Offline!: Der Kollaps der globalen digitalen Zivilisation
Von Thomas Grüter
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Über dieses E-Book
In der Geschichte der Menschheit entstanden und vergingen mehr als 50 Hochkulturen und Zivilisationen. Auffällig dabei: Die meisten zerfielen in nur wenigen Jahrzehnten – unmittelbar nach dem Gipfelpunkt ihrer Macht und ihres Reichtums. Kann uns das auch passieren?Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dominiert nur eine einzige Lebensweise: die globale digitale Zivilisation. Ohne Smartphones, Computer, GPS und Suchmaschinen geht nichts mehr. Nirgendwo. Und noch immer ist der Fortschritt rasant. Hat unsere Zivilisation vielleicht schon bald ihren Höhepunkt erreicht? Das Buch trägt beunruhigende Indizien dafür zusammen – und trifft damit den Nerv der Zeit. In Europa glaubt schon heute eine Mehrheit der Menschen, dass es ihren Kindern schlechter gehen wird als ihnen.
Thomas Grüter vertritt die These, dass nicht Pandemien, Supervulkane oder Sonnenstürme die größten Risiken der Menschheit sind. Vielmehr droht das komplexe Grundgerüst unsere Zivilisation seine Stabilität zuverlieren. Selbst ohne die Belastung durch Klimawandel und Bodendegradation könnte es von innen her zerfallen. In zehn Kapiteln untersucht das Buch die Risiken der modernen Informationsgesellschaft, z.B:
· Wie anfällig sind die Infrastrukturen und speziell die digitale Infrastruktur?
· Wie stabil ist das gespeicherte Wissen? Können medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt wieder verloren gehen?· Muss eine Wirtschaft, die auf ständiges Wachstum und globalen Handel angewiesen ist, irgendwann kollabieren?
· Wann gehen uns die Rohstoffe aus, und ist das überhaupt absehbar?
· Wie sicher sind Zukunftsvorsagen?
· Welche Gefahr geht von Cyberkriegen aus?
· Wie könnte die Gesellschaft nach dem Ende des Internets und der Smartphones aussehen?· Was lernen wir aus dem Zerfall früherer Zivilisationen?
· Mit welchen Maßnahmen können wir einen plötzlichen Zerfall der digitalen Lebensweise abfedern oder vermeiden?
Spannend geschrieben und umfassend recherchiert, gibt das Buch schlüssige Antworten auf die entscheidende Frage: Wie vermeiden wir die Fehler, an denen bisher alle Zivilisationen gescheitert sind? Das Buch legt die Sollbruchstellen der globalen digitalen Zivilisation offen und weist Wege aus der Krise. Wenn die Menschheit alle anstehenden Probleme meistert, dann steht ihr irgendwann der Weg zu den Sternen offen.
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Offline! - Thomas Grüter
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Thomas Grüter
Offline!
Der Kollaps der globalen digitalen Zivilisation
2. Aufl. 2021
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Thomas Grüter
Münster, Deutschland
ISBN 978-3-662-63385-4e-ISBN 978-3-662-63386-1
https://doi.org/10.1007/978-3-662-63386-1
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Einführung
Seit 200.000 Jahren wandern Menschen über die Erde, aber erst vor 10.000 Jahren wurden sie sesshaft. Seitdem entstanden Dutzende von Hochkulturen und Zivilisationen, die aus unscheinbaren Anfängen langsam heranwuchsen, aufblühten und wieder verschwanden.
Viele von ihnen zeigen einen rätselhaften und verstörenden Entwicklungszyklus. Nach einem langsamen Aufstieg zu Macht und Reichtum brachen sie in ihrer Hochblüte unvermittelt zusammen. Das Erbe von Jahrhunderten zerfiel in wenigen Jahrzehnten.
Müssen wir eventuell mit dem gleichen Schicksal rechnen? Unsere technische Zivilisation ist ohne Zweifel einzigartig, und doch hat sie mit den vergangenen Kulturen mehr gemeinsam, als wir glauben.
Alle städtischen Kulturen sind darauf angewiesen, dass die Landwirtschaft sie miternährt. Nur so gewinnen Schmiede, Ärzte, Tischler oder Händler die Freiheit, ihren Beruf zur Meisterschaft zu entwickeln. Städte und Staaten brauchen eine Verwaltung, eine innere Ordnung und eine Verteidigung. Selbst in sehr frühen Städten fanden Archäologen ein Straßennetz und eine Wasserversorgung, manchmal auch eine Kanalisation. Eine Stadtmauer schützte gegen Feinde. Feste und gesicherte Wege begünstigten den Fernhandel . Schon frühe Großkönige richteten in ihren Reichen ein Kommunikationsnetz ein. Briefe, Befehle, Depeschen und Berichte reisten per Kurier, per Schiff und schließlich per Telegrafenleitung.
Alle diese kulturellen Leistungen hat die Menschheit in den letzten fünfzig Jahren in nie gekannte Höhen getrieben. In Deutschland ernährt heute ein Landwirt 135 Menschen, Mitte des 20. Jahrhunderts waren es noch zehn. Die Stromleitungen allein in Deutschland würden aneinandergelegt zweimal zum Mond und zurück reichen. In weniger als einem Tag fliegen wir zum anderen Ende der Welt. Und zum ersten Mal überhaupt verbindet ein schnelles, weltumspannendes Kommunikationsnetz mehrere Milliarden Menschen. Die digitale Revolution hat unser Leben umgekrempelt. Und das Besondere daran: Unsere Zivilisation umfasst nicht nur ein Reich oder eine Region, sondern die ganze Welt. Die schnelle Entwicklung der Impfstoffe gegen das Coronavirus wäre ohne den verzögerungsfreien Informationsaustausch zwischen Forschern und Firmen nicht möglich gewesen.
Ganz ohne Frage: Unsere Zivilisation erlebt ihre Hochblüte. Und genau in dieser Zeit sind viele frühere Kulturen zusammengebrochen. Was wäre, wenn wir mit dem Aufbau einer beispiellos komplexen Infrastruktur nicht die Stabilität verbessern, sondern nur die Fallhöhe vergrößern?
Ein Kollaps ist aber kein unabwendbares Schicksal. In hundert Jahren haben wir mehr Wissen angehäuft als alle früheren Hochkulturen zusammen. Wir sollten es nutzen, um unsere Zivilisation zu stützen und die Welt lebenswerter zu gestalten. Wenn wir unsere Infrastrukturen nicht aktiv erhalten, werden sie zerfallen. Unsere Umwelt muss gesund bleiben, wenn wir zu essen haben wollen. Wir müssen Wissen sorgfältig bewahren, weil auch digitale Speicher eine begrenzte Lebensdauer haben. Und noch immer schwebt der Schatten eines Atomkriegs über uns, unsichtbar und tödlich.
Nur wenn wir die Risiken kennen, werden wir sie minimieren können. Unser Gehirn ist aber noch immer auf ein Leben als Jäger und Sammler in der Steppe eingestellt. Ein exponentielles Wachstum und einen drohenden Kollaps erkennt es meistens viel zu spät. Anders als frühere Zivilisationen sind wir in der glücklichen Lage, solche Entwicklungen zu berechnen und zu simulieren. Eine Stadt, ein Staat oder eine Zivilisation lässt sich als sogenanntes komplexes System beschreiben. Grundsätzlich versteht man darunter ein System aus vielen Einzelkomponenten, die untereinander und mit der Außenwelt wechselwirken, aber nicht starr gekoppelt sind. Jede Komponente ist ein Objekt oder wiederum ein eigenständiges System und verändert ihr Reaktionsschema im Laufe der Zeit. Und ja, ein solches System lässt sich tatsächlich simulieren.
Die Tücken der Komplexität
Die folgenden Ausführungen sind teilweise etwas abstrakt und für das Verständnis der weiteren Buchkapitel nicht unbedingt notwendig. Sie können sie also getrost überspringen. Hilfreich sind sie aber schon, und ich empfehle darum, sie zumindest zu überfliegen.
Ein einfaches physikalisches System lässt sich vollständig beschreiben. Die klassische Physik beruht auf der Idee, dass man störende Einflüsse eliminiert, um die zugrunde liegenden Gesetze und mathematischen Beziehungen in ihrer reinen Form herauszuarbeiten. Das ist aber nicht immer möglich. Manche Systeme sind riesengroß und reagieren ganz anders, als es die getrennte Betrachtung ihrer Einzelteile erwarten ließe. Wenn, wie in einem Flugzeug, jedem Element eine genau festgelegte Rolle zugewiesen ist, haben wir es lediglich mit einem komplizierten System zu tun. In einem komplexen System sind viele Elemente selbstständig handelnde Akteure, die aufeinander einwirken. Obwohl sie vorwiegend die unmittelbare Nachbarschaft beeinflussen, breiten sich Störungen oder Veränderungen zuweilen über das gesamte System aus. Die Akteure sind nicht notwendigerweise untereinander gleich, dürfen fest oder beweglich sein und nehmen mehrere verschiedene Zustände an. Sie reagieren auf Veränderungen in ihrer Umgebung linear oder nichtlinear. Beispielsweise bewegen sie sich vielleicht zunächst überhaupt nicht, aber wenn eine immer stärker werdende Kraft auf sie einwirkt, rücken sie irgendwann schlagartig zur Seite. Oder sie verhalten sich wie ein Luftballon, der beim Aufblasen ohne Vorwarnung platzt. Damit das alles nicht zu einfach wird, zeigen die Akteure ein Lernverhalten. Sie reagieren also beim zweiten Mal eventuell anders als beim ersten. Das Gesamtverhalten eines großen Netzwerks aus solchen Akteuren ist deshalb schwer vorherzusehen.
Alle komplexen Systeme sind selbstorganisierend. Sie bilden Regeln aus, die ohne äußeren Zwang entstehen. Aus der isolierten Betrachtung der Eigenschaften einzelner Akteure und ihrer Interaktion lassen sich Gestalt und Verhalten des Gesamtsystems nicht zuverlässig erschließen. Viele Eigenschaften entstehen unvorhersehbar und spontan. Die Wissenschaft spricht dann von „Emergenz".
Ein bekanntes Beispiel ist das menschliche Bewusstsein. Es ist eine emergente Eigenschaft des menschlichen Gehirns. Selbst wenn man die Funktion der einzelnen Nervenzellen vollständig kennt und ihre Verbindungen untereinander lückenlos kartiert, wird man nicht unbedingt erwarten, dass sich im Gesamtsystem so etwas wie ein Bewusstsein entwickelt.
Menschliche Gesellschaften sind ebenfalls komplexe Systeme. Wie sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt hat, sind auch ihre Veränderungen weitgehend unvorhersehbar. Manchmal reagieren sie auf kleine Anstöße mit großen Umwälzungen, während sie andererseits schwere Schläge fast unbeschadet überstehen. Allerdings kehren sie nach dem Ende äußerer Störungen nicht unbedingt in den Ursprungszustand zurück, sondern entwickeln neue Reaktionsmuster. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat die Schlacht um seine Wiederwahl im November 2020 verloren, aber die Gesellschaft in den USA hat er dauerhaft verändert. Komplexe Systeme haben also ein Erinnerungsvermögen.
Man kann sich ein komplexes System wie einen kleinen Teich in einem schnell fließenden Gebirgsbach vorstellen. Solange Zufluss und Abfluss unverändert bleiben, bilden sich stabile Muster im Teich. In manchen Bereichen fließt das Wasser gleichmäßig, in anderen strudelt es und staut sich. An manchen Stellen wirft es stationäre Rippen auf. An einigen Orten schwimmen kleine Fische, an anderen Kaulquappen und Frösche. Obwohl hier alles fließt, wirken die Strukturen und Formen seltsam stabil. Wenn der Bach im Frühjahr Hochwasser führt, ändert sich erst einmal wenig. Die Strömungen werden etwas hektischer, die Rippen kürzer, die Strudel tiefer. Aber irgendwann bricht alles zusammen und ganz neue Strukturen treten hervor. Dann sinkt der Wasserspiegel wieder und der Teich kehrt in seinen früheren Zustand zurück – aber nur fast. Einige Steine sind zur Seite gerollt, die Strömungsmuster haben sich verändert und die Fische sind umgezogen.
Aber war da nicht das Gesetz der Entropie , nach dem eine Ordnung nicht spontan entsteht, sondern langsam zur Unordnung zerfällt? Richtig: Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass Unordnung immer nur zunimmt, aber nie geringer werden kann. Dann wäre es doch eigentlich unmöglich, dass komplexe Systeme spontan entstehen, oder nicht?
Anders als man auf den ersten Blick vermuten würde, liegt hier kein Widerspruch vor. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik gilt nur dann, wenn das betrachtete System in einem thermodynamischen Gleichgewicht ist, also Energie weder zu- noch abgeführt wird. Man spricht dann von einem geschlossenen System.
Komplexe selbstorganisierende Systeme mit ihrer bunten Vielfalt an Akteuren bilden sich dort, wo kein solches Gleichgewicht herrscht, sondern ständig Energie zu- und abfließt. Der Teich im Gebirgsbach ist ein gutes Beispiel dafür. Man spricht dann von einem offenen System, einem Fließgleichgewicht. Die Erde und auch jedes Lebewesen sind Beispiele für solch offene Systeme. Die Sonne bestrahlt die Tagseite der Erde mit Energie, die auf der Nachtseite wieder abfließt. Wie in dem Teich bilden sich durch den ständigen Energiefluss komplexe Netzwerke und Strukturen aus.
In den letzten Jahren befassen sich immer mehr Wissenschaftler mit den Eigenschaften der komplexen Systeme . In Deutschland sind das zum Beispiel gleich drei Max-Planck-Institute: das MPI für die Physik komplexer Systeme in Dresden, das MPI für die Dynamik komplexer Systeme in Magdeburg und das MPI für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen. Sie erforschen jeweils unterschiedliche Aspekte des Themas. Das sind keine akademischen Gedankenspiele, denn auch unsere Zivilisation besteht aus miteinander verwobenen komplexen Systemen, die wiederum komplexe Systeme bilden.
Solche Gebilde bleiben lange erstaunlich stabil, aber sie haben einen Pferdefuß: Sie neigen dazu, ihren Zustand schlagartig zu verändern. Strukturen kollabieren und werden durch neue ersetzt, die ganz anders aussehen. Jeder Mensch ist ein komplexes System und wir alle wissen, dass der vollständige Zusammenbruch irgendwann unvermeidlich ist. Die Natur hat das so vorgesehen. Der Tod ist nicht etwa ein Versagen des Organismus, er ist ein Teil seiner normalen Funktion.
Auch scheinbar stabile menschliche Gesellschaften lösen sich manchmal plötzlich auf. Ein aktuelles Beispiel: Zwischen 1988 und 1991 brach die Sowjetunion zusammen – und auseinander. Sie hinterließ nicht weniger als 15 Nachfolgestaaten und verlor alle ihre Vasallen in Europa. Auch das Gesellschaftssystem des „real existierenden Sozialismus" überlebte diesen Kollaps nicht. Bis heute hat niemand schlüssig erklärt, warum eines der mächtigsten Imperien der Welt wie eine vertrocknete Landkarte zerbröckelt ist. Anders als beim Fall Roms können wir Zeitzeugen befragen und Millionen Dokumente auswerten. Und trotzdem bleibt die genaue Ursache ein Rätsel. In der DDR zerfiel das Regime, obwohl Polizei und Geheimdienste über lange Zeit jede Opposition im Ansatz erstickten. Wie wir gesehen haben, trägt jedes komplexe System den Keim des Zerfalls bereits in sich, und erst im Nachhinein wirken die Sollbruchstellen so auffällig, dass man sich fragt, wie die damaligen Akteure sie übersehen konnten.
Droht unserer globalen digitalen Zivilisation ein ähnliches Schicksal? In seinem Buch Der plötzliche Kollaps von allem warnt der emeritierte Mathematiker und Komplexitätsforscher John Casti vor Extremereignissen („X-Events), die unsere Zukunft zerstören könnten – eben, weil die heutige Welt ein System von außerordentlicher Komplexität ist. Anders als ich glaubt er aber, dass die X-Events eine „kreative Zerstörung
auslösen können, aus der eine neue Ordnung erwächst.
Diesen Optimismus teile ich nicht. Unsere globale digitale Zivilisation hat eine Eigenschaft, die sie von allen früheren Kulturen, Hochkulturen, Zivilisationen oder Ideologien unterscheidet: Sie beruht auf einer weltweiten Arbeitsteilung , die nicht ohne Weiteres ersetzt oder kompensiert werden kann. Ihr wichtigster Grundpfeiler ist der Austausch von Rohstoffen , Waren, Informationen und Menschen über alle Kontinente hinweg. Sollte unsere Zivilisation in regionale Einheiten zerfallen, verschwänden alle Technologien, die nur in weltweiter Zusammenarbeit lebensfähig sind.
Mit diesem Buch möchte ich die Schwachstellen unserer Zivilisation offenlegen und Wege zur Stabilisierung vorschlagen. Die Herausforderungen sind gewaltig, und sie kommen schon in den nächsten Jahrzehnten auf uns zu. Natürlich lebt keine Zivilisation ewig, aber sie muss deshalb nicht zwangsläufig mit einer großen Staubwolke in sich zusammenfallen. Noch haben wir die Gelegenheit, den Übergang zur nächsten Zivilisation als friedlichen Umbruch zu gestalten.
Inhaltsverzeichnis
1 Nach dem Ende der digitalen Welt 1
2 Der Unterbau der Informationsgesellschaft 23
3 Die Computerindustrie – global und verletzlich 49
4 Der Verlust des Wissens 77
5 Die Wachstumsgrenzen der Welt 103
6 Die vielen Wege in die Zukunft 127
7 Der globale digitale Krieg 157
8 Die Logik des Zusammenbruchs 191
9 Was tun? 229
10 Fazit 259
Statt eines Nachworts 261
Anmerkungen 263
Literatur 283
Stichwortverzeichnis 305
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
T. GrüterOffline!https://doi.org/10.1007/978-3-662-63386-1_1
1. Nach dem Ende der digitalen Welt
Thomas Grüter¹
(1)
Münster, Deutschland
Thomas Grüter
Email: tgrueter@comfood.com
Zusammenfassung
Das menschliche Gehirn stellt sich die Zukunft gerne als Weiterführung der Vergangenheit vor. Auch morgen wird mein Smartphone mich wecken, und ich sehe noch im Bett die Push-Meldungen durch. Aber unsere digitale Lebenswelt bricht vielleicht schneller zusammen, als wir es erwarten.
Das menschliche Gehirn stellt sich die Zukunft gerne als Weiterführung der Vergangenheit vor. Auch morgen wird mein Smartphone mich wecken, und ich sehe noch im Bett die Push-Meldungen durch. Am Frühstückstisch lese und beantworte ich die nachts eingegangenen WhatsApp-Nachrichten, lasse mir das Wetter anzeigen und sehe die Staumeldungen durch. Noch schnell ein Blick auf den Ladezustand – und der Tag kann beginnen. Aber eines Morgens, ohne jede Warnung, verliert das Smartphone die Verbindung zur Welt. Das Navi im Auto oder am E-Bike empfängt kein GPS mehr. Die Zoom-Konferenz fällt aus, und selbst das Telefon bleibt tot. Die Displays der Terminals an den Supermarktkassen sind dunkel, nur Bargeld wird noch angenommen. Aber der Geldautomat ist ebenfalls stillgelegt. Das ist kein Albtraum, und keine Weckmelodie wird ihn beenden.
Unsere digitale Lebenswelt bricht vielleicht schneller zusammen, als wir ahnen. Das ist keine schöne Perspektive und die meisten Menschen möchten darüber lieber nicht nachdenken. Doch nach dem ersten Schock kehrt bald der Alltag wieder ein – wenn auch nicht so komfortabel wie früher. Begleiten wir die 16-jährige Jana, geboren im Jahr 2045, durch einen unerwartet aufregenden Tag.
Der Wecker klingelt morgens um Viertel vor sieben und Jana tastet nach dem Knopf auf der Oberseite, um das penetrante Lärmen abzustellen. Sie zieht das tickende kleine Monster zu sich heran und schielt auf das Zifferblatt, obwohl sie natürlich genau weiß, wie spät es sein muss. Sie schwingt die Beine aus dem Bett und zieht gewohnheitsmäßig den Wecker auf.
Jetzt, Ende April, ist es morgens schon hell, aber noch kalt. Das ruhige Licht von unten zeigt ihr, dass Strom in den Leitungen fließt. Der Geruch von Grießbrei kitzelt ihre Nase. Sie schlüpft schnell ins Bad, dreht den Hahn auf und hält den Finger in den Strahl. Warm – das ist gut. Das Doppelhaus wird von einer Wärmepumpe beheizt. Aber die schaltet nachts ab, wenn der Strom mal wieder ausfällt und die Akkus zu wenig Reserven haben. Jeder Handgriff beim Waschen und Anziehen ist geübt und zehn Minuten später poltert sie nach unten.
Eigentlich mag sie kein Frühstück, aber vor ihr liegt eine Fahrradfahrt von 25 Minuten und ihre Mutter besteht darauf, dass sie vorher etwas isst. Sie und ihre Mutter reden nicht viel, wie jeden Morgen.
„Kommt Papa heute Abend?"
„Hat er versprochen."
Ihr Vater lehrt Philosophie an der Universität. Als Professor hat er eine unkündbare Stelle – eine Rarität in dieser Zeit. Die Bezahlung ist nicht gut, aber die Sicherheit ist heutzutage wichtiger, sagt ihre Mutter. Für die 18 Kilometer braucht er mit dem Bus mehr als eine Stunde. Wenn er abends noch Termine hat, schläft er in seinem Zimmer in der Uni. Nach neun Uhr abends fahren keine Busse mehr.
Jana greift nach ihrer Schultasche, die sie am Vorabend bereits gepackt hat.
„Dein Schulbrot."
Sie schaut in den Kasten.
„Das ist ja ein Konti-Brot!"
Kontingentbrot wird Familien kostenlos zugeteilt. Es enthält Maismehl, sieht gelb aus, hat eine krümelige Konsistenz und schmeckt nicht besonders. Das freie Brot, das die Bäckereien auf eigene Rechnung verkaufen, ist aber fast unerschwinglich teuer. Als ihre Mutter vierzehn war, kaufte man Brot im Supermarkt oder beim Bäcker. Billig und in beliebiger Menge.
„Nimm‘s einfach mit. Wir können uns freies Brot nicht immer leisten."
Ihre Mutter sieht müde aus. Und dünn. Die Hungerjahre haben Spuren hinterlassen.
„Tut mir leid, Mama!"
„Schon gut." Ihre Mutter sieht kritisch an ihr herunter.
„Pass auf deine Sachen auf. Schuhe kriegen wir erst im Herbst wieder. Oder es wird richtig teuer."
„Mama!"
„Ja, ich weiß, du bist keine zehn mehr. Übrigens: Papa hat Papier besorgt, ich habe dir 20 Blatt in die Tasche gesteckt."
„Danke, Mama."
Papier ist rar und ein begehrtes Tauschmittel. Es gibt noch immer zu wenige Schulbücher und die Schüler müssen die wichtigsten Inhalte des Unterrichts mitschreiben. Welche das sind, sagen ihnen die Lehrer.
„Hast du die Notizen für dein Referat eingesteckt?"
„Über das Kessler-Syndrom? Ja, habe ich."
Jana seufzt. Sie ist schließlich kein Baby mehr.
„Ich geh‘ heute Nachmittag zu Jonas."
Jonas ist der Bruder ihrer Mutter. Er hat sich ausdrücklich verbeten, Onkel Jonas genannt zu werden. Weil er gut verdient, unterstützt er seine Eltern und seine beiden Schwestern mit Geld und Lebensmitteln. Außerdem lädt er die Familie jeden zweiten Sonntag zum Essen ein. Er betreibt eine profitable Firma, in der es abwechslungsreich und interessant zugeht.
„Ich hol‘ dich ab."
„Traust du mir nicht?"
Das war ein Spiel zwischen ihnen. Aber heute wirkte die Mutter zu müde dafür. Sie antwortete nur:
„Ich muss noch in die Stadt. Um fünf bin ich da."
Halten wir hier einen Moment an. Wieso sollten alltägliche Dinge in naher Zukunft knapp werden? Und wo sind die heute allgegenwärtigen Computer, Handys und Tablets? Und was ist mit dem Internet geschehen?
Jeder Erzählung, die in der Zukunft spielt, ist notwendigerweise eine Spekulation. Sie skizziert nur einen möglichen Weg, den unsere Welt nehmen kann. Für den Zweck dieser Geschichte nehme ich an, dass das komplexe System der Digitalgesellschaft zwischen 2048 und 2050 zusammenbricht, und zwar ebenso unerwartet wie die Sowjetunion. Und so könnte es geschehen:
Das Wirtschaftswachstum in China ist bis 2040 fast auf null zurückgegangen. Die Spannungen in der chinesischen Gesellschaft steigen, denn der implizite Pakt – Aufgabe bürgerlicher Freiheiten im Tausch gegen wachsenden Wohlstand – hat seine Grundlage verloren. Im Jahr 2047 kommt es zu gewalttätigen Aufständen. Der Versuch der Regierung, mit militärischen Aktionen gegen die Nachbarn von den inneren Problemen abzulenken, führt zu einem Kleinkrieg im Chinesischen Meer und einem Anstieg der Piraterie. Der Seehandel gerät ins Stocken. Um den großen Rivalen Indien zu schwächen, heizt China den schwelenden Kaschmirkonflikt zwischen Indien und Pakistan an. Nach undurchsichtigen Aktionen aller Beteiligten bricht im Januar 2048 ein Krieg aus (Panasiatischer Krieg). Indien besetzt große Gebiete im pakistanischen Teil Kaschmirs.
China greift Indien im Himalaja an, um Pakistan Entlastung zu verschaffen. Im April 2048 fallen auf China, Indien und Pakistan insgesamt 182 Atombomben. Militärinstallationen, Hafenanlagen, Industriegebiete und Bevölkerungszentren werden verwüstet.
182 Atombomben – das klingt vielleicht übertrieben. Aber die drei Atommächte verfügen über rund viermal so viele nukleare Sprengköpfe.¹ Eine wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 2019 zur Klimawirkung von Nuklearexplosionen legt einen regionalen Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan zugrunde, bei dem die Konfliktparteien 250 Atomsprengköpfe zünden.²
In allen drei Ländern bricht die Wirtschaft zusammen. In Asien entsteht ein Machtvakuum, das wiederum zu vielen kleinen kriegerischen Konflikten führt. Die digitale Weltkultur hängt aber kritisch von einem ständigen ungestörten Fluss der Wirtschaftsgüter ab. Die Nutzungsdauer eines Handys beträgt im Durchschnitt weniger als drei Jahre. Auch Router, Laptops oder Drucker halten nicht viel länger. Weil die Lieferketten dieser Produkte aber die ganze Welt umspannen, bringt der Krieg in Ostasien die Produktion weitgehend zum Stillstand.
Alle Seiten führen heftige Cyberangriffe durch, die auch Europa und Amerika empfindlich treffen. Kraftwerke müssen vom Netz genommen werden, der internationale Zahlungsverkehr funktioniert nur noch zäh oder tageweise überhaupt nicht. Wichtige Datenbanken verlieren ungeheure Datenmengen oder melden sich endgültig vom Netz ab. Das alles belastet die Wirtschaft und die Politik extrem, aber noch ist das Internet nicht in seinem Bestand gefährdet. Erst ein Treffer aus einer unerwarteten Richtung zerreißt das weltweite Netz endgültig und unwiderruflich.
Satellitennetze sind nicht reißfest
Schon heute bieten verschiedene Firmen einen Internet-Zugang über Fernmeldesatelliten an.