darauf hoffen, dass Schnee fällt.

    Nina fragte, Entkommen sie der Hexe und schafft es der Zauberer, Dorothy zurück nach Kansas zu zaubern, wie er versprochen hat? Und nimmt sie den Löwen mit? Denn der ist Ninas Liebling.

    Und Charity Sonia lächelte und sagte, wenn sie Zeit habe, würde sie versuchen, den letzten Comic zu finden, aber es wäre vermutlich leichter, den Film aufzutreiben, und vielleicht würde das auch helfen, Nina von A nach B zu transportieren, denn ihre Kinder hörten immer auf, im Wagen herumzuschreien, wenn sie einen Film anmachte. Und Nina war sehr aufgeregt und konnte nicht sprechen, aber das lag eigentlich daran, dass Nina nach der Erfahrung im Krankenwagen Angst hatte im Auto zu fahren. Doch Nina war so aufgeregt, das Ende von Dorothys epischer Geschichte zu erfahren, dass Nina Genossin Charity Sonia küsste, aber das war nicht angemessen. Nina spürte erneut ein Lochgefühl, als Charity Sonia Nina dazu brachte, ihre Hand loszulassen und gehen wollte.

    Charity Sonia sagte, Ich wollte noch fragen, ob Du Dich selbst einschließen kannst? Kannst Du das gerade mal mit den Schlüsseln tun, als Test? Es ist nicht so, dass irgendwer kommt, um Dich zu holen, nein, glaub das nicht, es geht nur darum, dass alle das tun. Ich weiß, dass Du Angst vor abgeschlossenen Türen hast, aber Du hast den Schlüssel. Ich möchte einfach nur sehen, dass Du weißt, wie es geht, Nina. Ich habe auch einen Schlüssel, nur für den Fall.

    Nina stand auf der einen Seite der Tür und Charity Sonia auf der anderen, und Nina drehte den Schlüssel, wie man es ihr gesagt hatte, und dann war Charity Sonias Schatten im Glas, und sie sagte, Es ist in Ordnung, siehst Du, ich bin noch hier, Du hast meine Nummer im Telefon, das ich Dir gegeben habe, ruf mich einfach an, wenn Du mich brauchst.

    Das bedeutet, Nina muss tapfer sein und das Telefon benutzen. Es versetzt einem keine elektrischen Schläge und kocht einem nicht die grauen Zellen weich. Und Nina muss keine Angst vor Genosse Chen haben, da er ein Lügner war und seine Welt jetzt auf den Kopf gestellt wurde, weil gegen ihn Haftbefehl erlassen wurde durch die Bullenschweine, die Polizisten genannt werden. Und er wird seine gerechte Strafe bekommen, und irgendwann wird Nina ihm vergeben.

    Nina muss die Liste erweitern.

    Du bist nicht einsam, sondern nur allein, und das ist normal, wenn man in Freiheit lebt.

    Lernen, ohne andere Menschen in anderen Zimmern zu leben, abgesehen von jenen hinter den Wänden. Das sind Nachbarn, und einige darunter sind krank, und andere sind verletzliche Erwachsene. Es ist also besser, wenn Nina nicht nochmal klopft.

    Lernen, sich auf Dinge zu konzentrieren, die weiter weg sind als die Mauern.

    Es gibt keine Spione, die das Essen vergiften.

    Nina muss die Menschen studieren, damit sie nicht glauben, Nina habe Lernschwierigkeiten.

    Dinge, die Nina gelernt hat:

    Heute ist der 30. September. Die Sonne steht hoch am Himmel und London wurde nie von Atombomben zerstört. Ein neuer Präsident ist in einen Krieg gegen alles gezogen, was Terror verursacht. Eine neue Hunderasse ist erfunden worden, auf die Menschen nicht allergisch reagieren, und eine neue Dinosaurierart ist in Wales ausgegraben worden. Eine Mutter im Bikini mit mitgenommenem Körper hat vierzigtausend andere Mütter mit mitgenommenen Körpern dazu inspiriert, diese mit Fremden in einem Ding namens On Line zu teilen, und es gibt kostenlose Zeitungen vor jeder Haustür. Nina ist achtundzwanzig Jahre alt, und heute ist Ninas zweiter Tag in Freiheit, denn letzte Woche war reine Abwicklung, und wenn man nicht weinen kann und mit sich selbst so spricht, als wäre man jemand anders, dann nennt man das Dissoziation, und auch das ist eine natürliche Reaktion auf den Horror, den Du erlebt haben musst.

    Freiheit hat so viele Gerüche, dass Nina entweder vor Freude krank ist oder einfach nur krank. Freiheit ist sehr laut und ein bisschen verschwommen. Nina weiß nicht, was sie essen soll, weil das Essen im Sanctuary seltsam riecht und aus Plastik kommt. Nina sollte nicht mehr schreiben, weil es bedeutet, dass Nina an Selbstverhöre gewöhnt ist.

    Nina muss üben Ich zu sagen. Und es nicht wieder auszuradieren.

    Ich bin Nina. Nina ist Ich.

    Kommunismus existiert nicht mehr und wird nie wiederkommen.

    Beginne Sätze immer mit Ich. Setze Dich selbst an erste Stelle.

    Nina wird ein Leben lang brauchen, um all die Wörter umzuwandeln, und mir sind 28 Jahre von Nina gestohlen worden.

    Ich, ich, ich, ich.

    Mir, mir, mir, mir, mir.

    Ich muss noch zu vielen Tagen etwas schreiben. Am Tag vor dem Charity House und nach Ninas verlorenen Krankenhaustagen hat Charity Sonia versucht, mich dazu zu bewegen, dass ich zu dem Schild gehe, auf dem Park House Women’s Hostel steht, und Charity Sonia wusste nicht, weshalb ich hyperventilierte und Ninas Füße anstarrte und zitterte und sagte, Nina will nicht zurück zum Park House Women’s Hostel oder nochmal ins Krankenhaus, nie wieder.

    Ausradieren. Nochmal neu.

    MEINE Füße anstarrte und zitterte und sagte, Nina will nicht.

    Ausradieren.

    Ich will nicht.

    Es ist zu schwer, Ich und Mein zu schreiben. Nina kann das nicht. Ich dreht sich völlig um das Selbst, und das Selbst wurde verbannt, und Nina muss zuerst ein Selbst bekommen.

    Nina wird wieder Nina schreiben und vor dem Experiment im Park House Women’s Hostel anfangen. Fang noch mal mit dem Autoexperiment an.

    Nina wurde aus dem Krankenhaus zum ersten Mal mit einem Wagen abtransportiert, und das war etwas anderes als ein Krankenwagen oder ein Polizeiauto, wie es in den verlorenen Tagen geschehen ist. Ein normales Auto ist nicht dazu da, um den Planeten zu zerstören, wie Genossin Ruth es gesagt hat, stattdessen ist es wie ein Zimmer mit einer Tür für jede Person, und jeder muss vorne ein Fenster anschauen. Von innen kann man nicht sehen, wie die Räder sich bewegen, man hört nur ein Rumoren, und wenn man die Tür öffnet, weil man versuchen will, den Boden zu berühren, dann ist das sehr gefährlich, und Du darfst das niemals wieder probieren, nie.

    Eine weitere Entdeckung war, dass es ebenfalls gefährlich ist, Ninas Kopf zwischen die Knie zu nehmen, um Panikattacken aufzuhalten, denn Nina ist eine erwachsene Frau und recht groß und muss ihren Sicherheitsgurt anbehalten. Charity Sonia hat den Wagen angehalten, weil sich Nina auf dem Standstreifen übergeben musste. Sie hielt Ninas Haare zurück und fragte, was Nina heute gegessen hatte, da nur Schleim hervorkam und Nina antwortete ihr, sie habe fünf Zuckerwürfel aus dem Krankenhaus gegessen, weil der Geruch der neuen Dinge namens Speck und Porridge Nina krank machte. Nina wusste die exakte Anzahl der Zuckerwürfel, weil Genosse Chen Nina dazu veranlasst hatte, stets alles aufzuschreiben, was Nina gegessen hatte, und das war zu jener Zeit, als Nina Das Projekt genannt werden musste.

    Charity Sonia hatte Emotionen im Gesicht und fragte, Warte mal, mein Gott, ist das alles, was Du im Krankenhaus gegessen hast? Und dann schüttelte sie ihren Kopf und murmelte etwas über Schwestern und Ärzte.

    Dann drehte sich Ninas Kopf mit dem Lärm der Räder, dann sollte Nina die Augen öffnen, weil Charity Sonia vor dem Park House Women’s Hostel angehalten hatte, und das war der erste Ort in Freiheit, in dem Nina leben sollte. Da war ein Bild von einem Regenbogen auf Glas, das ein Kind gemalt hatte, und ein Faschist dahinter mit einem Shirt, auf dem stand Security.

    Charity Sonia sagte, dass es hier sicher sei und ein schöner, freundlicher Ort, an dem sich Nina nach dem ganzen Trauma von Ninas Flucht erholen könne, und sie sagte, dass es dort viele Frauen gab, die wie Nina waren, aber es roch nach zu vielen Parfüms und Bleiche und seltsamem Essen und Schweiß, und die Frauen waren überhaupt nicht wie Nina. Eine hatte lange, lockige Haare und einen Pulli voller Abzeichen, und sie nannte Nina stets Liebes und berührte Ninas Arm. Die Frau mit den Abzeichen versuchte, Nina an die Hand zu nehmen, und zeigte Nina ein Zimmer mit drei Betten, aber Nina schrie, dass Nina nicht hineingehen wollte, weil es wie zu der Zeit war, als Nina und die Genossinnen Ruth und Uma und Zana in demselben, kleinen Raum lebten. In dem Zimmer waren zwei Frauen, die über ihren Köpfen dunkle Laken hatten, in die Schlitze für die Augen geschnitten worden waren, und die Frau mit den Abzeichen lächelte und streichelte Ninas Arm und sagte, Das ist ein Asyl, Liebes, hier sitzen alle im selben Boot. Und sie flüsterte zu Charity Sonia, Hat sie bestimmte kulturelle Bedürfnisse?

    Nina sah die Frauen mit den Laken über den Köpfen an und hatte Angst und sagte, Dies ist kein sicherer Ort. Solche Frauen haben ein falsches Bewusstsein.

    Das Lächeln der Frau mit den Abzeichen verwandelte sich in Zähne, und ihre Augen zogen sich sehr eng zusammen.

    Nina zeigte auf die Frauen mit den Laken und sagte, Die unterdrücken alle Frauen und sind die Huren der Religion.

    Die Frau mit den Abzeichen sagte, Also eine solche Sprache würde ich nicht benutzen. Und sie fragte Charity Sonia, Steht sie unter Schock, wurde sie untersucht? Dann flüsterte sie, Ist sie gewalttätig? Die Frauen mit den Lakenaugen starrten Nina an und griffen einander fest, und im Korridor standen kleine gottesgläubige Sklavenkinder auf den Stufen und blickten Nina mit angsterfüllten Augen an, sodass die Frau mit den Abzeichen Nina zurück zu einem Ort führte, der Büro hieß. Innen waren Bilder an den Wänden, die Frauen mit zerschnittenen und blutigen Gesichtern zeigten, unter denen Zahlen zu sehen waren, wie im Büro der Bullenschweine. Nina konnte sich aus dem Griff befreien und rannte los, doch die Tür war verschlossen. Also schlug Nina gegen das Glas und es bekam einen Riss.

    Die Frau mit den Abzeichen sagte immer wieder, Okay, Okay, beruhige Dich, beruhige Dich, und sie sagte zu Charity Sonia, dass es vielleicht noch nicht die beste Lösung sei, und sie sagte die Wörter Gesundheit und mental, und Nina weiß, dass wenn Frauen so flüstern, dass es dann immer um Dich geht.

    Charity Sonia nahm Nina mit zurück zum Auto, und Nina fragte, ob sie sie bitte zurück ins Kollektiv fahren könne, da Freiheit ein Fehler war. Charity Sonia sprach über ein Gerät in ihrem Ohr mit anderen Menschen und bat Nina, Ninas Beine zu umarmen und einfach zu atmen, bitte einfach atmen, und sie fuhr durch Kurven mit vielen Lichtern, sodass Nina auf sie fiel und dann auf die andere Seite gegen die Tür. Sie sprach den Namen des Mannes aus, der an Holz genagelt worden ist, und sagte: Es tut mir leid, Nina, aber wir müssen Dich zurück ins Krankenhaus bringen, es gibt heute Nacht keinen anderen Ort. Aber Nina will nicht ins Krankenhaus, Nina will zurück in die Zeit, als jeder Tag gleich und Nina klein war und immer noch Das Projekt genannt wurde.

    Kladde #672002

    Das Projekt hat zugesehen, wie man ein Stück Papier faltet, erst in die eine Richtung, dann in die andere, dann wenden und nochmal falten. Wenn man das zwanzig Mal tut, ist es wie die Revolution, sagte Genossin Uma. Man beginnt mit einem leeren Blatt, und mit Wissenschaft und Sorgfalt wird Perfektion daraus. Genossin Uma hielt es hoch, damit Das Projekt es sehen konnte, und es war sehr hübsch und hieß Schwan, und es war Origami, das eine große Kunstform aus dem weit entfernten Land unseres großen Anführers ist.

    Das Projekt fragte, Warum gibt es Schwäne? Und Genossin Uma lächelte und sagte, Warum hast Du nicht stattdessen gefragt, Kannst Du mir beibringen, wie man das macht? Oder: Kann ich damit spielen? Wie es ein normales Kind tun würde. Dann wurde Genossin Uma nachdenklich und sagte, Du hast noch nie einen Schwan gesehen, stimmt’s Blümchen? Nein, ich nehme an, das hast Du nicht.

    Warum?, fragte Das Projekt.

    Genossin Uma sagte, Nun, sie leben in Parks mit Seen und Bäumen, und wir können von hier aus keine Bäume sehen, einige existieren vielleicht noch da draußen, aber das bezweifele ich. Die meisten sind zerstört worden.

    Und Das Projekt wusste nicht, weshalb Genossin Uma wegschaute, und sie hatte schwere Augensäcke von der Nachtwache.

    Das Projekt fragte Genossin Uma, ob das Ding, das aus der Rinne am Fenster nach oben wuchs, ein Vogelbaum sei, und Das Projekt erfuhr, dass es nur ein großes Unkraut war, das aus Flugsamen gewachsen ist, und der Verstand ist wie ein Garten und muss jeden Tag gejätet werden. Dann seufzte Genossin Uma und sagte, Es gab einst viele Bäume, Bananenbäume, Kokospalmen, Apfelbäume, Zitronenbäume. Und sie zeigte ein Bild, das nicht verbrannt worden ist, da es sicher in meinem liebsten National Geographic verwahrt war, das nun auseinanderfällt.

    Dem Projekt wurde gesagt, dass diese Dinge einst Nahrung waren. Doch die Faschisten haben die Bäume getötet und das Land verbrannt und die Himmel verdunkelt, weil Das Projekt viele Bilder von Atombomben gesehen hat und Menschen, die von der Strahlung an einer Wand in Schatten verwandelt wurden, und dann sind alle Vögel gestorben, und es verhungerten alle, bis auf einige Überlebende, und das ist der Grund, weshalb wir jetzt so leben.

    Das Projekt fragte, Aber warum leben die Faschisten noch immer da draußen?

    Und Genossin Uma sagte, Es ist die einzige Welt, die sie kennen, sie haben sich an den Egoismus und das Leiden gewöhnt.

    Das Projekt fragte, Aber warum können wir ihnen nicht helfen und ihnen die Antwort beibringen?

    Und Genossin Uma sagte, Sie würden nicht zuhören. Manchmal ist es gnädiger, die Menschen in ihrer Lüge leben zu lassen.

    Das Projekt sagte, Aber warum?

    Genossin Uma lächelte und wuschelte Das Projekt durchs Haar und sagte, sie wolle Das Projekt fest umarmen, aber dass solche Handlungen verboten seien, seit Genossin Jeni mit ihren roten, langen Haaren Das Projekt zu oft in den Arm genommen und gegen ihren großen Busen gedrückt habe, weil das sonst wie bei den Hippies ist und wir kein Kollektiv der freien Liebe sind, also umarmte Genossin Uma Das Projekt nicht und nannte es stattdessen das Warum-Kind.

    Das Projekt fragte, Warum?

    Weil andere Kinder immer nur spielen wollen und Das Projekt will immer nur fragen, Warum, warum, warum. Darum halt. Genossin Uma sagte, aber vielleicht würde Das Projekt jetzt nicht mit Kindern spielen, da Das Projekt fast schon größer als Genossin Uma war und bald eine Frau werden würde, und die Welt ist ein fürchterlicher Ort für Frauen. Das Projekt starrte auf ihre wachsende Brust und fragte, Warum ist sie so fürchterlich für Frauen?

    Das Projekt sah, dass Genossin Uma traurig wurde, also sagte Das Projekt, Okay, erzählst Du mir nochmal, wie Du der Unterdrückung entkommen bist und wie Genosse Chen Dich in seinem großen Herzen versteckt hat und wir die Ausgewählten geworden sind?

    Genossin Uma lächelte und sagte, Aber diese Geschichte kennst Du doch inzwischen auswendig, warum schreibst Du sie nicht in Dein Tagebuch? Und das machst Du morgen, denn Du musst müde sein. Pscht jetzt, Zeit zum Schlafen.

    Das Projekt sagte, Aber Das Projekt will noch nicht schlafen.

    Genossin Uma atmete tief und sagte, Warum willst Du nie schlafen?

    Und Das Projekt lachte, Warum, warum, warum. Siehst Du, Du hast es auch gesagt!

    Genossin Uma kitzelte Das Projekt und sagte, Ach Du!

    Genossin Uma ist die beste Schreiblehrerin der Welt, und Das Projekt mag sie am liebsten, weil sie so klein und rund ist wie ein Munchkin von Oz und von den Leiden der Menschheit viele graue Haare hat. Wir sollen aber niemanden am liebsten haben oder der beste in irgendwas sein, weil es dann jemand anderen zum schlechtesten macht, und dann setzt sich der Kreislauf der Ungleichheit wieder in Gang, und Menschen werden verbrannt. Ich wollte Genossin Uma als meine einzige Lehrerin haben, aber dann hat Genossin Jeni Genossin Uma beschuldigt, hinter dem Rücken der anderen zu handeln und Begünstigung Vorschub zu leisten, und das Komitee zerstritt sich. Jetzt kommt Genossin Uma nur noch einmal die Woche in mein kleines Mansardenzimmer, obwohl die anderen Genossen völlig vergessen, mich zu unterrichten.

    Am Ende des Unterrichts sagte Das Projekt, Kannst Du mir nochmal zeigen, wie man einen Papierschwan faltet? Bitte, bitte, bitte. Das Projekt hatte es fünf Mal versucht, aber die Versuche waren alle nutzlos und gescheitert, also gab Uma Dem Projekt ihren perfekten Schwan, denn Privatbesitz existiert nicht und Neid ist verboten.

    Ich vermisse die Genossen Eli, Tobias und Louise, aber Genossin Louise musste gehen, weil sie eine kapitalistische Hure ist und ihre Verbindungen zu ihren bourgeoisen Kindern nicht aufgeben wollte, weshalb sie vor zwei Jahren ausradiert worden sind.

    Das Projekt beobachtete durch das Mansardenfenster lange Zeit Tauben. Sie haben sich aus Zweigen ein Haus gebaut und kacken unter der Traufe, was bedeutet, dass es noch Bäume geben muss. Es sind fünf, so wie wir fünf sind, und ich gebe ihnen Namen. Die größere, graue heißt Ho. Die mit dem weißen Fleck ist Cornflake. Die mit dem knorrigen Fuß ist Gramsci. Die, die Eier legt, heißt Rosa Luxemburg. Die sehr kleine und flauschige heißt Fluffy.

    Vier Stockwerke sind ein weiter Weg für ein Haus aus Zweigen, und Das Projekt macht sich Sorgen um die Eier, wenn sie geschlüpft sind, denn es kam schon vor, dass ein Vogelbaby schlüpfte und zu fliegen versuchte, dann aber herunterfiel und verschwand. Am nächsten Tag saß ein ekeliger schwarzer Vogel auf dem Boden und fraß etwas, und Das Projekt sah es durch einen Spalt in den Brettern in der Küche, und es war das Gefieder und Blut und die Knochen des Babys, und Das Projekt schrie, bis Genossin Uma alles fortschaffte.

    Das Projekt darf nie wieder daran denken, und jetzt machen die Tauben lustige Tänze, und ich machte den Tanz nach, bei dem man seinen Kopf und Hintern vorstreckt, um die anderen Genossen zum Lachen zu bringen. Genossin Ruth lacht nie, weil sie wie ein Weberknecht und immer schroff ist, und ich musste aufhören zu tanzen, weil Genossin Jeni deswegen kichern musste und sie Kaffee auf sieben Pamphlete vergoss, die dadurch unbrauchbar wurden. Genosse Chen tadelte sie nicht, aber nahm sie mit in das eine Zimmer mit der Tür und erteilte ihr eine besondere Lektion mit heruntergelassener Hose, um ideologische Kontaminationen zu entfernen. Genosse Chen gab Dem Projekt heute keinen Goldstern, aber wenn Das Projekt sich weiter auf unsere große Aufgabe konzentriert, wird Das Projekt gewiss morgen einen verdienen. Das Projekt kann sich an sonst nichts erinnern, denn das war genug für einen Tag.

    Anmerkung von Genossin Ruth: Wir danken Dem Projekt für ihre Aufzeichnung. Dennoch muss sie ihre Tage mit einer größeren, konkreten Klarheit festhalten, andernfalls können wir die Wirksamkeit des Experiments nicht beurteilen. Andere Genossen müssen sich ebenfalls die Zeit nehmen, um das zu lesen und ihr zu helfen, ihre inkorrekten Wörter auszuradieren. Diese Aufgabe muss von allen gleichermaßen wahrgenommen werden, so wie das Kopieren der Pamphlete für die anstehende Demonstration. Genossin Ruth fordert, dass Genossin Uma aufhört, Papier für Origami zu verschwenden, da dies eine reaktionäre Freizeitbeschäftigung aus den Vier Alten ist.

    Anmerkung von Genossin Uma: Genossin Uma bittet um Verzeihung, betont aber, dass das Papier aus dem Altpapier stammte, wir haben es also recycelt. Genossin Uma bringt die Sorge über die Sicherheit des obersten Fensters zum Ausdruck, von dem Das Projekt gern die Vögel beobachtet. Können wir bitte die Schlösser überprüfen? Genossin Uma bittet auch um die Erlaubnis des Kollektivs, dass Das Projekt den Lagerraum in der Mansarde weiterhin als Lernzimmer benutzen darf. Können wir das Mansardenzimmer so tünchen, wie wir es mit allen anderen Zimmern gemacht haben? Genossin Uma denkt außerdem, dass wir weiter versuchen sollten, die Erinnerung an den kleinen toten Vogel auszuradieren, der Das Projekt noch immer betrübt, so wie wir es mit unseren wöchentlichen Ausradierungen in ihrer Sprache machen.

    Genossin Jeni war nicht bei der Nachlese, lässt aber durch Genossin Uma revolutionäre Grüße übermitteln und bittet, dass Das Projekt aufhört, eine so freche, kleine Petze zu sein. Genossin Jeni verspricht außerdem, mehr Zeit auf das Unterrichten Des Projekts zu verwenden und aufzuhören, reaktionäre, feminine Wörter zu gebrauchen.

    Anmerkung von Genosse Chen: Die Aufteilung des Unterrichts für Das Projekt muss beobachtet werden, und alle müssen gleich viel einbringen. Das Projekt darf nicht länger oben am Mansardenfenster sitzen oder unbeaufsichtigt auf die Toilette gehen. Weder die Mansarde noch die Toilette sind ihr Privatbesitz. Das Projekt muss aufhören, die Wörter mein, meine und Ich zu benutzen, wie es ihr schon seit vielen Jahren gesagt wird. Über das Selbst nachzudenken, ist selbstsüchtig und der eigentliche Grundstein der kapitalistischen Unterdrückung.

    Ich werde müde, diese Regel zu wiederholen: Niemand von uns kann für mehr als drei Tage im selben Raum schlafen, alle müssen dem Turnus entsprechend rotieren, um sich dagegen zu feien, sich an einen Ort gebunden zu fühlen. Ich danke Genossin Ruth für ihre redaktionelle Arbeit und ihre Artikel für The Red Flag, aber ich muss alle Genossen daran erinnern, dass wir gemäß Dienstplan alle zu gleichen Teilen die Aufgaben Kochen, Reinigen und Nahrungsbeschaffung zu erledigen haben. Genossin Uma erledigt zu viele dieser Aufgaben, wenn andere daran scheitern, und sie ist keine Hausfrau, die hier kochen und schrubben soll, während Genossin Ruth schreibt und Genossin Jeni einkaufen geht. Ich muss darauf bestehen, dass jeder von uns in unseren vier Wänden zu jeder Zeit die graue Baumwollkleidung und die Flipflops in Einheitsgröße trägt, da Jeans, T-Shirts und feminine Dinge offenbar Neid und kontaminierte Gedanken hervorgebracht haben.

    Abschließend sei gesagt, dass Origami aus Japan stammt, nicht aus China, und es handelt sich um eine konterrevolutionäre Aktivität, die eingestellt werden muss. Gelobt sei unser Glorreicher Vorsitzender, Mao Zedong, die niemals untergehende Sonne. Wir lieben ihn mehr als unser eigenes Leben.

    Da sind gelbe Sonnenblumen und rote andere Blumen und Reisfelder in einem schönen sanften blauen Dunst. Die kleinen Menschen sind Kinder. Ein Mädchen hält eine große rote Frucht und eines hält etwas, das aussieht wie eine fette Gurke, und die Mädchen haben Schleifen im Haar, und sie stehen mit den Jungen alle so glücklich im Kreis in der Sonne, und alle haben ihre roten Schals und Sterne an, während unser Glorreicher Führer in der Mitte steht und lächelt und die Hand auf die Schulter des kleinen Mädchens legt. Er hält ein Stück Papier in der Hand, und Das Projekt denkt, dass er Anweisungen für eine künftige bessere Welt verliest. Das Projekt blickt die ganze Woche hindurch im Esszimmer auf das Bild

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