Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Kriegsheim: Die verdrängte Verantwortung
Kriegsheim: Die verdrängte Verantwortung
Kriegsheim: Die verdrängte Verantwortung
eBook363 Seiten4 Stunden

Kriegsheim: Die verdrängte Verantwortung

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Dein Leben gehört mir. Ich will sehen, was du daraus machst. Ich will sehen, wie du lebst. Ich ... Ich will sehen, was euch zu diesen Monstern macht."

Wenn sich ein bloßes Experiment in eine unerschütterliche Freundschaft verwandelt, kann man nicht mehr reinen Gewissens gegen die "Monster" der Gegenseite vorgehen.

Man würde sich eher selber als Monster sehen.
Man würde lieber vor dem Schicksal fliehen.
Man würde lieber die Verantwortung abschütteln wollen ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Mai 2022
ISBN9783756262120
Kriegsheim: Die verdrängte Verantwortung
Autor

Medra Yawa

Medra Yawa ist eine fantasievolle Berlinerin, die sich als Mutter, Studentin, Angestellte und Autorin durchs Leben hangelt. Zu ihren früheren Werken zählen unter anderem die Merichaven Trilogie, das Kinderbuch über die kleine Wolke Fuji, mehrere Kurzgeschichten bei diversen Verlagen sowie ihre Blogbeiträge die wöchentlich das Licht der Welt erblicken. Für einen knappen Überblick schaut doch mal auf Twitter oder ihrer Webseite vorbei! Dort erscheinen regelmäßig Neuigkeiten über ihr verrücktes Leben und Infos zu Neuveröffentlichungen.

Mehr von Medra Yawa lesen

Ähnlich wie Kriegsheim

Titel in dieser Serie (3)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Kriegsheim

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Kriegsheim - Medra Yawa

    Kapitel 1: Im Fluge der Zeit

    »… und deswegen sollte die Säure erst nach dem Wasser in das Reagenzglas gefüllt werden«, endete der Vortrag.

    »Gut gemacht. Niklas und Janek zu mir. Nächste Woche sind Maggie und Cindy dran. Und der Rest haut endlich ab!«, rief der Chemielehrer über den Tumult ihrer zehnköpfigen Klasse.

    »Grundgütiger … Ja doch …«, Maggie bekam gerade noch ihre Tasche zu fassen, ehe ihre Sitznachbarin sie raus scheuchte, »Beeil dich schon! Ehe er seine Meinung ändert. Los!«, befahl Cindy genervt.

    »Du schiebst es seit Wochen auf.«

    »Ja, ja. Ich weiß. Ist halt nicht mein Fach. Außerdem lässt mich mein Vater eh nicht raus, solange es nicht unbedingt sein muss«, murrend stoppte sie im Treppenhaus, »Ich versuche, am Wochenende der Festung zu entkommen. Dann können wir das Teil endlich vorbereiten. Abgemacht?«

    Maggie zuckte mit den Schultern.

    Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie ihre Freundin verstand. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie solche Festungen kannte. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie eine Macian war und dass sie von der wahren Natur der anderen wusste …

    Flüchtig umarmte sie Cindy zum Abschied und beobachtete, wie diese zu ihrer Aufpasserin eilte. Eine weitere Macian, die als Bodyguard und Benimmdame diente. Anders hätte das andere Mädchen nie eine normale Schule betreten können.

    Maggies Hand fuhr über die dünne Narbe an ihrem linken Unterarm. Sie malte die Linie still nach. Das tat sie immer, wenn sie Zeit totschlagen musste. Wie lange begleitete sie diese Markierung nun schon? Bald neun Jahre?

    »Irgendetwas Neues?«, fragte sie leise und schlenderte zurück zum Chemieraum.

    Keiner ihrer vorbeieilenden Klassenkameraden schenkte ihr einen Blick. Aber das war auch gut so. Die Macian hatte ihre Worte nicht an sie gerichtet.

    Ihr Halstuch zuckte.

    »Nopes.«

    »Gut … Dank-«

    »Eins plus!«, rief Niklas ihr zu und hüpfte herüber, »Also: Mit einer Eins hatte ich ja gerechnet. Aber plus? Plus?«

    Lachend knuddelte Maggie ihren Stiefbruder: »Du kleines, angebendes Genie!«

    Er duckte sich unter ihren Armen durch und gutmütig ließ sie den Jüngeren entkommen.

    Ja. Jüngeren. Und nicht nur um ein paar Monate. Niklas hatte bereits zwei Klassen übersprungen und war damit der Zwerg ihres Jahrgangs.

    »Wenn du lieb bitte sagst, gebe ich dir nochmal Nachhilfe. Na?«, bot er grinsend an.

    »Wir schauen mal.«

    »Kommst du, Nik? Wir kriegen ‘ne halbe Stunde!«, rief Janek und sofort strahlte ihr Stiefbruder übers ganze Gesicht.

    »Wir sehen uns beim Abendessen, ja?«

    »Geht klar. Mach‘ keine Dummheiten.«

    »Ich doch nicht!«

    Damit ließ er Maggie allein zurück.

    Zumindest glaubte er das.

    Kurz beäugte die Macian den leeren Flur. Dann streichelte sie ihr Halstuch.

    Es schnurrte.

    »Dieser Hutanunterricht ist langweilig«, murmelte es.

    »Entschuldige, Yuki.«

    »Wenigstens konnte ich in Geografie schlafen. Ein wahrer Lichtblick am Horizont.«

    »Nun übertreibst du«, lachend ging Maggie die Treppe runter. In der Ferne wurde ein Test angekündigt. Ansonsten kroch die Stille ins Gebäude.

    Kriegsheim war nicht sonderlich groß. Genauso verhielt es sich mit der Schülerschaft. Obwohl hier von erster bis zwölfter Klasse alles unterrichtet wurde, zählte man nie mehr als 150 Kinder auf dem Gelände. Es war immerzu ruhig.

    Ruhig und abgeschieden.

    Maggie zupfte ihren Schultergurt zurecht, ehe sie die Straße zum Waisenhaus runter lief. Dort wohnte sie nun schon seit acht Jahren. Sie hatte das Gebäude zufällig entdeckt, als sie sich im Wald versteckt hatte. Erst hatte sie nichts mit den Hutan, den unmagischen Menschen, zu tun haben wollen. Aber als sie sah, wie liebevoll sie ein verstoßenes Mädchen aufnahmen …

    Es hatte ihr keine Ruhe mehr gelassen.

    Nur deswegen hatte sie sich langsam den anderen Kindern gezeigt. Sie hatte Vertrauen gefasst. Vorsichtig war sie aus dem Wald getreten, der zuvor ihr Zuhause war. Sie hatte sich Paul, einem ihrer jetzigen Stiefbrüder, gezeigt. Sie hatte sich hinter ihm versteckt. Sie hatte neuen Mut gesammelt …

    Bis er auszog, um nach dem Schulabschluss sein eigenes Leben zu leben.

    Das war so was von überfällig gewesen!, mischte sich Valerie sofort griesgrämig ein.

    Überfällig, meinetwegen. Du musst aber nicht so genervt dabei klingen. Du mochtest ihn auch!, erinnerte Maggie ihr anderes Ich.

    Das weißt du gar nicht!

    Bitte. Keinen Grund zu streiten, ja?

    Auf Alice hörend verstummten beide.

    So hatten sie sich über die letzten Jahre arrangiert: Maggie lenkte den Körper. Valerie setzte an allem etwas aus. Und Alice quetschte sich als empathisches Gewissen dazwischen.

    »Mag?«

    Yukis Stimme riss sie zurück. Die Macian spürte, wie ihre Hand verkrampft war. Wasser hatte sich auf den Knöcheln gesammelt. Der Frühsommertag fühlte sich frisch an. Beinahe etwas kalt.

    »Entschuldige. Kleiner Streit«, murmelte sie erklärend.

    Das Halstuch flatterte von ihren Schultern und verwandelte sich noch im Flug in seine wahre Gestalt:

    Weißes Fell. Lange Beine. Mit dem Körperbau eines Fuchses. Jedoch ohne den buschigen Schwanz. Yukis war schmaler. Und in ihrem Gesicht glänzten zwei strahlende Saphire.

    »Gib‘s zu! Ohne mich wärst du aufgeschmissen, ne? Durch deinen kleinen Streit hat sich schon wieder alles abgekühlt!«, grinste die Gestaltwandlerin.

    Lachend verschränkte die Macian die Arme: »Nun werd‘ nicht gemein.«

    »Ach ja? Soll ich demnächst warten, bis die Hutan schreien?«

    »Tötet deine Neugier schon wieder eine Katze?«

    »Meine Befriedigung bringt sie eh zurück.«

    Spaßend liefen sie die Straße entlang. Sie war eine der wenigen, die vom Dorf wegführte. Bis zum Waisenhaus war sie sogar betoniert! Leider hatte man es versäumt, ein paar Laternen zu verteilen und so tanzten die Lichtstrahlen selbst zur Mittagszeit nur spärlich herab.

    Obwohl … Eigentlich hatten damals die magischen Kreaturen des Waldes ein Veto eingelegt. Die freien Desson mochten keine Veränderungen.

    »Purer Optimismus.«

    »Einer muss ja-«, Yuki stockte.

    Unwillkürlich blieb Maggie stehen. Sie betrachtete ihre kleine Freundin irritiert. Erst dann vernahm sie ein entferntes Tackern.

    Ein Auto?

    Eilig sprang die Gestaltwandlerin wieder auf ihre Schultern und verwandelte sich dabei in das vorherige Halstuch. Die Macian trat auf das Gras. Weg von dem schwarzen Untergrund. Sie spürte die Blicke der freien Desson auf sich ruhen. Kleine, wie große, die ihr nicht trauten. Die niemandem trauten. Die den Frieden des Waldes schützen wollten.

    Ein Van und ein Laster düsten auf sie zu. Sie waren größer als die üblichen Autos im Dorf. Vor allem letzterer. Doch war das kein Grund zur Sorge. Die Zweige wichen den Fahrzeugen stumm aus. Als würde der Wald ihre Durchfahrt dulden.

    Direkt neben Maggie hielt der Van an. Das Fenster glitt runter. Dahinter kam der Fahrer zum Vorschein. Ein älterer Mann mit dunklen Haaren und einer dicken Brille. Er wedelte ungeduldig mit der Hand. Zischte die Frau auf dem Beifahrersitz an. Wirkte dabei so überheblich. So selbstüberzeugt.

    »Meine Frau führt uns in die Irre. Sag, wo liegt Kriegsheim?«

    Stumm blickte Maggie zur Beifahrerin, die dem Mann einen gutmütigen Blick zuwarf. Hatte er von ihr gesprochen? Wieso blieb sie so ruhig?

    Und wieso sah die Fremde den Wald so liebevoll an, als ob sie ihn kannte?

    Wortlos wandte sich die Macian zum Gehen. Sie wollte sich nicht weiter mit diesen Leuten befassen. Sie wollte sich generell nicht mit Menschen befassen. Jede Kontaktperson könnte ihre magischen Fähigkeiten entdecken. Und wenn das passieren würde … wäre ihr Schicksal besiegelt.

    »Hey! Ich hab‘ dich etwas gefragt, Gör!«, rief ihr der Mann schimpfend hinterher.

    Maggie ließ sich nichts anmerken.

    Bis auf wenige Ausnahmen mied sie eh alle Menschen. Das war sicherer. Einzig bei TJ, Yuki, Cindy oder ihrer Stieffamilie öffnete sie überhaupt den Mund. Wobei sie es nur auf Cindy ausgeweitet hatte, um sich notfalls hinter der unaufmerksamen Macian verstecken zu können. Nur so konnte sie einen Ausrutscher zügig kaschieren und-

    Maggie blieb stehen. Ihr Blick fiel auf die zwei Leute im LKW. Eine Erwachsene und eine Jugendliche. Die Frau mochte der Beifahrerin aus dem Van ähneln. Aber das Mädchen …

    Und ihre Augen …

    Für einen Augenblick starrten sich beide an. Maggie verharrte in einem Tunnelblick. Ein Name lag ihr auf der Zunge. Ein Gesicht. Ja. Dieses Gesicht … Die blauen Augen stimmten. Aber die Mundpartie …

    Plötzlich heulten die Motoren auf. Die Fahrzeuge setzten ihren Weg fort und Maggie hastete erschrocken weiter.

    »Alles gut?«, flüsterte Yuki herunter.

    »Hm… Ich glaube …?«

    Mir kam ihr Gesicht auch bekannt vor, merkte Alice an.

    Aber in ihren Augen lag keine Wiedererkennung. Vielleicht nur ein doofer Zufall?, mischte sich Valerie ruhiger als sonst ein. Es wirkte fast so, als würde sie die Fremde faszinieren.

    Kann sein …, Maggie umklammerte den Gurt ihrer Tasche.

    Sie mochte keine Zufälle.

    ***

    Jessica Naar haute ungehalten auf die Tasten. Aber was sie auch drückte, welchen Sender sie auch einstellte – das Radio lieferte nur knisternden Applaus.

    Großartig. So verdammt wunderbar! Das hier musste die größte Einöde der Welt sein!

    »Jetzt lass es doch einfach aus. Wir können eine CD einlegen. Was magst du? Ich habe noch diese Boyband, die du in-«

    »Nicht den Mist. Bitte«, widersprach Jessica ihrer Mutter eilig, als sie den LKW anhielt, »Die Songs finde ich schon seit über drei Jahren peinlich!«

    »Gut … Dann ein Best of? Ich habe das vom letzten Jahr gefunden.«

    »Du meinst, du hast dir es von deiner Schwester geliehen«, berichtigte Jessica ihre Mutter.

    Schmollend sackte sie zusammen und starrte auf den Van ihres Onkels. Er hatte angehalten, um ein Mädchen am Waldrand anzuquatschen. Woah! Gruselig. Sie wusste schon, warum sie den Kerl nicht ausstehen konnte.

    Mit starrem Gesicht wandte sich die Fremde ab und lief weiter. Sie wirkte irgendwie isoliert. Abgeschnitten. Genau wie Jessica, wenn sie innerhalb eines Jahres auf die dritte Schule gezerrt wurde.

    Aber diesmal musste sie länger durchhalten. Das hoffte ihre Mutter zumindest. Na ja. Wenn sie eben daran glauben wo-

    Die Augen des anderen Mädchens weiteten sich, als sie Jessica erblickte. Sie blieb stehen. Schien nur noch Jessica zu sehen. Die Naar spürte förmlich, wie sie inspiziert wurde und jeder Winkel ihres Gesichts erkundet wurde und-

    Ihre Mutter trat aufs Gas.

    Erschrocken schüttelte Jessica den Kopf. Sie hörte die Hits vom letzten Jahr aus den Lautsprechern säuseln. Es fühlte sich falsch an. Albern. Künstlich.

    Nicht wie dieser verschluckende Waldweg.

    Jessica erschauderte.

    »Alles gut? Jess?«, fragte ihre Mutter besorgt.

    »Ich … war nur in Gedanken«, eilig schob sie ihre Sorgen beiseite, »Egal. Wichtiger: Ist es wirklich sicher mit denen«, sie wies nach vorn, »zusammen zu wohnen? Tante Janice ist ja zumindest ganz okay. Aber Casper? Werden wir da nicht eher als Kasperletheater enden? Er ist der Einzige, dem ich einen Mord zutrauen würde und wir ziehen aus Merichaven her!«

    »Sieh es nicht so eng. Er hat auch … seine guten Seiten. Man muss sie nur finden«, erklärte ihre Mutter zögerlich.

    »Okay. Du sagst Bescheid, wenn du eine entdeckst. Vielleicht steht ein Goldbottich daneben.«

    Damit starrte Jessica wieder aus dem Fenster. Nun tauchten sogar ein paar Häuser auf. Märchenhaft gesellten sie sich an die Hauptstraße und offenbarten vereinzelte Straßen zwischen den niedlichen Vorgärten. Obendrein konnte sie eine Mühle in der Ferne ausmachen! Dieser Ort wirkte so alt. Wie eine Mumie!

    Erst vor einem größeren Haus zog ihre Mutter endlich die Handbremse an. Drei Etagen. Die Fensterläden geschlossen. Das Dach dreckig. Der Garten ein Flickenteppich aus Beeten. Jedoch sahen alle verwahrlost aus. Als würde die Wildnis ihren Tribut fordern.

    »Hier bist du aufgewachsen?«, fragte Jessica ihre Mutter unschlüssig.

    »Wieso? Ist doch schön! Du wirst es lieben!«

    Damit sprang sie raus und eilte zu Tante Janice.

    Lieben? Ha! In tausend kalten Wintern nicht! Das Ding ähnelte einer Bruchbude. Wer wusste schon, ob noch alle Fenster hielten? Oder wie verstaubt es drinnen war? Ihre Großmutter hatte die letzten Jahre allein in dem Kasten gewohnt. Gewiss hatte die gebrechliche Frau es komplett verkommen lassen!

    »Das ist doch albern«, murmelte Jessica vor sich hin und rollte sich aus ihrem Sitz, um dem Gespräch der beiden Frauen zu lauschen.

    »Jessi kann gerne mein altes Zimmer haben. Dann kannst du in deines zurück.«

    »Und ihr nehmt das große Schlafzimmer?«

    »Ja. Casper braucht aber auch Vaters Arbeitszimmer.«

    »Soll uns recht sein. Das mochte ich eh nie. Wo soll Felix hin, wenn er zu Besuch kommt?«

    »Ich habe an das untere Gästezimmer gedacht. Oder möchtest du einen Ruheraum?«

    Augenrollend ignorierte Jessica die beiden wieder. Sie würde sich doch lieber selbst ein Bild von dem Schuppen machen. Wenigstens hatte ihr Onkel bereits aufgeschlossen. Damit war er zielstrebiger als Tante und Mutter zusammen!

    An der Haustür blieb sie verdutzt stehen.

    Da war ein Zeichen in die Tür geritzt. Ein Kreis, der von drei Zacken umgeben war. Sie alle liefen spitz auf die Mitte zu. Wie Pfeile oder Dreiecke?

    Es kam ihr bekannt vor …

    »Janice? Janice! Ich brauche meinen Computer! Sonst kann ich morgen nicht arbeiten!«

    »Kommt gleich, Schatz!«

    Überrascht bemerkte Jessica nun das offene Fenster über ihr. Blumengardinen wehten hinaus. Alte Blumengardinen.

    Sie konnte nur hoffen, dass der Rest geschmackvoller war.

    ***

    Sobald sie in ihrem Zimmer ankam, schloss Maggie die Tür und legte ihre Tasche davor. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Derzeit wohnten dreizehn weitere Hutan hier, die Betreuerin mit eingeschlossen, und fast keiner besaß die Geduld, zu klopfen.

    Die Macian musste ihre Tür absichern. Nur so konnte sie ihr Geheimnis und Yuki schützen …

    Sie hatte eh ein so verdammtes Glück, dass sie das Zimmer für sich allein hatte. Zuvor hatte ihre Stieffamilie hier drinnen Kleidung und Bücher gelagert. Da aber mit ihrem Einzug der Platz auf den drei Etagen eng wurde, hatten Janine und Paul den Raum auf Vordermann gebracht.

    Prompt waren Bett, Schrank und Tisch hineingewandert. Selbst ein Stuhl hatte sich irgendwo angefunden. Die restlichen Sachen hatte Janine über die kaputte Treppe auf den Dachboden geworfen. Die Macian wusste noch, wie irritiert sie sich gefühlt hatte, als das Mädchen sie vor den morschen Stufen gewarnt hatte. Zum Hochklettern wäre jede Seilleiter sicherer.

    »So tief in Gedanken?«, ihre Freundin sprang auf das Kopfkissen. Gähnend rollte sie sich auf die Seite und streckte die Beine aus.

    »Das Mädchen kam mir bekannt vor … Also, teilweise …«

    Nun hatte sie die gesamte Aufmerksamkeit des Desson. Mit großen Augen setzte Yuki sich auf und kam näher. Sie zog Maggie zu sich aufs Bett, um sich auf ihren Schoß zu legen.

    »Also ist sie wie du?«

    »Ich … ich weiß nicht. Es war nur ein Teil … sie …«

    Sie wirkte zu entspannt, oder?, bemerkte Alice nachdenklich.

    Genau. Sie ist viel zu sorglos durch Shizens Wald gefahren.

    Und was, wenn sie eine Erlaubnis hatte?, hinterfragte Maggie beide Einwände.

    »Möchtest du zu ihr? Wir könnten sie mit etwas Belanglosem ansprechen. Einfach mal schauen. Vielleicht hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge. Ich halt es auch vor Gakumon und TJ geheim, ja?«, bot Yuki eifrig an.

    Maggie spielte einen Augenblick mit dem Gedanken. TJ … Der Hushen war mittlerweile ihr bester Freund geworden. Er war einer der wenigen, der von ihrem einstigen Todeswunsch sowie ihren immer wieder ausbrechenden Kräften wusste. Er hatte ihr geholfen, sich im Wald zu verstecken. Er hatte ihr geholfen, sich an die Hutan und das Waisenhaus zu gewöhnen. Und er hatte geholfen, ihre Gedanken zu ordnen. Er besuchte sie immer noch regelmäßig. Er passte auf sie auf. Er verdeckte ihre Spuren vor den anderen Hushen. Vor all jenen, die sie sonst bekämpfen müsste. Die sie töten müsste.

    Denn ihre einstige Abmachung hatte sich in eine verwobene Freundschaft verwandelt. Die Macian vertraute ihm. Und er ließ es sogar zu, dass sie seine Wunden versorgte.

    Durch ihn hatte sie Yuki getroffen, die einzige Freundin, die ihr wohl je vergönnt wäre. Denn eigentlich mieden die Desson Macian wie sie. Aber weil Yukis Zwilling, Gakumon, TJ’s Vertrauter war, hatte der Hushen sie einander vorgestellt. Er hatte das kleine Wesen gebeten, als Aufpasserin zu fungieren. Damals hatte sie Maggie beobachten und notfalls ausschalten sollen. Aber schon bald hatten sie miteinander gelacht.

    Ja. Maggie konnte der Gestaltwandlerin blind vertrauen. Es war ihr egal, dass die Zwillinge denselben Geist teilten. Yuki war ihr Fels in der Brandung. Ihr Lächeln.

    Fühlten sich so Vertraute an?

    »Nein … Ich will keine Aufmerksamkeit. Cindy ist mir schon an manchen Tagen zu viel. Warum sollte ich mich also nun in den Vordergrund drängen? Ich … Ich will einfach nur meine Ruhe, ja?«, erschöpft sackte sie zusammen.

    Yuki kuschelte sich schnurrend gegen ihre Brust.

    »Und du fühlst dich auch sicher nicht einsam? Ich meine, wenn mir langweilig ist, kann ich einfach mal in Gakumons Leben schnuppern. Du jedoch … Du kommst hier nicht so leicht weg.«

    Weil wir es nicht wollen, klar?!, schnaubte Valerie sofort.

    Maggie ignorierte sie. Sie durfte nichts sagen. Sie spürte ja schon, wie die Magie in ihr brodelte. Es war eine unheimliche Kraft. Eine Energie, die immer aufstieg, wenn sie sich mit ihren anderen Ichs in die Haare bekam. Deswegen mussten sie für einen Ausgleich sorgen. Ohne diesen würde sie auffallen. Ohne Balance war sie eine tickende Bombe. Eine Katastrophe!

    Ein Fehltritt und die Elemente würden ein rabiates Eigenleben entwickeln.

    »Vielleicht ist das auch ganz gut so … Ich möchte niemanden verletzen. Ich möchte … Frieden …«, sie schloss erschöpft die Augen, »Ist das denn zu viel verlangt?«

    Kapitel 2: Auf engem Raum zu oft gesehen

    »Langsamer! Christoph! Ich sagte langsamer! Melanie, du sollst dir etwas Anderes anziehen. Das ist zu knapp! Nein! Nun wird nicht gemalt, Kati! Stifte weg! Flo! Hilf endlich Robby und benimm dich nicht selber wie ein kleines Kind!«

    Maggie hörte ihrer Betreuerin nur mit halben Ohr zu, während sie Lisa mit ihrem Oberteil half. Eigentlich konnte sich das jüngste Mitglied ihrer Familie schon alleine fertigmachen. Aber wenn es zu viele Knöpfe gab, wollte sich keiner eine meckernde Vierjährige antun.

    »Annika! Schau nach, wo Melanie bleibt! Das kann doch nicht so schwer sein … Und wo ist Niklas?«

    »Ist gestern mit so ‘nem Wälzer übers letzte Jahrhundert auf dem Gesicht eingeschlafen. Ich darf ihn nicht wecken«, erklärte dessen Zimmergenosse Christoph aus dem Bad.

    »Mir egal. Er muss los. Steve! Zerr Nik notfalls aus dem Bett. Und Flo! Renn nicht so! Hey. Langsam!«, seufzend blieb die Betreuerin hinter Maggie stehen, »Mittagsbrote fertig, Ben?«

    »Jo. Packe gerade die letzten ein«, lachend verteilte er es an die eintrudelnden Kinder – für die Macian hielt er zwei hin, »Nimmst du Niks? Ehe er es vergisst?«

    »Klar«, grinsend stopfte sich Maggie die Tüten in die Tasche.

    Sofort klammerte sich Lisa an ihrem Bein fest.

    »Darf ich mit?«

    »Du wirst nächstes Jahr eingeschult.«

    »Ich will aber jetzt!«

    »Will ist gestorben, hat sich den Magen verdorben!«, ihre Ziehmutter scheuchte das Kind aus der Küche, »Wir gehen gleich einkaufen. Obst wird wieder knapp. Wenn du lieb bist, darfst du dir am Ende was aussuchen.«

    Ein Schwall Proteste folgte von den lauschenden Waisen, die sich übergangen fühlten. Doch wies Sabine sie streng zurück.

    Lachend verabschiedete sich Maggie, schlüpfte in ihre Schuhe und sprang aus dem Haus. Die frische Luft tat gut …

    Sanft drückte sich Yuki gegen ihre Schultern.

    Die Macian nickte stumm. Sie schob ihre Tasche nach hinten und warf einen abschätzenden Blick auf das Waisenhaus.

    Niemand beobachtete sie.

    Eilig schlüpfte sie durch die Bäume in den Wald. Sie spürte, wie die freien Desson sie beäugten. Misstrauen schwang darin mit. Misstrauen und Verachtung. Doch das störte sie nicht.

    Immerhin könnte sie TJ gleich wiedersehen.

    »Gakumon ist genervt, weil sie noch Berichte schreiben sollen. Und das letzte Briefing lief wohl nicht so gut. Sie sind direkt danach her. Irgendetwas über eine Evakuation. Hab‘ nicht alles mitbekommen«, erzählte Yuki und verwandelte sich dabei in ihre wahre Gestalt zurück.

    »Denk dran, wir haben nicht so viel Zeit, ehe die Schule anfängt«, erinnerte Maggie ihre Freundin, die voller Vorfreude mit dem Schwanz wackelte.

    In der Ferne konnten sie die altbekannte Lichtung erkennen. Jemand stand dort. Er drehte sich um. Ihre Narbe kribbelte-

    Im nächsten Blinzelschlag befand sich TJ vor ihr. Eine Hand lag auf ihrem Unterarm. Genau über der dünnen Markierung. Er drückte sie sacht zur Begrüßung, ehe er von ihr abließ.

    »Wissen wir«, entgegnete der Hushen, als hätte er die ganze Zeit gelauscht. Neben ihnen tauchte Yukis Spiegelbild auf.

    Gakumon sah genauso aus, wie seine Schwester, nur mit umgedrehten Farben. Wo ihr Fell weiß war, war seines schwarz. Wo ihre Augen blau waren, waren seine rot. Wo sie albern war, war er stur …

    »Hör auf, von Schokolade zu träumen«, knurrte er leise.

    »Du bist doch nur eifersüchtig, dass du keine mehr genießen kannst«, säuselte sie.

    »Das Zeug ist ungesund.«

    »Dein Lebensstil nicht?«

    Grinsend sprangen sie aufeinander zu und tollten über den Waldboden. Es war eine normale Umarmung für die beiden. Ein Spiel, das sie seit Jahren begleitete.

    Maggie lachte unwillkürlich auf.

    »Schön, euch wiederzusehen«, offenbarte sie TJ.

    Er zuckte mit den Schultern. Verharrte in der Bewegung. Seine Lippen bildeten eine dünne Linie. Er wirkte steif. Stockend.

    Hat er sich schon wieder verletzt. Ha! Der lässt sich doch nur blicken, damit wir ihn zusammenflicken!

    Nun übertreibst du, Valerie.

    Ich? Ihr zwei denkt nicht mehr nach! Er ist ein Hushen, Alice. Ein Hushen!

    Und was sind wir? Eine Macian mit drei Seelen? Weil das auch so viel besser ist …

    Maggie blendete ihre anderen Ichs seufzend aus. Sie war der Diskussion zu müde geworden. Monatelang hatte sie mit Alice überlegt, warum sie zu dritt in diesem Körper steckten. Doch nichts ergab einen Sinn!

    Als sie ins Waisenhaus gezogen waren, hatten sie ihre Neugier ablegen müssen. Die Überlegungen hatten für zu viele Streits gesorgt. Und mit jeder Diskussion war ihr die Kontrolle über ihre Magie ein bisschen mehr entglitten.

    Sie durfte ihre Stieffamilie nicht gefährden!

    Stumm malte sie eine kreisende Bewegung in die Luft. Eine verschnörkelte Linie, hinter der sich eine Schar Wassertropfen sammelte. Für einen Moment ließ sie diese vor sich schweben. Dann hob sie eine fragende Augenbraue.

    TJ nickte erschöpft: »Rechte Schulter.«

    Mehr brauchte sie nicht. Irgendetwas in ihr wusste, wie ein gesunder Körper aussehen musste. Dieses Wissen war wie das Einmaleins in ihrem Kopf verankert. Und wenn sie das Wasser in einen Menschen lenkte, konnte sie das Blut bewegen, das Gewebe verschieben, die Verletzungen heilen …

    Solange die Wunden nicht mit starker Magie genährt worden waren, konnte sie jede verschwinden lassen.

    Kurz darauf fühlte sich die Schulter wieder richtig an und sie lenkte das Wasser hinaus.

    »Pass bitte besser auf dich auf«, murmelte sie.

    »Entschuldige«, beinahe schuldbewusst wich er ihrem Blick aus und blickte stattdessen in die Baumkronen.

    Bestimmt beobachtete er die anderen Desson. Stets tuschelten diese Wesen miteinander. Sie mochten Maggie und TJ nicht, so viel war ihr klar. Aber solange der Hüter der Wälder ihnen den Aufenthalt gestattete, mussten sie sich alle benehmen.

    Sie musterte den Hushen genauer.

    Kleidung zerrissen. Haare leicht fettig. Augenringe. Ruß auf der Wange. Und seine rechte Hand … Er hielt immer noch sein Zentrip darin. Das Messer, in dem er seine Magien bündelte, fokussierte und lenkte …

    »Willst … du reden?«, fragte sie zögerlich, wenngleich sie eigentlich nichts von der magischen Welt wissen wollte.

    Aber wenn es ihm half …

    Zu ihrem Glück schüttelte er den Kopf: »War nur eine anstrengende Woche. Obwohl … Wir haben uns erst vor drei Tagen das letzte Mal gesehen, oder?«

    Die Macian nickte. Sie wollte ihm nicht auf die Nase binden, dass er da noch gesünder ausgesehen hatte.

    »Am Montag. Vor … vier Tagen also. Sabine hatte dich fast im Waisenhaus erwischt«, erinnerte Maggie ihn.

    Er hatte sich morgens zu ihr geblinzelt, als sie gerade zurück auf ihr Zimmer gegangen war. Dort hatten sie kurz gesprochen, ehe die Betreuerin reingeplatzt war, weil die Macian mit dem Trödeln aufhören sollte.

    »Ja. Konnte nicht mal tschüss sagen. ‘Tschuldige«, er wurde leiser, beinahe als wäre ihm das Thema unangenehm.

    »Nicht der Rede wert.«

    Gemeinsam liefen sie durch den Wald. Die beiden Desson voran. Sie hinterher. Es fühlte sich wie immer richtig und falsch zugleich an. Alles in diesem Wald fühlte sich richtig und falsch zugleich an!

    Fragend huschten seine Augen über ihr Gesicht. Dann wandte er sich wieder ab. Die Macian war das bereits gewohnt. TJ tat das immer, wenn er sich unschlüssig war.

    »Du … wirkst ruhiger. Selbst für deine Verhältnisse. Sonst bist du … lebhafter. Alles gut?«

    Ihre Gedanken huschten zum letzten Nachmittag zurück. Das Mädchen in dem LKW. Ihre Augen. Dieses Gefühl, dass sie die andere doch kennen musste!

    Und dennoch wusste ein Teil von ihr, dass dem nicht so sein konnte. Huh. Das war immer noch das Verrückteste in ihrem Leben. Obwohl sie sich an nichts vor TJ erinnern konnte, so konnte sie schon lesen, schreiben, heilen. Sie wusste so vieles, über das sie doch nichts wissen sollte, oder?

    Und genauso verhielt es sich mit dem Mädchen.

    Ein Teil von ihr war sich absolut sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Es war ein verqueres Labyrinth in ihrem Kopf!

    »Wirre Gedanken … Ich weiß nicht … Ist wie ein Echo?«

    »Ein Echo?«, er stoppte und sofort hielten auch die Desson an, um aufzusehen.

    »Ja. Als hätte ich

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1