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Blutsbande
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eBook257 Seiten3 Stunden

Blutsbande

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Über dieses E-Book

Die Aachener Kinderärztin und Virologin Marie Hartwig fährt für ein Jahr nach Paris, um dort an einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt im Hôpital Necker mitzuwirken. Schon im Thalys begegnet sie dem bekannten, französischen Schauspieler, André Gaston, den sie näher kennen und lieben lernt. Nach einer Vergewaltigung nimmt André die traumatisierte Marie bei sich auf und bittet sie schon kurze Zeit später seine Frau zu werden. Während ihr Mann zu Dreharbeiten in der Bretagne weilt, fühlt sich Marie in Paris beobachtet und verfolgt. Nach Andrés Rückkehr wird er in der Tiefgarage seines Hauses von zwei Attentätern überfallen und schwer verletzt. Marie erhält eine Todesdrohung.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum23. März 2022
ISBN9783754962251
Blutsbande
Autor

Marijana Pilawa

Marijana Pilawa arbeitet als freiberufliche Kunsthistorikerin in Dresden. Sie hat bereits mehrere wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. "Blutsbande" ist ihr Debüt-Kriminalroman.

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    Buchvorschau

    Blutsbande - Marijana Pilawa

    Marijana Pilawa: Blutsbande

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Impressum

    Text:                      © 2022 Copyright by Marijana Pilawa

    Umschlag:            © 2022 Copyright by Marijana Pilawa

    Abbildung:            Pixabay, lizenzfrei

    Inhalt: Marijana Pilawa, Wittenberger Str. 94, 01277 Dresden, ma-pilawa@t-online.de  - Alle Rechte vorbehalten - epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

    Erster Teil

    Marie

    „Danke, Papa!" sagt Marie liebevoll.

    Ihr Vater hat sie zum Hauptbahnhof nach Aachen gefahren und ihr dabei geholfen, die beiden schweren Koffer und die Reisetasche in den Thalys, der sie nach Paris bringen wird, zu tragen.

    Von Kindesbeinen an herrscht ein sehr inniges und vertrauensvolles Verhältnis zwischen Vater und Tochter. Es ist eine Beziehung, auf die ihre Mutter oft sogar eifersüchtig war. „Du bist ein Papakind", hatte sie früher häufig zu ihr gesagt. Marie hatte dies jedoch immer lachend verneint.

    Zum Abschied umarmen sich Vater und Tochter noch einmal herzlich, dann steigt Marie im letzten Moment in den Zug ein, der sich fast augenblicklich in Bewegung setzt.

    Marie verstaut sorgfältig das Gepäck in die Ablage und sucht schließlich den von ihr gebuchten Sitzplatz in der ersten Klasse des Großraumwagens auf. Sie hat sich für einen Platz in der hintersten Reihe des letzten Waggons entschieden, da sie aus Erfahrung weiß, dass es auch der ruhigste ist, denn hier herrscht kein Durchgangsverkehr mehr. Während sie durch den Großraumwagen geht, registriert sie, dass er nur spärlich mit Passagieren besetzt ist, da aufgrund der aktuellen Corona-Situation weitaus weniger Menschen verreisen. Und nachdem sie ihr Handgepäck untergebracht, ihren schwarzen Mantel mit Pelzkragen ausgezogen und aufgehängt hat, nimmt sie den für sie reservierten Platz ein.

    Auf der anderen Seite des Ganges sitzt bereits ein Mann mit schwarzen Haaren. Sein Gesicht ist, wie auch Maries‘, mit einer medizinischen Gesichtsmaske bedeckt. Für einen Moment schaut er zu ihr hinüber. Ihre Blicke treffen sich. Sie bemerkt ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen, dass sie seltsam warm berührt.

    Marie schaut aus dem Zugfenster. Es ist Januar und es hat zu schneien begonnen. 

    Als sie mit ihrem Vater im Auto von Kornelimünster zum Hauptbahnhof nach Aachen gefahren ist, waren es zunächst nur einige wenige kleine Schneeflocken, die von einem noch freundlichen, blauen Himmel herab rieselten. Doch seit der Thalys die unsichtbare Grenze zwischen Deutschland und Belgien überquert hat, ist der Schneefall heftiger geworden. Die vorüberfliegende Landschaft ist kurz vor Lüttich bereits mit einer mehreren Zentimeter hohen weißen Schneeschicht bedeckt. So viel Schnee hat es in dieser Region schon seit einigen Jahren nicht mehr gegeben. Der Klimawandel macht sich auch hier deutlich bemerkbar.

    Marie kann sich noch gut an die heftigen Winter in ihrer Kindheit erinnern. Der Gutshof ihrer Eltern, etwas außerhalb von Aachen, schon am Rande der Eifel gelegen, war manchmal für Tage eingeschneit. Die alten, gemütlichen Wohnräume waren jedoch behaglich warm, vor allem die große Wohnküche in der Marie vor Weihnachten mit ihrer Mutter Plätzchen und andere wunderbare Leckereien gebacken hat. Ihre Erinnerungen daran sind so lebhaft, sodass sie den Duft von frischem Gebäck zu riechen vermeint. In dieser kalten, oft sogar rauen Jahreszeit hat auch ihr Vater die nötige Muße mit ihr zu spielen oder ihr aus Büchern vorzulesen. Vor allem aber zieht er das vor Freude jauchzende kleine Mädchen auf dem Schlitten über die hinter dem Gutshof gelegenen verschneiten Wiesen oder sie bauen gemeinsam Schneemänner auf dem von den Gutsgebäuden eingerahmten Innenhof.

    Einige Jahre später hebt ihr Vater sie auf das kleine Pony, das ihre Eltern ihr zum sechsten Geburtstag geschenkt haben. Als Jugendliche besitzt sie sogar ein eigenes Reitpferd. Gemeinsam mit ihrem Vater oder ihrer damals besten Freundin Johanna reitet sie fröhlich über die Wiesen oder durch das direkt an den Gutshof angrenzende Waldgebiet. Diese Zeiten gehören für Marie mit zu ihren schönsten Kindheits-und Jugenderinnerungen.

    Nach dem Abitur beschließt Marie in Aachen Humanmedizin zu studieren, um sich ihren langgehegten Traum, Kinderärztin zu werden, zu erfüllen. Schon wenige Tage nach Studienbeginn lernt sie Michael kennen, der etwas älter ist als sie. Sie verlieben sich ineinander und sie sind schon kurze Zeit später ein Paar. Zum Leidwesen ihrer Eltern verlässt Marie, die gerade erst im alten Gutshaus für sie frisch renovierten Räumlichkeiten, um mit Michael in ihre erste, kleine gemeinsame Wohnung zu ziehen.

    Michael! Marie seufzt.

    „Ihre Fahrkarte, bitte!" Marie ist so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie den Schaffner gar nicht wahrgenommen hat.

    Und nur wenig später fährt der Thalys auch schon in den Hauptbahnhof von Lüttich ein.

    Es schneit mittlerweile immer heftiger. Die am Zugfenster vorüberfliegende Landschaft ist kaum noch als solche zu erkennen. Der blaue Himmel ist einem trüben dichten Grau gewichen.

    Marie denkt wieder an Michael. Sie galten als Traumpaar in ihrem Freundeskreis. Die Beziehungen ihrer Freunde und Bekannte hielten mal mehr oder weniger lange. Ihre Verbindung schien jedoch von Bestand zu sein. Sie wurden darum von allen beneidet. Und tatsächlich waren sie auch jahrelang glücklich in ihrer kleinen, engen Studentenbehausung. Erst viel später als Michael und sie ihre Festanstellungen als Ärzte im Aachener Klinikum hatten, bemühten sie sich um eine größere Wohnung, die sie mit großer Freude gemeinsam mit Mobiliar und weiteren Einrichtungsgegenständen ausstatteten.

    Doch vor etwa zwei Jahren hatte Michael ihr im verflixten zehnten Jahr eingestanden, ein Verhältnis mit einer Krankenschwester in Ausbildung begonnen zu haben. Sie war nun schwanger von ihm und er wollte sich, wie er Marie gegenüber sagte, seiner Verantwortung stellen und die junge Frau heiraten.

    Der Thalys fährt soeben in den Hauptbahnhof von Brüssel ein. Die belgische Hauptstadt kennt sie gut, da hier eine ihre besten Freundinnen lebt. Christine und sie hatten gemeinsam ein paar Semester Medizin studiert. Christine entschloss sich jedoch noch vor Beendigung des Studiums, lieber Simultandolmetscherin zu werden. Als solche war sie nun erfolgreich bei der Europäischen Union tätig und Marie hatte die Freundin schon mehrfach in Brüssel besucht.

    Nachdem der Thalys die französische Staatsgrenze überquert hat, ist der Schneefall so stark geworden, dass die Konturen der Landschaft nicht mehr eindeutig auszumachen sind. Von der Tageszeit her ist es zwar erst mittags, aber draußen ist es beinahe stockdunkel. Der Zug bewegt sich so schwerfällig, als kämpfe er sich durch einen dichten, schwarzgrauen und unwirklichen Nebeltunnel hindurch. Mit einem Mal verlangsamt er seine Fahrt, bis er schließlich inmitten des immer dichter werdenden Schneetreibens auf halber Strecke zwischen Brüssel und Paris stehen bleibt.

    Erst nach einer geraumen Weile erfolgt eine Lautsprecherdurchsage des Schaffners in deutscher und französischer Sprache, der Zug habe anhalten müssen, weil ein Baum an der Bahnstrecke durch die Last des vielen Schnees auf die Schienen gefallen sei. Die Weiterfahrt werde sich auf unbestimmte Zeit verzögern, da er keine Auskunft geben könne, wie lange es dauern werde, den Baum zu beseitigen. Er bitte daher die Fahrgäste um ein wenig Geduld.

    Marie schaut zu ihrem Nachbarn hinüber. Es ist, als hätte er nur darauf gewartet, denn genau in diesem Moment erwidert er ihren Blick.

    Marie lässt ihre Gedanken wieder schweifen. Nachdem Michael aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen ist, hält es auch sie nicht mehr länger dort aus. Sie findet eine kleine, aber feine Wohnung im Frankenberger Viertel in Aachen und beschließt, sich auch beruflich zu verändern, indem sie an der RWTH in Aachen eine Weiterbildung zur Fachärztin für Mikrobiologie mit Schwerpunkt der Virologie beginnt.

    Jetzt befindet sie sich auf dem Weg nach Paris, um im Rahmen eines internationalen Wissensaustauschs ein Jahr lang als Ärztin und Wissenschaftlerin in der virologischen Abteilung des Instituts Imagine am Hôpital Necker klinische Studien zu betreiben. Dieses Hospital ist das größte Kinderkrankenhaus in Frankreich. Es wurde als solches bereits im 18. Jahrhundert gegründet, um Kinderkrankheiten – vor allem seltene – zu behandeln und zu erforschen.

    Eine dieser Krankheiten ist als Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome bekannt, kurz PIMS genannt. Bei dieser Krankheit findet in allen Organen eine Entzündungsreaktion statt. Die Kinder und Jugendlichen haben tagelang hohes Fieber, häufig zusammen mit Durchfall, Bauchschmerzen, Erbrechen, entzündeten Schleimhäuten und Ausschlägen. Mehr als die Hälfte der Erkrankten muss sogar auf der Intensivstation behandelt werden. PIMS ist zwar mittlerweile als eigenständiges Krankheitssyndrom anerkannt, tritt jedoch auffallend häufig nach einer Sars-Cov-2-Infektion auf.

    Für Marie und ihre französischen Kollegen gilt es in einem gemeinsamen Projekt die PIMS-Erkrankung im Zusammenhang mit einer vorausgegangenen Covid-19-Erkrankung zu erforschen.

    Marie hat für die gesamte Zeit des Forschungsprojektes mit einem französischen Kollegen, der ihre Stelle an der RWTH übernimmt, die Wohnung getauscht. Während der junge Wissenschaftler bereits in ihrem Appartement im Frankenberger Viertel eingezogen ist, verbringt sie noch ein paar ruhige Tage auf dem Gut ihrer Eltern.

    Sie genießt in dieser Zeit ausgiebige Spaziergänge, die sie in der näheren Umgebung des Landgutes, allein oder manchmal auch in Begleitung ihres Vaters macht.

    Die bei ihren gemeinsamen Streifzügen durch die Natur geführten Unterhaltungen geben ihr viel, sind ihr seit jeher sehr wichtig gewesen. Wenn sie mit ihrer Mutter zusammen ist, dominieren eher Gespräche über ihre private Zukunft. Für ihre Mutter war Michael der Traumschwiegersohn. Sie hat Maries Trennung von ihm weitaus weniger verwunden als Marie selbst. Und sie gibt ihrer Tochter immer wieder zu verstehen, wie wichtig es ihr ist, Marie in einer festen Beziehung zu wissen.

    Marie ist dagegen erstaunt, als sie schon nach kurzer Zeit feststellt, die Trennung von Michael eher als befreiend zu empfinden. Ihr ist es augenblicklich viel wichtiger, erst einmal ihre eigene Persönlichkeit und vor allem ihre eigenen Bedürfnisse auszuloten.

    Die junge Frau ist in ihre Gedanken versunken, sie bemerkt kaum, dass der Thalys sich langsam wieder in Bewegung setzt und zunehmend an Fahrt aufnimmt.

    Den letzten Abend hat sie mit ihren Eltern im gemütlichen Wohnzimmer bei einem Glas Glühwein vor dem Fernseher verbracht. Ihre Mutter ist ein großer Fan, der Sendung  „Wer wird Millionär" mit Günther Jauch.

    An diesem Abend ist die Sendung mit prominenten Gästen besetzt, darunter als Stargast, der auch in Deutschland sehr populäre französische Schauspieler André Gaston.

    Maries Mutter ist hell auf begeistert von dem gutaussehenden Franzosen. Sie bekommt vor lauter Aufregung rote Flecke auf den Wangen. Marie und ihr Vater necken sie deswegen sogar ein bisschen.

    „Ich finde ihn sehr nett, merkt sie deshalb ein wenig gekränkt an. „Und außerdem sieht er unglaublich gut aus!

    Der Thalys läuft endlich mit etwa zwei Stunden Verspätung im Gare du Nord in Paris ein.

    Maries Koffer sind schwer. Ihr Zugnachbar hilft ihr, das Gepäck auf dem Bahnsteig abzustellen. Sie bedankt sich höflich bei ihm. Er grüßt noch zum Abschied und verschwindet schließlich im Getümmel der Bahnreisenden.

    Marie geht mit den beiden Koffern und dem Handgepäck mühsam beladen durch die Bahnhofshalle bis zum Ausgang des Gare du Nord, wo normalerweise jede Menge Pariser Taxis auf die Ankömmlinge warten. Normalerweise! Jedoch ausgerechnet heute nicht! Was ist los? Marie blickt sich etwas ratlos um. Vor dem Ausgang warten weitere Fahrgäste, die, wie sie, nach einem Taxi Ausschau halten. Nur wenige Meter entfernt sieht sie ihren Zugnachbarn, auch er ist offensichtlich auf der Suche nach einem Taxi.

    „Was ist los? Wo sind die Taxis?" fragt einer der Umstehenden.

    „Ja, wissen Sie denn nicht, dass heute die Taxifahrer streiken!" sagt ein vorübergehender Mann, gekleidet in der Uniform eines französischen Bahnbeamten.

    Ein älterer Mann, der direkt neben Marie steht, flucht leise vor sich hin.

    „Sch … Scheibenkleister! denkt auch Marie. „Jetzt muss ich mit der Metro fahren. Wahrlich kein Vergnügen mit den beiden schweren Koffern und dem Handgepäck, zumal jetzt auch noch Rushhour in Paris ist.

    Missmutig hält Marie Ausschau nach einem Schild, das ihr den Weg zur Metro weist. Unweit von ihr erblickt sie einen der typischen grünen Pariser „Metropolitain"-Eingänge, die zur Untergrundbahn führen. Schwerfällig wendet sie sich mit ihren Gepäckstücken dorthin.

    Plötzlich hört sie eine sympathische, männliche Stimme in ihrem Rücken sagen: „Sie wollen doch nicht etwa mit den schweren Koffern in die Metro?"

    Marie dreht sich um. Vor ihr steht ihr Zugnachbar.

    „Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Ich werde jetzt einen Freund anrufen, der uns hier abholt und wir bringen dann auch Sie zu Ihrem Zielort."

    Marie zögert. Sie ist von Natur aus etwas schüchtern und zurückhaltend gegenüber Fremden. Er sieht ihre Befangenheit und lächelt. Marie bemerkt dabei seine sympathischen Augenfältchen über der Schutzmaske. Ohne ihre Antwort abzuwarten, zieht er auch schon sein Handy aus der Manteltasche und wählt eine Nummer. Marie hört, wie sich am anderen Ende der Leitung eine männliche Stimme meldet.

    „Jean holt uns ab sagt ihr Zugnachbar, nachdem er das Gespräch beendet hat. „Wenn Sie einverstanden sind, Mademoiselle, bringt er auch Sie zu Ihrem Bestimmungsort.

    Marie ist sich immer noch unschlüssig, ob sie das Angebot des ihr fremden Mannes annehmen soll. Der Gedanke an die überfüllte Metro lässt sie jedoch erschaudern. Also entschließt sie sich, seine Offerte anzunehmen.

    Gemeinsam stehen sie nun wartend vor dem Bahnhofsgebäude. Der Verkehr ist um diese Zeit furchtbar. Die Straßen von Paris sind mit Autos vollgestopft. Und zudem wird es auch zunehmend kälter.

    Endlich nach fast einer Stunde Wartezeit hält in ihrer Nähe ein schwarzer BMW.

    „Hallo André, alter Junge. Du hast dir ja den richtigen Tag zum Verreisen ausgesucht."

    „Wenn ich gewusst hätte, dass heute hier die Taxis streiken, wäre ich tatsächlich noch einen Tag länger in Köln geblieben, kontert der so Angesprochene. „Jean, das ist übrigens die junge Dame, von der ich dir erzählt habe. Können wir sie mitnehmen?

    „Aber selbstredend! Wo müssen Sie denn hin, Mademoiselle?" fragt Jean.

    „Zum Hôpital Necker in der Rue de Sèvres", antwortet Marie.

    „Ich hoffe, Sie sind nicht ernsthaft krank?" merkt Jean an.

    „Nein, nein! Ich bin nicht ernsthaft krank", erwidert Marie knapp.

    Die beiden Männer helfen ihr, die schweren Gepäckstücke im Kofferraum des BMWs zu verstauen.

    Nachdem Jean sein Navigationsgerät auf die von Marie genannte Adresse programmiert hat, steuert er den Wagen sicher durch die winterweiße französische Hauptstadt.

    Paris ist wunderbar mit den vielen Lichtern und der weißen Schneeschicht, die wie Puderzucker auf den Dächern der Gebäude, an denen sie vorüberfahren, liegt. Im aufkommenden Abendnebel zerfließen die bunten Lichter und tauchen die Stadt in ein fast märchenhaftes Flair. Wenn nur die vielen hupenden Autos auf den Straßen nicht wären.

    Eine dreiviertel Stunde später haben sie das Ziel erreicht – das Hôpital Necker.

    Marie will Jean für die Fahrt angemessen entlohnen, aber der lehnt lachend ab.

    „Nein, nein! sagt er. „Ich habe mir für jeden Tag eine gute Tat vorgenommen. Das war meine gute Tat für heute.

    Marie bedankt sich verlegen.

    Ihr Zugnachbar hat in der Zwischenzeit die beiden Koffer und ihr Handgepäck aus dem Kofferraum des BMWs geladen.

    Die junge Frau bedankt sich auch bei ihm und will sich verabschieden.

    „Tun Sie mir noch einen kleinen Gefallen?" fragt er lächelnd.

    „Wenn ich kann!" sagt sie vorsichtig.

    „Wollen wir uns morgen Nachmittag um 15 Uhr wieder hier an dieser Stelle treffen?"

    Marie schaut den Mann etwas unsicher an. Er bemerkt ihre Verlegenheit.

    „Ich würde Sie einfach gerne wiedersehen! Ja?"

    „Ja, in Ordnung!" antwortet sie leise.

    „Na, dann bis morgen." Er nickt ihr noch einmal zu und geht lächelnd davon.

    Marie winkt noch einmal, dann fährt der Wagen an und taucht im strömenden Verkehr von Paris schnell unter.

    Marie sucht den Eingang des nahegelegenen Ärzte-und Gästehauses des Hospitals, in dem sie nun ein Jahr lang wohnen wird. Sie läuft mit ihrem sperrigen Gepäck an der Gebäudefassade entlang, bis sie schließlich das Eingangsportal entdeckt.

    Im vorderen Bereich eines langgestreckten Flures befindet sich ein kleiner Raum, mehr ein Glaskasten, ähnlich einer alten Kinokasse. Darin sitzt ein ältlicher Mann in einem blauen Kittel, wohl der Hausmeister oder Concierge.

    Marie geht auf ihn zu und stellt sich vor.

    Der Mann bringt sie schließlich zu ihrem Zimmer in der vierten Etage des Gebäudes. Er schließt ihr den Raum auf und überreicht ihr, bevor er sie verlässt, den Zimmerschlüssel.

    Das Zimmer besitzt die Form eines langgestreckten Schlauchs und hat große Ähnlichkeit mit einem Tigerkäfig, in dem man nur auf und ab gehen kann. Es ist spartanisch eingerichtet: ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein paar Regale voll mit Büchern, in einer Nische befindet sich noch ein Waschbecken. That‘s all!

    „Oh je, kein guter Tausch", denkt sie.

    Ihr französischer Kollege dagegen ist nun in ihrer kleinen, geschmackvoll eingerichteten Wohnung in Aachen. Sie muss sich nun ein Jahr lang Küche, Bad und WC mit zwölf anderen Bewohnern auf der Etage teilen.

    „Na, ja! Das habe ich ja vorher gewusst! Bei den Mieten hier in Paris kann ich zu diesem Preis nicht wirklich viel erwarten."

    Und kalt ist es außerdem! Also erst einmal die Heizung aufdrehen.

    Marie inspiziert an ihrem ersten Morgen in Paris zunächst einmal die Waschgelegenheiten ihrer Unterkunft. Der Duschraum befindet sich am Ende eines langen Ganges. Es ist ein unangenehmer, kalter weißgefliester Raum, in dem es keine separat abgeschlossenen Duschkabinen gibt, sondern nur glitschige Vorhänge, welche die Duschbecken voneinander abtrennen.

    Ebenso abstoßend findet sie die Gemeinschaftsküche, da der Raum einen äußerst schmuddeligen Eindruck vermittelt, wozu nicht zuletzt die auf dem Küchentisch vom Vortag übriggebliebenen Krümel und Kaffeeränder beitragen. Ein Blick in die beiden Kühlschränke weist ein ähnlich unappetitliches Bild vor ihren Augen auf. Zwischen vielen Bierflaschen stehen unter anderem alte Joghurtbecher, Gläser mit Marmelade-und Butterresten, welche bereits ein

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