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Der Stern von Nirada - Band 1: Die Auserwählten
Der Stern von Nirada - Band 1: Die Auserwählten
Der Stern von Nirada - Band 1: Die Auserwählten
eBook709 Seiten10 Stunden

Der Stern von Nirada - Band 1: Die Auserwählten

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Über dieses E-Book

Nirada ist in Not. Der Fürst von Dragon hält die Völker Niradas mit seiner unbezwingbaren Magie in scheinbar unlösbarem Griff. Nur die beiden Auserwählten können laut einer Prophezeiung das Gleichgewicht zurückbringen. Das Problem: Sie befinden sich in zwei unterschiedlichen Dimensionen. Simlon, ein 15-jähriger Halbwaise aus Ankorila, wird eines Tages aus seinem Alltag in Armut fortgerissen und vom Weisen Jomera über sein wahres Schicksal als einer der Auserwählten aufgeklärt. Seine gefahrenreiche Mission besteht darin, den anderen Auserwählten in dessen Dimension zu finden und ihn nach Nirada zu leiten. Die Suche nach dem Dimensionstor führt Simlon und seine Gefährten quer durch das weite Reich des Fürsten und zwingt ihn nicht nur dazu, machtvollen Gegnern und brenzligen Situationen zu trotzen, sondern auch zu entscheiden, wem er sich in einer Welt voller Hindernisse anvertrauen kann. Unterdessen ahnt Jamie, ein englischer Schuljunge unserer Tage, nichts von seiner Berufung. Jedenfalls nicht, bis ihn die dunklen Häscher des Fürsten in seiner Londoner Schule zu jagen beginnen. Mit Hilfe des Verbannten Gwin schlägt er sie in die Flucht und begibt sich auf eine gefährliche Reise durch seine unheilvoll veränderte Welt, bei der er sich mit so unbekannten Wesen wie Dimensionsspringern, Drago-Soldaten und Miranen messen muss. Werden die Auserwählten zueinander finden und sich der Macht des Fürsten stellen können? Und welche Rolle spielt der sagenumwobene Stern von Nirada dabei?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum13. Okt. 2015
ISBN9783737570138
Der Stern von Nirada - Band 1: Die Auserwählten

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    Buchvorschau

    Der Stern von Nirada - Band 1 - Felix van Kann

    DER STERN VON NIRADA

    von

    FELIX VAN KANN

    Band 1

    Die Auserwählten

    Impressum

    Text Copyright©2015Felix van Kann

    Alle Rechte vorbehalten.

    ISBN 9783737570138

    VORWORT

    Die Geschichte

    Nirada ist in Not. Der Fürst von Dragon hält die Völker Niradas mit seiner unbezwingbaren Magie in scheinbar unlösbarem Griff. Nur die beiden Auserwählten können laut einer Prophezeiung das Gleichgewicht zurückbringen. Das Problem: Sie befinden sich in zwei unterschiedlichen Dimensionen. Simlon, ein Fünfzehnähriger Halbwaise aus Ankorila, wird eines Tages aus seinem Alltag in Armut fortgerissen und vom Weisen Jomera über sein wahres Schicksal als einer der Auserwählten aufgeklärt. Seine gefahrenreiche Mission besteht darin, den anderen Auserwählten in dessen Dimension zu finden und ihn nach Nirada zu leiten. Die Suche nach dem Dimensionstor führt Simlon und seine Gefährten quer durch das weite Reich des Fürsten und zwingt ihn nicht nur dazu, machtvollen Gegnern und brenzligen Situationen zu trotzen, sondern auch zu entscheiden, wem er sich in einer Welt voller Hindernisse anvertrauen kann. Unterdessen ahnt Jamie, ein englischer Schuljunge unserer Tage, nichts von seiner Berufung. Jedenfalls nicht, bis ihn die dunklen Häscher des Fürsten in seiner Londoner Schule zu jagen beginnen. Mit Hilfe des Verbannten Gwin schlägt er sie in die Flucht und begibt sich auf eine gefährliche Reise durch seine unheilvoll veränderte Welt, bei der er sich mit so unbekannten Wesen wie Dimensionsspringern, Drago-Soldaten und Miranen messen muss. Werden die Auserwählten zueinander finden und sich der Macht des Fürsten stellen können? Und welche Rolle spielt der sagenumwobene Stern von Nirada dabei?

    Der Autor

    Felix van Kann wurde am 01.09.1993 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem Abitur im Jahr 2011 studierte er an der Loyola Marymount University in Los Angeles Kommunikationswissenschaften. Felix ist ein begeisterter Geschichtenerzähler und begann bereits mit 15 Jahren, dieses Buch zu entwickeln und aufzuschreiben. In den Worten dieser Geschichte steckt viel von der Energie und den Gedanken seiner Jugendzeit, genauso wie die Erinnerung an einen geschundenen Ringfinger, den Felix bei der handschriftlichen Fertigstellung der 1054 Seiten offenbar ein wenig überbeanspruchte.

    Inhaltsverzeichnis

    DER STERN VON NIRADA  von  FELIX VAN KANN    Band 1  Die Auserwählten

    Impressum

    VORWORT

    Prolog - Órafar Normir - 51 Jahre zuvor

    Kapitel 1 - Der Weise

    Kapitel 2 - Schatten über London

    Kapitel 3 - Von Sternen und Vergangenem-

    Kapitel 4 - Der Verbannte

    Kapitel 5 - Dragons Kälte

    Kapitel 6 - Steingräber

    Kapitel 7 - Seelenopfer

    Kapitel 8 - Silbriges Licht

    Kapitel 9 - Die Karte

    Kapitel 10 -Hedatha

    Kapitel 11- General der schwarzen Wolken

    Kapitel 12 - Der Fellhändler und seine Tochter

    Kapitel 13 - Platz der Einheit

    Kapitel 14 - Narben der Vergangenheit

    Kapitel 15 - Fragen über Fragen

    Kapitel 16 - Über den Dächern von Eenen

    Kapitel 17 - Die Versammlung der Diebe

    Kapitel 18 - Nach Norden

    Kapitel 19 - Zwischen Angst und Zorn

    Kapitel 20 - Die Pläne der Schattenkrieger

    Kapitel 21 - Abgründe des Zorns

    Kapitel 22 - Der Sturm auf Meesenguard

    Kapitel 23 - Dennyls Fehler

    Kapitel 24 - Aus den Tiefen des Dorndras

    Kapitel 25 - Den Raneem entlang

    Kapitel 26 - Marteens Rache

    Kapitel 27 - Der Junge aus dem Waisenhaus

    Kapitel 28 -Ruhige Tage

    Kapitel 29 - Am Hafen

    Kapitel 30 - Die fünf Türme

    Kapitel 31 - Durm

    Kapitel 32 - Der Sohn der Stadt

    Kapitel 33 - Seenot

    Kapitel 34 - Im Nebel des Berges

    Kapitel 35 - Der Plan des Meisterdenkers

    Kapitel 36 - Gipfeltreffen

    Kapitel 37 - Die Schlacht um Durm

    Kapitel 38 - Die Wege vereinen sich

    Kapitel 39 - Neue und alte Feinde

    NACHWORT

    Prolog - Órafar Normir - 51 Jahre zuvor

    Wie sieht Trauer aus, wenn niemand mehr übrig ist, um sie zu empfinden? Alles, was übrig war, war Staub. Suppendicker Staub. Er hing als eine Pest über den Trümmern der Stadt, verweigerte mit seiner dämonischen Dichte jegliche Sicht, tauchte die Umgebung in ein schändliches, wüstenrotes Licht wie von einem Filter gedämpft.  Wären noch Menschen hier gewesen, so hätte sich der Staub wohl bazillenhaft in ihren Kehlen eingenistet, sie ausgedörrt bis nur noch knöchernes Husten erklang. Doch das war nicht möglich. Denn niemand war hier. Órafar Normir war eingetroffen.

    In der Geschichte Niradas war Órafar Normir, die nullte Stunde, erst dreimal vorgekommen. Das erste Mal - so lange vergangen, dass noch niemand die Zeit gemessen hatte – war sie in Form dreier mächtiger Urzeitkreaturen aufgetreten. Das zweite Mal war sie so verheerend ausgefallen, dass die Menschheit jegliche Gedanken daran verbannt und diesen Teil ihrer Geschichte schwarz gelassen hatte. Nur obskure, teilweise gar nicht so fantasielose Gerüchte überlebten in den Büchern.

    Das dritte Mal war heute.

    Órafar Normir gilt als die schlimmste anzunehmende Katastrophe, ein Tag der alles ändert. Eine Begebenheit, die ganze Familien und Generationen auslöschen kann, oder sogar ganze Zivilisationen wie sich heute erwies.

    Die Hauptstadt war so unvorbereitet von ihrem Untergang getroffen worden, dass sie schlichtweg davon gespült wurde wie eine Flaschenpost auf stürmischer See. Die einstmalige Pracht, errichtet über viele Jahrhunderte mit Muße, törichter Extravaganz und Herzblut, sie war in einem Hauch vom Gesicht der Erde geblasen worden. Was heute noch niemand zu beurteilen vermochte, war, dass die heutige Órafar Normir vielleicht nicht die schwerwiegendste der drei nullten Stunden war, aber die mit den schwerwiegendsten Folgen. Denn jeder Untergang des einen bringt Gelegenheiten für den Aufstieg eines anderen mit sich.

    Eine Gestalt, von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Umhang gehüllt, trat zwischen den Trümmern auf die Reste der einstmaligen Hauptstraße. Erhaben, unberührt von der Zerstörung um sie herum, setzte sie gemächlich einen Fuß vor den anderen. Ihre Gangart hatte etwas Zerstreutes an sich, als wisse sie genau, wo sie stand, konnte es jedoch nicht begreifen.

    Die Gestalt sah zu, wie ein gebrochenes Windfähnchen im hilflosen Versuch, das Feuer zu löschen, das es erfasst hatte, verrückt vor sich hin rotierte, während die Flammen es langsam zerlegten wie ein vierblättriges Kleeblatt. Der Matsch auf dem Boden stank widerlich und ließ der Gestalt endgültig klar werden, dass die Stadt gebrochen war. Noch vor wenigen Stunden wäre dieses Zeichen der Verwahrlosung in einer Gesellschaft, die Reinheit und Hygiene beinahe bis zur Besessenheit vollstreckte, umgehend beseitigt worden. Jetzt war das nicht mehr der Fall. Ein gebrochenes Wasserrohr versprühte wie im Wahn seine Füllung. Eine goldene Glocke, einst Aushängeschild der vierten Kapelle, lag gespalten und zur Schmucklosigkeit verdammt auf dem aschfahlen Stumpf einer stattlichen, gefallenen Eiche.

    Dann sah die Gestalt die Leichen. Drei tote Männer in festlichen, zerfetzten Gewändern mit Rußflecken auf ihren glatt rasierten Gesichtern lagen ehrlos unter den Steinen eines Hauses. In den Überresten einer geplatzten Glasscheibe sah die Gestalt ein junges Mädchen, das schon fast nicht mehr als solches bezeichnet werden konnte. Die Stadt würde sich nie wieder von diesem Unglück erholen.

    Doch die Gestalt hatte keine Gefühle. All das Elend war ihr vollkommen gleichgültig. Und während unweit von ihr die Reste eines majestätisch angelegten Brunnens in sich zusammenfielen, lächelte sie. Denn die Essenz von Órafar Normir ist und bleibt, dass jeder Untergang des einen Gelegenheiten  für den Aufstieg eines anderen mit sich bringt. Und die Gestalt würde diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Ihr Zeitalter sollte anbrechen.

    Kapitel 1 - Der Weise

    „Wir schaffen es einfach nicht mehr!", sagte Tringard entschieden. Zustimmendes Gemurmel machte sich breit.

    Es waren acht Männer in der Burg. Das Licht der Fackeln schimmerte matt in der Dunkelheit des glanzlosen Raums mit nackten Steinwänden. Alle scharten sich um den Weisen Jomera. Auf seinem Gesicht lag ein nachdenklicher Ausdruck, während er sich ruhig anhörte, was die Horde unruhig durcheinander rufender Männer ihm zu sagen versuchte. Erst jetzt ergriff er das Wort, und sofort kehrte absolute Stille ein. Seine Stimme klang alt und ein wenig zittrig, doch sie enthielt eine Würde und Autorität, die die Männer verstummen ließ.

    „Bleibt ruhig." Falls man sich mehr von dem hageren Alten erhofft hatte, wurde man enttäuscht.  Das merkte auch Tringard, doch er wollte nicht locker lassen.

    „Bleibt ruhig?, wiederholte er schnaubend. Seine Stimme bebte. „Wir sind jahrelang ruhig geblieben und haben zugesehen, wie der Fürst über unser Land hergezogen ist! Wir haben jahrelang den Schutztribut zahlen müssen, den er uns aus den Rippen wringt als wären wir nasse Waschlappen! Jahrelang! Bald ist er wieder fällig, und ich frage Euch, was wir dann tun sollen, Jomera. Wir haben keinen Za (einheimische Währung) mehr übrig, und Ihr wisst genauso gut wie wir, dass er das nicht akzeptieren wird. Der Fürst wird ganz Imigenien in Schutt und Asche legen. Wir werden alles verlieren- das wisst ihr genauso gut wie wir- aber Ihr gebietet uns, ruhig zu bleiben? Einige der Männer nickten zustimmend und grummelten unverständliche Worte in ihre Bärte. Der Weise sah Tringard durchdringend an. Dann erfüllte die Ehrfurcht gebietende Stimme wieder den Raum.

    „Nun, Tringard. Du hast einmal mehr bewiesen, dass du vielleicht heißblütig, aber keineswegs klug bist. Tringard blickte beschämt zu Boden und lief rot an. „Einen guten Krieger macht aus, dass er Weisheit und Kraft zu vereinen weiß. Sei es drum, du bist noch sehr jung, und es sei der Jugend verziehen, sich auch einmal im Ton zu vergreifen. Er klang nicht unfreundlich, doch es schwang ein merklich tadelnder Unterton in seinen Worten mit.

    „Verzeiht mir, Jomera", sagte Tringard kleinlaut, obwohl er auch ein wenig trotzig dreinblickte. Der Alte ging nicht darauf ein.

    „Nein, wenn ich sage, bleibt ruhig, meine ich selbstverständlich nicht, dass ihr tatenlos zuschauen sollt, wie der Fürst von Dragon unser Imigenien in Kummer und Armut versenkt."

    „Sondern?", fragte Kigror, Statthalter von Imigenien, der Hauptstadt des Landes Ankorila. Er blickte von seinem Sohn Tringard zu dem Weisen, der nun mit außergewöhnlich gradem Rücken vor den Männern auf- und abschritt.

    „Ich meine damit, dass der, der eine Lösung sucht, die Antwort nur finden kann, wenn er auf sich selbst hört." Die Männer schauten sich verwirrt an, als habe Jomera plötzlich eine fremde Sprache gesprochen.

    „Aber, verzeiht Herr, sagte Simlon, der Kleinste und Jüngste der Gruppe, offensichtlich nervös. Sein weiches, jungenhaftes Gesicht färbte sich in ein aufgeregtes Rot unter dem dunkelblonden mittellangen Haar, von dem ihm eine dünne Strähne in die Stirn fiel. In seinen runden, schimmernden Augen standen Unschuld und Erfahrungslosigkeit geschrieben, aber nichts von der Engstirnigkeit und Furcht vor Veränderung, die alle anderen Anwesenden mit sich trugen. Es war nicht unbedingt Abenteuerlust, aber die Begierde nach Wissen über alle Facetten des Lebens, der Wille die Welt zu sehen, wenn sich nur jemanden erübrigte, sie ihm zu zeigen. „Ich verstehe nicht. Was meint Ihr mit 'auf sich selbst hören'?

    „Schweig, Simlon, fuhr Kigror ihn an, „du bist nicht befugt das Wort an… Doch der Weise ließ ihn mit einer weiteren Geste verstummen und betrachtet den Jungen vor sich genauer. Er wirkte ganz aufgeregt und sein leicht schräger Mund zuckte unwillkürlich. Jomera lächelte geduldig, und seine gütigen Augen leuchteten in einem fantastischen Azurblau über die habichtartige Nase hinweg.

    „Es ist ganz einfach, Simlon. In Ruhe liegt Kraft. Wer sich selbst kennt, kann sie finden. Ohne dass irgendjemand richtig folgen konnte, fuhr er fort. „Ich hätte euch nicht ohne Grund aus der Stadt zu mir gebeten. Ich weiß ganz genau, was es zu tun gilt.

    „Könnt Ihr uns dann an Euren Plänen teilhaben lassen, Weiser?", fragte Kigror vorsichtig. Der Alte schüttelte ruckartig den Kopf.

    „Nein, heute wollte ich mich nur davon überzeugen, dass meine Vermutungen zutreffen. Er ließ offen, ob dies geschehen war. „Ich denke, in drei Tagen werde ich mir zurecht gelegt haben, wie es weitergehen soll. Doch das kann ich nur alleine und in äußerster Ruhe, deshalb bitte ich euch nun zu gehen. Verwundert öffnete Kigror den Mund, und auch Tringard schien sich nicht damit abfinden zu wollen.

    „Geduld, Kigror, sie schadet dir nicht. Schon bald wird die Macht des Fürsten auf die Probe gestellt werden. Geht nun, und vergesst nicht, euch Zeit zu nehmen, einmal auf euch selbst zu hören. Vielleicht findet einer von euch die Antwort ja dann selbst."

    Eine dürre Frau stand über einem kleinen Feuer und rührte in einem Suppenkessel, aus dem ein  wohlriechender Duft strömte, als Simlon aufgeregt die kleine Hütte betrat. Verwirrt schaute sie auf.

    „Simlon, du bist schon zurück?", fragte sie und schob sich ihr buschiges, zerzaustes schwarzes Haar aus dem Gesicht, das sehr hübsch sein musste, wenn man die Armut davon abwaschen würde. Simlon setzte sich an den robusten Holztisch und schnaufte durch.

    Die Hütte bestand aus einem einzigen, kargen Raum: Neben dem Holztisch machten zwei Betten, ein rostiger Ofen und die glühende Feuerstelle das gesamte Inventar aus. Damit war der spärliche Platz auch fast vollkommen ausgefüllt. Die Hütte selbst war erbaut aus einer Mischung aus unbehauenem Stein und morschem Holz, und der Schnee und die Kälte, die die eisige Winternacht mit sich brachte, kroch schleichend durch kleine Ritzen in den Wänden.

    Die Frau trug den Suppenkessel unter einiger Anstrengung zum Tisch hinüber und stellte ihn vor Simlon ab.

    „Was ist das?", fragte er geistesabwesend.

    „Eintopf", sagte die Frau kurzatmig und setzte sich auf den zweiten von drei alten Stühlen, der trotz ihres Fliegengewichts zu knarren begann. Sie füllte einen Teller mit einer grünlichen Pampe aus Bohnen, Lauch und anderem Gemüse, dessen Duft Simlon nicht zu deuten wusste.

    „Danke, Mutter", sagte Simlon knapp und nahm den Holzlöffel in den Mund. Während er aß, herrschte Stille in der Hütte, nur die unregelmäßigen Windzüge sangen eine schräge Melodie. Erst als Simlon fertig war, begann seine Mutter zu reden.

    „Und wie ist es gelaufen? Der Weise lädt die Krieger Imigeniens nur so selten in seine Burg ein, und du bist gerade einmal fünfzehn. Simlon fand, dass sie ein wenig ungesund aussah und ihre Stimme war während seiner Abwesenheit noch heiserer geworden. Er schwieg. „War es aufregend, so ganz alleine mit den Erwachsenen? Ich weiß noch, wie sehr sich dein Vater immer auf die Treffen mit Jomera gefreut hat. Dieses stolze Leuchten...ich kann mich bis heute daran erinnern. In ihrer Stimme lag ein leichtes Zittern.

    „Hast du dir sehr große Sorgen um mich gemacht?" Simlons Frage schien sie völlig unvorbereitet zu treffen und ihr enthusiastisches Lächeln fiel enttarnt in sich zusammen. Sie zögerte einen Moment, doch dann kicherte sie in einer untypisch hohen Stimmlage.

    „Nein, natürlich nicht. Wie kommst du darauf?"

    „Du weißt schon, sagte Simlon vorsichtig, „weil er damals nicht zurückgekehrt ist.

    „Das mit deinem Vater war ein Unfall. Ein tragischer Unfall. Und überleg dir nur, wie stolz er heute auf dich wäre. Du musst ihnen wirklich etwas bedeuten, wenn sie dich schon so früh mitnehmen." Sie stand abrupt auf, und der Stuhl scharrte über den Boden. Simlon dachte für einen Moment an seinen Vater. Als er drei Jahre alt gewesen war, war er auf dem Weg von der Stadt zur Burg des Weisen von einem Schneesturm überrascht und nie gefunden worden. Simlon besuchte sein leeres Grab auf dem weißen Friedhof gemeinsam mit seiner Mutter einmal die Woche.

    „Ich bin ja wieder da", sagte er tonlos und blickte prüfend auf den Rücken seiner Mutter, während sie den Suppentopf in eine Ecke räumte. Er sah ihre spitzen Schulterblätter durch den dünnen Stoff ihres Oberteils arbeiten, als sie das Feuer löschte.

    „Ich lege mich hin, entschied sie, „und das solltest du auch tun.

    „Willst du nicht wissen, was der Weise gesagt hat?", fragte er sie verwundert, während sie nun auch die Kerzen auspustete, die auf dem Tisch brannten.

    „Erzähl es mir morgen, ja?", sagte sie und schenkte ihm ein so liebevolles Lächeln, wie nur sie es konnte. Dann legte sie sich in ihr hartes Bett, hustete erst für einige Minuten und dann war nur noch ihr gleichmäßiger schnaubender Atem zu vernehmen.

    Auch Simlon war müde, der Tag war sehr lang gewesen, immerhin dauerte der Weg von Imigenien bis zum Schloss des Weisen an die drei Stunden, und der Rückweg war noch mal genauso lang. Aber er war zu aufgewühlt um zu schlafen. Was würde der Weise ihnen verkünden? Simlon hatte das Gefühl, der kalte Wind würde ins Innere dringen, denn plötzlich hatte er eine Gänsehaut.

    Eisige Kälte riss Simlon aus einem unruhigen Schlaf. Er war auf dem Tisch eingeschlafen, und als er den Kopf aus den Armen hob, erblickte er Tringard, der mit missbilligendem Blick in der offenen Tür stand. Neben ihm stand Kigror, die beiden sahen sich so ähnlich, dass sie Zwillinge hätten sein können, wenn in Kigrors Gesicht nicht einige feine Falten zu sehen und sein Haar nicht etwas schütterer gewesen wäre. Sie sahen ohne Zweifel deutlich gepflegter als die Mehrheit der Bevölkerung aus. Hastig erhob sich Simlon aus seiner unwürdigen Haltung, wischte sich grob einen Speichelfaden aus dem Gesicht und verbeugte sich tief.

    „Guten Morgen, Herr!" Er sah, dass Tringard überheblich den Kopf schüttelte, und Wut überkam ihn. Er konnte diesen Kerl nicht ausstehen.

    Kigror nickte ungeduldig. „Der Weise hat am Morgen Kontakt zu mir aufgenommen und mir verkündet, dass er uns schon heute wieder auf der Burg erwartet. Dieselben Männer. Dich eingeschlossen. Also, mach dich bereit, wir treffen uns in einer halben Stunde hinterm Südtor", sagte er ohne jede Herzlichkeit, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.

    „Bist du dir sicher, dass du die da allein lassen kannst?, sagte Tringard und nickte abfällig zu dem Bett, in dem Simlons Mutter schlief, „Sieht krank aus. Simlon machte einen Schritt zur Seite vor das Bett seiner Mutter.

    „Sie wird bestimmt zurecht kommen", sagte er, bemüht nicht unfreundlich zu klingen. Er hatte genug davon, dass Tringard ihn schikanierte, doch er wusste auch, dass er es sich nicht erlauben konnte, respektlos zu sein, immerhin war Tringard zwei Jahre älter als er und der Sohn des Statthalters.

    „Das wage ich zu bezweifeln, sie sieht aus als würde sie sich mit den Hunden das Essen teilen. Und um ehrlich zu sein, weiß sowieso niemand, warum wir dich überhaupt mitnehmen. Es wäre für alle das Beste, wenn du zu Hause bleiben würdest."

    „Das würde ich tun, wenn Euer Vater es mir gebietet", entgegnete Simlon ruhig. Er musste sehr darauf bedacht sein, was er sagte, denn ihm war klar, dass Tringard nur nach einem Grund suchte, ihn da zu lassen. Den Gefallen werde ich ihm nicht tun, sagte er sich entschlossen. Tringard schien verstimmt, aber gab nicht nach.

    „Mein Vater hat auch keinen Schimmer, aber Jomera will es so. Er muss senil geworden sein, unser Weiser, schließlich bist du nicht mal dazu in der Lage, durch Magie Wasser zu erhitzen." Im selben Moment entflammte eine kleine Stichflamme unter der Feuerstelle und die darüber baumelnde Teekanne begann schwach zu summen.

    „Vielleicht habt Ihr Recht", entgegnete Simlon und schaute ihm direkt in die Augen. Tringard schien irritiert, doch er entschied offenbar, dass es Zufall gewesen sein musste.

    „Respekt! Als Hausfrau wärst du sogar eine Bereicherung für diese Welt. Ich muss los, aber du kannst mir später gerne noch ein paar Tricks zeigen."

    „Es wäre mir eine Ehre", sagte Simlon. Tringards Umhang flog durch die Luft, und er stapfte seinem Vater hinterher, ohne die Tür zu schließen. Simlon ließ die Schultern sinken und atmete aus. Normalerweise war er nicht besonders schlagfertig, man konnte ihn gar als konfliktscheu bezeichnet. Er war ein stiller Junge, manch einer mochte seinen Charakter gar als unterwürfig oder demütig ansehen, aber Simlon selbst sah das anders. Er trug lieber stumme Verantwortung, und handelte lieber als zu sprechen. Obwohl er sich oft wünschte, ein wenig mutiger zu sein und mehr für sich einzustehen, so hatte er doch meistens das Gefühl sich auf sich selbst verlassen zu können. So wie dieses Mal: Er hatte einen Sieg errungen. Sehr zufrieden mit sich drehte er sich um und bemerkte, dass seine Mutter ihn mit denselben klaren blauen Augen anstarrte, die er selbst auch hatte. Sie hustete kurz und lächelte.

    „Dem hast du es richtig gezeigt!", sagte sie stolz. Ihre Heiserkeit schien über Nacht besser geworden zu sein.

    „Das ist kein Wettbewerb, Mutter", entgegnete Simlon verlegen.

    „Stell dein Licht nicht immer unter den Scheffel. Du bist ein einzigartiger Junge, Simlon, mit einem aufgeweckten Geist und über dein Können brauchen wir nicht zu diskutieren. Das kann man von diesem verzogenen Tringard nicht sagen. Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein würde dir nicht schaden, Junge."

    „Ich weiß", sagte er knapp, denn er wollte es nicht schon wieder hören. Diese Art von Konversation führten die beiden häufig.

    „Was für ein verzogener Schnösel. Und Kigror merkt nicht einmal, wie schlecht sein Sohn sich gegenüber seinen Untergebenen benimmt. Nicht zu glauben."

    „Mutter…"

    „Es ist doch so! Ich bin mir sicher, dass du bei Weitem mehr Talent hast als er." Simlon wollte ihr nicht widersprechen, obwohl das dann wohl doch ein bisschen weit ging. Dennoch tat es gut, es zu hören.

    „Nun, geh aber", drängte seine Mutter ihn.

    „Was? Oh…jaah, klar." Er schritt zur Tür.

    „Warte, Simlon!", stoppte sie ihn noch einmal. Als er sie ansah, stellte er überrascht fest, dass sie besorgt wirkte. Lag es daran, dass sie gerade erst aufgewacht war, oder an ihrem Husten? Warum sonst wirkten ihre Augen so…feucht?

    „Was ist denn los?, fragte er unsicher, doch als habe man sie ertappt, begann sie breit zu lächeln. „Es ist nichts. Geh nur. Sie machte eine scheuchende Handbewegung.

    „Ich erzähle dir später, wie es war", sagte er mit flauem Gefühl im Magen.

    „Natürlich tust du das. Ich sehe dich heute Abend." Er nickte und eilte hinaus. Für eine Sekunde heulte der Wind durch die offene Tür hinein, doch dann war es still. Und sie konnte endlich weinen. Sie wusste, dass er heute Abend nicht zurückkehren würde, und wenn sie tief in sich hinein hörte, war sie sich nicht einmal sicher, ob das eben nicht vielleicht sogar das letzte Mal gewesen sein sollte, dass sie ihrem Sohn in die Augen geblickt hatte. Ein Hustenanfall befiel sie.

    Simlon spurtete die Straße hinab. Der Schnee auf dem holprigen Steinweg knirschte laut unter seinen Schuhen. Der Weg war nur gut zwei Meter breit, und zu beiden Seiten standen armselige, heruntergekommene Hütten aus Holz, die unter der Last des Schnees beinahe zusammen zu brechen schienen. Jeder Fremde hätte diese Straße für eine unwichtige Gasse  gehalten, doch in Wahrheit war sie eine der größten in der linken Hälfte der Stadt Imigenien. Früher, hatte man Simlon erzählt, hatte es hier anders ausgesehen. Die Straße war in einem guten Zustand gewesen und hatte ein beliebtes Ziel für Reisende und Fremde dargestellt, doch davon war nicht viel übrig geblieben. Die Hütten verloren mehr und mehr an Glanz, und niemand war auf der Straße unterwegs.

    Imigenien war in zwei Hälften geteilt: Die West- und die Osthälfte. Dies hier war die Westhälfte, die Seite der höher gestellten Einwohner. Doch von diesem Vorzug war nichts mehr zu spüren. Niemand, der hier wohnte, war noch wohlhabend, in den Zustand der Häuser war schon lange nichts mehr investiert worden, und die einst schillernde Handelsstadt war verkommen. Nur im Vergleich zur Osthälfte konnte man noch einen Unterschied erkennen. Dort regierte die Armut die Straßen wie ein unbarmherziger Tyrann. Die Stadt war sichtlich am Ende. Vor langer Zeit hatte es, nach Erzählungen der Alten, in der Armenhälfte noch deutlich besser ausgesehen als in der heutigen Westhälfte. Doch seit der Fürst von Dragon an der Macht war und seine Untertanen brutal unterdrückte und ausnahm, war Imigenien ein trostloser Ort geworden, sämtlicher Schönheit beraubt.

    Simlon rieb sich die kalten Hände und hauchte sie mit seinem warmen Atem an. Er mochte die Stadt, sie war seine Heimat, und er kannte nichts anderes. Zwar erzählte man sich von der Pracht und dem Glanz anderer Orte in Nirada, doch Simlon hatte die Stadt nie verlassen. Er fühlte sich wohl hier, gerade seit er vor zehn Jahren aus der Ost- in die Westhälfte gezogen war. Kigror persönlich war damals gekommen und hatte ihm und seiner Mutter verkündet, eine Hütte sei frei geworden, und sie könnten sie jetzt bewohnen. Simlon wusste nicht, wieso er das getan hatte, aber es kümmerte ihn auch nicht. Das Leben war seitdem um einiges einfacher, und obwohl sie eine Menge Sorgen und Nöte hatten, war es nicht mehr so, dass jeder Tag ein Kampf ums Überleben war. Seine Mutter und sein Vater hatten früher immer in der Westhälfte gelebt, doch als sein Vater gestorben war, hatten sie umziehen müssen. Sein Vater…in Momenten wie solchen bedauerte es Simlon zutiefst, ihn nie kennen gelernt zu haben. Niemand wusste genau, was damals geschehen war. Manchmal gab er sich der aberwitzigen Fantasie hin, er könne noch leben, aber man hatte seine zurückgelassenen Sachen und eine Blutspur in den Bergen gefunden. Doch auch sonst war es unwahrscheinlich, dass er nie wieder nach Hause zurückgekehrt wäre, wenn er es irgendwie gekonnt hätte. Seine Mutter sprach nur in den höchsten Tönen von ihm. Es gab überhaupt keinen Grund dafür, warum er einfach verschwunden sein sollte. Ein Schauer, der nichts mit der Kälte zu tun hatte, kroch über Simlons Rücken, und er beschleunigte seinen Schritt.

    Die Straße senkte sich nun ein wenig, und er konnte in der Ferne zwischen den tief liegenden Dächern der Hütten das Südtor erkennen, das die unnatürlich verwinkelte Stadt so wie die anderen drei nach den Himmelsrichtungen benannten Tore vor unerwünschten Eindringlingen schützte. Dort hinaus war er gestern zum ersten Mal in Begleitung der anderen Männer gegangen. Seine Mutter hatte ihn immer davor gewarnt: Hinter diesem Tor lag das Yurza-Moor, das größte und undurchdringlichste Moor ganz Niradas. Sich darin zu verirren, bedeutete den Tod zu finden, und selbst wenn man sich auskannte, konnte man im suppendichten Nebel leicht die Orientierung verlieren. Ein Feuer konnte er mittlerweile durch Magie entzünden, sodass er die Stadt nicht all zu oft zur Suche nach geeignetem Feuerholz verlassen musste.

    Seine Mutter konnte das nicht, denn sie war nicht zauberkundig. In Imigenien  war Magie eine Seltenheit, und wenn jemand sie beherrschte, dann nicht besonders ausgeprägt. Überhaupt gab es nur wenige Stämme, die über magische Kräfte verfügten. Die Mächtigsten von ihnen waren mit Sicherheit die Elfen, die sich in ihr Königreich im Süden zurückgezogen hatten und die Einflüsse aus Dragon so gering wie möglich zu halten versuchten, auch wenn sie dabei zunehmend in Bedrängnis gerieten. Einst hatte ein anderes Volk Nirada regiert - bevor der Fürst von Dragon die Macht übernahm - doch Simlon wusste nicht genau, was es damit auf sich hatte, schließlich war Dragon schon seit fünfzig Jahren an der Macht.

    Als er endlich das große, aber morsch wirkende Südtor erreichte, fiel sein Blick auf das gewaltige Moor, das geheimnisvoll unter einer Nebeldecke verborgen lag. Die Sonne prallte auf die weiße Wand und beleuchtete sie auf magische Weise.

    Hastig eilte er den Steilhang hinter dem Südtor hinab. Die Straße war so zugeschneit, dass es eigentlich keinen Unterschied machte, ob er auf ihr oder neben ihr ging. Also kraxelte er auf direktem Wege hinab, rutschte die glatten Eisplatten hinunter und hielt sich dabei an den ersten Sträuchern fest, die wie neugierige Forscher aus ihrem Schneeversteck hervor lugten. Am Fuße des Hanges angekommen, erblickte er sieben Männer, die mit wehenden Umhängen offenbar ungeduldig warteten.

    „Verzeiht, Herr", schnaufte Simlon laut, als er Kigrors harte Mimik sah. Er war erzogen, immer höflich und respektvoll zu sein. Doch dieses Mal half ihm das nichts.

    „Was hat dich so lange aufgehalten?, fragte der Statthalter barsch, schien jedoch keine Antwort hören zu wollen, denn er wandte sich rasch ab. Nun los, wir wollen nicht noch mehr Zeit verlieren." Tringard grinste höhnisch, und für ein Sekunde hatte Simlon das Bedürfnis, ihm seine Faust in den Mund zu stecken, dann besann er sich, und folgte den im Schnee vorneweg stapfenden Männern. Er ärgerte sich, dass ausgerechnet er als Letzter hatte kommen müssen. Das machte keinen guten Eindruck.

    Leoror, der Dorfschmied, ließ sich zurückfallen und ging nun auf einer Höhe mit Simlon.

    „ Alles in Ordnung, Junge?", fragte er auf seine schroffe Art. Simlon nickte.

    „Ich ärgere mich nur ein bisschen."

    „Das tun wir doch alle, wenn wir Kigror zuhören müssen", lachte Leoror heiser, und klopfte Simlon so hart auf die Schulter, dass er beinahe im Schnee versank. Die beiden waren sich schon oft begegnet. Einmal hatte Leoror Simlon sogar an den See mitgenommen, wo sie gemeinsam geangelt hatten. Er mochte den Schmied und seine grob-herzliche Art.

    Simlon vergrub die Hände in seiner dünnen Jacke und ballte sie zu Fäusten, um die Wärme festzuhalten, dann blickte er zurück auf die Stadt, die auf ihrem Hügel thronte und von den blassen Sonnenstrahlen in ein steriles Weißlicht getaucht wurde. Zu Simlons Überraschung flammte plötzlich eine unverständliche Sehnsucht in seiner Brust auf, fast so als wäre dies ein Abschied. Er schüttelte den Kopf, denn das war natürlich Schwachsinn. Oder etwa doch nicht? Seltsamerweise war er sich da plötzlich nicht mehr so sicher.

    Die verschneite Landschaft änderte sich nicht sonderlich, während sie tiefer ins Land zogen. Einige Eichenhaine mit weißen Hüten standen auf buckligen Hügeln und ein idyllischer Bach plätscherte vor sich hin, sein Wasser mit einer so dünnen Eisschicht überzogen, als habe er eine feine Haut gebildet. Der Tiefschnee bremste ihre Schritte, doch abgesehen davon kamen sie gut voran. Simlon schritt einige Meter hinter den anderen, die sich stumm ihren Weg durch die unbefleckten Felder bahnten. Er fror, denn sein Mantel war nicht dick genug, um dem eisigen Wind zu trotzen, und nun hatte es erneut angefangen zu schneien.

    Die Männer hielten auf einem kleinen Hügel an, sodass Simlon sie einholen konnte. Er spürte, dass Tringard schon wieder einen Kommentar zu Simlons Schwierigkeiten, mit den anderen Schritt zu halten, abgeben wollte, doch Leorors einschüchternder Blick hielt ihn davon ab. Simlon wäre es lieber gewesen, Leoror hätte das nicht getan. Jetzt kam er sich Tringard gegenüber wieder schwach und unselbstständig vor.

    Oben angekommen blickte er von dem Hügel hinab auf die umliegende Schneelandschaft. Zu seiner Linken und Rechten sah er nichts außer einer Horde Shruns, rinderähnlicher Tiere mit langen gebogenen Hörnern und einer buschigen Mähne um den Hals, die im Schnee wühlend nach dem darunter versteckten Gras suchten. Vor ihm jedoch lag ein weiterer Hügel, deutlich höher als der, auf dem sie nun standen, und über und über von einem kleinen Wald bewachsen, dessen Bäume wie mit Kristallen überzogen glitzerten. Simlon wusste, dass auf der Spitze des Berges, versteckt zwischen gewaltigen Kiefern, eine alte, voll und ganz aus Stein erbaute Burg stand - die Burg des Weisen.

    „Wir benötigen noch etwa eine Stunde, sagte Kigror mit abschätzendem Blick in die Ferne, „Und wir sollten uns beeilen. Es sieht nach Sturm aus. Tatsächlich hatte sich der Himmel in nicht allzu weiter Ferne bedrohlich verfinstert, wie Simlon Stirn runzelnd feststellte.

    Sie machten sich an den Abstieg und schritten zügig über das Land. Es schneite nun heftiger, sodass sie beinahe nichts mehr sehen konnten, doch offenbar kannten die Erwachsenen den Weg sehr gut. Sie hatten den Wald bereits fast erreicht, als auf einmal ein Luftschlag über ihnen die Stille durchbrach. Simlon sah auf, und Schnee blies in seine offenen Augen. Er konnte nichts erkennen. Dann war es wohl nichts…

    Doch plötzlich kippte Noror, der Bäcker der Stadt, zur Seite. Der Schnee färbte sich wässrig rot. Es kam so überraschend, dass Simlon zunächst nicht realisierte, was geschehen war. Dann breitete sich das Grauen in ihm aus. Ein sauberer Schnitt hatte Norors Kehle aufgeschlitzt. Hier kam jede Hilfe zu spät.

    Panik brach aus unter den verbliebenen Männern. Kigror und Tringard zogen ihre Schwerter, und im nächsten Moment hielt auch Leoror eine rostige Axt in der Hand.

    „Simlon, deine Waffe", zischte der Schmied alarmiert und weckte Simlon aus seinem Schockzustand. Er zwang sich, den Blick von dem toten Körper abzuwenden, und fummelte ungeschickt an dem Lederriemen um seinen Bauch herum, an dem sein Messer befestigt war. Erneut war der Luftschlag zu hören, und instinktiv sprang er zur Seite. Keine Sekunde zu spät. Ein düsterer Schatten fuhr wie eine Sense mit einem Sirren durch die Luft und verfehlte ihn nur knapp. Aber dieses Mal hatte er auch gesehen, was sie da angriff, und seine Brust schnürte sich vor Furcht zusammen.

    „Srunran!", hörte er Kigror voller Entsetzen ausrufen, doch da hatte das Wesen bereits in der Luft kehrt gemacht und flog erneut auf sie zu. Das Srunran, eine Art widerlich dürrer Flugsaurier, spannte seine Flügel beinahe fünf Meter und kam mit kraftvollen Schlägen näher. Seine grünliche Panzerhaut wirkte faulig, und es funkelte sie aus vier tiefschwarzen Augen an, als es den Kopf senkte, um sie mit dem giftigen Horn auf seinem Kopf frontal attackieren zu können.

    Die Männer sprangen durcheinander, als das Biest krächzend durch ihre Mitte fegte und den Schnee auffächerte. Simlons Augen weiteten sich noch geschockter, als er jetzt erkannte, dass das Srunran einen Reiter hatte. Die schwarze Gestalt wirkte unmenschlich, und sie schwang eine lange Lanze, die mit einer solchen Wucht auf Kigrors Schwert prallte, dass dieser die Kontrolle verlor, zu Boden fiel, und das Schwert fallen ließ.

    „Flieht in den Wald", brüllte Leoror laut, als das Srunran vorbeigezogen war, und mit einem geschmeidigen Bogen wendete.

    „Wer…wer ist das?", fragte Simlon Angst erfüllt und sah, wie der riesige Reiter seine mit Norors Blut verklebte Lanze erneut hob.

    „Ein Drago-Soldat. Nun, komm!", rief Leoror ungeduldig und zog Simlon mit sich, als dieser gerade Kigrors Schwert auflas. Ein Drago-Soldat? Die mächtigen Schergen des Fürsten, weder Mensch, noch Tier, sondern nur eine leere Hülle des nackten Grauens und ausgestattet mit übernatürlichen Fähigkeiten? Wieso war eine solche Kreatur hinter ihnen her?

    Sie hatten den Fuß des Hügels und damit den Wald fast erreicht, der sie zumindest vor den Luftangriffen schützen würde. Erneut spürte Simlon den Luftzug und ließ sich mit brennenden Beinen auf die Knie fallen, als das Srunran über ihn hinweg fegte. Vor ihm sah er, wie Leoror dasselbe tat, und dann, in dem Moment, als die Bestie unmittelbar über ihnen war, blind in die Luft stach. Ein widerliches Grunzen war zu hören, und eine Blutschnur begann sich durch den Schnee zu ziehen. Erbittert versuchte das Srunran wieder an Höhe zu gewinnen, doch seine Flügel schlugen nun schneller als sein Herz. Schwerfällig krachte es zu Boden, wirbelte Flocken auf wie bei einem eintönigen Blütenregen, und schleuderte den Drago-Soldaten von seinem Rücken.

    „Wir schaffen es", rief jemand freudig, als der Wald vor ihnen näher kam, und auch Simlons Herz machte einen Satz.

    Doch plötzlich sackte er ein und verlor das Gleichgewicht. Hart schlug er auf dem Boden auf, sein rechter Fuß war offenbar tief in ein Schneeloch gerutscht. Er zog mit aller Kraft, doch sein Fuß wollte sich nicht befreien lassen. Die anderen hatten es entweder nicht bemerkt, oder wollten es um jeden Preis nicht merken. Sie verschwanden im rettenden Wald, der so zum Verzweifeln nah vor ihm lag.

    Erneut ruckelte er an seinem Fuß und fluchte, weil es nichts half. Magie, fiel ihm ein und er begann sich zu konzentrieren.

    „Apolyia (Befreien!)" sagte er intuitiv. Tatsächlich lockerte sich der Schnee, und er konnte mit vor Angst und Adrenalin beinahe berstendem Herzen sein Bein befreien. Er sprang auf und rannte in Richtung Wald, doch ein Geräusch hinter ihm machte ihm bewusst, dass er nicht mehr alleine war. Mit dunkler Vorahnung drehte er sich um. Vor ihm stand der Drago-Soldat. Die Lanze schliff sanft durch den Frischschnee.

    Es war Kigror, der den Weisen als erster sah. Er kam den Abhang vor seiner Burg hinunter geeilt und hechtete auf die Gruppe zu.

    „Oh, Weiser", begann Kigror, doch der Weise unterbrach ihn.

    „Was ist passiert?, fragte er hastig und sein Blick fuhr von Gesicht zu Gesicht. „Und wieso seid ihr nur zu sechst?

    „Ein Drago-Soldat, keuchte Kigror atemlos. „Noror hat sein Leben gelassen und…ja, wo ist denn der Junge?

    „Simlon?"

    „Ja, eben war er noch bei uns. Ein Glück, dass es niemand…" Doch da hörte ihn der Weise bereits nicht mehr. Er eilte den Hang hinunter. Hoffentlich kam er nicht zu spät.

    Mit weit aufgerissenen Augen starrte Simlon das Wesen vor sich an. Der Drago-Soldat war riesig, größer als zwei Meter, sein Körper in eine schwarze Kutte gehüllt, die bis über seine Füße fiel und gespenstig durch den Schnee waberte. Simlons Blick fiel auf die Brust des Soldaten, auf der in dunkelroter Farbe ein Emblem eingestickt war: Zwei grausame Monster, die gegeneinander zu kämpfen schienen - das Wappen Dragons! Bedrohlich kam der Drago-Soldat näher, und Simlon sah die aschfahle Haut unter der Kapuze, die sein Gesicht beinahe völlig verdeckte. Die langen Finger umklammerten die Lanze nun fester. Er sah noch viel furchtbarer aus, als Simlon es sich vorgestellt hatte. Als hätte der Anblick des Todesinstruments ihn aus seiner Versteinerung gelöst, begann Simlon zu rennen. Er verschwand zwischen den Bäumen, während seine Gedanken rasten. Wie sollte er entkommen? Er wusste, dass es beinahe unmöglich war. Keuchend hastete er durch den Wald, schlängelte sich zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch, und stieß hart mit dem Fuß gegen eine unter dem Schnee vergrabene Wurzel. Er sah sich um, doch er konnte den Drago-Soldaten nirgendwo ausmachen, doch das beunruhigte ihn nur zusätzlich.

    Nun rannte er über eine Lichtung, die zwischen den mit weißen Kleidern geschmückten Bäumen in den Wald geschlagen war und - erstarrte. Genau vor ihm brach der Drago-Soldat aus dem Unterholz und blieb nun stumm in seinem Weg stehen, als sei dies eine zufällige Begegnung. Simlon schluckte, doch sein Mund blieb trocken. Es gab nun kein Entkommen mehr, er würde kämpfen müssen. Er bezweifelte, dass er der Macht Dragons auch nur ansatzweise gewachsen war. Dennoch, er würde sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Er hob Kigrors Waffe. Der Drago-Soldat ließ die Lanze zu Boden gleiten und zog ebenfalls ein Schwert.  Simlon atmete schwer und der kondensierende Atem stieg von seinem Mund in die Luft.

    Der Drago-Soldat kam langsam näher - und hieb völlig unvermittelt zu.

    Der Schlag kam so unerwartet, dass Simlon nur mit Mühe sein Schwert hoch halten konnte. Sein ganzer Körper bebte, als die Klingen sich trafen. Der Schlag war unglaublich hart, und doch schaffte es Simlon, ihn einigermaßen gut zu parieren. Er schöpfte neues Selbstvertrauen.

    Den nächsten Angriff startete er selbst, und es war ein guter Angriff. Zwar wehrte der Soldat die Schwertstöße problemlos ab, doch er wich zurück. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass man ihm Paroli bieten könnte. Auch Simlon selbst war vollkommen überrascht über seine Fähigkeiten, es schien, als habe sich das harte Training, das er allein im Wald mit einem zurecht geschnitzten Stock absolviert hatte, ausgezahlt. Er nutzte den Moment der Verwunderung aus, um erneut zuzuschlagen. Schützend hob der Soldat seinen Arm und wich zurück, doch Simlon spürte, wie er durch den Stoff der Kutte schnitt und ihm den Arm aufritzte. Schwarzes Blut quoll aus der Wunde und tropfte in den Schnee wie Tinte. Doch der Soldat schien nicht besonders angeschlagen, im Gegenteil. Mit einem Ruck schoss er nach vorne und stand wieder mit rasselndem Atem kampfbereit vor Simlon, der das Schwert mit beiden Händen umklammert hielt.

    Dann griff der Soldat erneut an, und Simlon machte sich bereit, doch anstatt wie angetäuscht das Schwert auf ihn niedergehen zu lassen, ballte er die andere Hand zusammen, und Simlon wurde von einer unsichtbaren Kraft von den Füßen gerissen. Hart schmetterte er an einen Baum und sank atemlos zusammen. Offenkundig beherrschte der Drago-Soldat die Magie, und zwar nicht nur so laienhaft wie er selbst. Er wollte aufspringen, doch der Soldat war zur Stelle, und bevor Simlon sich sammeln konnte, flammte ein unglaublich stechender Schmerz in seiner Schulter auf, als das Schwert seinen Arm traf.

    Mit schummrigem Gefühl hob er die Finger an die Wunde - sie war tief und Blut quoll daraus hervor. Ihm wurde schwarz vor Augen.

    Erneut wandte der Soldat einen Zauber an, der Simlon hart zurück  gegen einen Baum schleuderte. Kraftlos sackte er zusammen. Sein Kopf war leer, er war vollkommen verausgabt. Und er sah nichts außer der drohenden Gestalt vor sich.

    Der Schneesturm wütete nun wild, die eisigen Böen wirbelten um sie herum und schienen sie anzustacheln. Der Soldat stand über ihm, und obwohl er sein Gesicht nicht sah, wusste Simlon, dass sein erbarmungsloser Blick auf ihm ruhte.

    Langsam hob der Soldat das Schwert…dann zerfiel er in Stücke. Er zerbröselte förmlich vor Simlons Augen, und alles was von ihm übrig blieb, war schwarze Asche, die vom Wind davongetragen wurde. Simlon lächelte beseelt. Das war nicht real. Er musste bereits tot sein. Er schloss die Augen und verlor das Bewusstsein.

    Zwischen den Bäumen stand der Weise Jomera mit einer erhobenen Hand. Er hatte den Drago-Soldaten mit einem einzigen Zauber außer Gefecht gesetzt, doch das interessierte ihn nicht, er war nur froh, noch rechtzeitig gekommen zu sein. Ruhigen Schrittes ging er auf Simlon zu und untersuchte seine Schulter.

    „Ia iamoai tair (Ich heile dich; zweiter Heilzauber)", flüsterte er, und prompt verschwand die Wunde, als wäre sie nie da gewesen. Nur das Blut im Schnee und das zu Boden gefallene Schwert des Soldaten zeigten, dass hier gerade ein Kampf stattgefunden hatte. Der Weise ließ den bewusstlosen Simlon in die Luft aufsteigen, sodass er auf Hüfthöhe neben ihm herschwebte, und führte ihn so zur Burg zurück.

    Simlon erwachte.

    Er war in einem dunklen Raum und lag auf etwas Weichem, wahrscheinlich einem Bett. Er griff sich an den Kopf und überlegte. Wie war er hierher gelangt?

    Dann fiel ihm der Kampf mit dem Drago-Soldaten wieder ein, wie er ihn an der Schulter verletzt und dann zum entscheidenden Schlag angesetzt hatte. Und dann war er zu Staub zerfallen? Das konnte nicht sein, vermutlich hatte er sich das eingebildet. Der Soldat musste ihn gefangen genommen haben. Doch der Raum wirkte nicht wie ein Verlies, im Gegenteil, er wirkte recht gemütlich. In diesem Moment drangen Stimmen von außen an sein Ohr. Er rutschte vom Bett und ging auf eine Tür zu. In diesem Moment öffnete sie sich von außen, sodass sie Simlon beinahe an den Kopf geknallt wäre.

    Jomera trat ein und lächelte ihn an.

    „Weiser? Ihr…?", sagte Simlon verwirrt und erinnerte sich, dass er sich verbeugen sollte. Doch Jomera winkte ab und symbolisierte ihm mit einer stummen Geste, ihm zu folgen. Neugierig trat Simlon in einen hell erleuchteten Saal, der viermal so groß war, wie Simlons Haus, und doppelt so hoch. Zunächst fiel ihm die Abwesenheit jeglicher Fenster auf. Die Wände waren schmucklos, durch und durch aus grauem Stein, doch sie hatten etwas Erhabenes, wie Simlon fand. Beleuchtet wurde der Saal von drei gewaltigen Kronleuchtern, auf denen lichterloh eine Reihe von Kerzen brannte, deren Wachs ab und an zu Boden tropfte.

    Nun sah er auch die anderen Imigenier um einen großen Holztisch sitzen, der als einziges Inventar seltsam unnötig in dem sonst vollkommen leeren Raum wirkte.

    Der Weise bot ihm schweigend einen Platz an dem Tisch an, und Simlon ließ sich neben Leoror nieder, der ihm sanft aber herzlich auf die Schulter klopfte.

    „Willkommen im fensterlosen Saal", verkündete der Weise und blickte in die Runde der Männer.

    „Weiser, ich danke Euch, sagte Kigror und klang scheinbar ein wenig verdrossen, „wenn ich auch nicht wissen mag, warum Ihr mit Euren Verkündungen warten wolltet, bis der Junge wach ist- verzeiht mir- so ist er es nun und Ihr könnt uns an Euren Gedanken teilhaben lassen. Der Weise legte die spitzen Finger aneinander, sodass seine viel zu langen Fingernägel aufeinander klackerten und lächelte erneut sein geheimnisvolles Grinsen.

    „Ich musste nicht lange nachdenken, begann er, und Simlon spürte, wie die Spannung im Raum stieg. „Die ernüchternde Wahrheit ist, dass die Möglichkeit, den Fürsten zu besiegen, beinahe ausgeschlossen scheint. Enttäuschtes Gemurmel wurde laut.

    „Und weshalb sind wir dann überhaupt hier?, fragte Tringard spöttisch. „Wenn wir sowieso nichts zu gewinnen haben, weshalb habt Ihr uns dann unser Leben riskieren lassen, um Euch zu treffen? Dieses Mal ließ der Weise die Kritik nicht auf sich sitzen, denn er versetzte Tringard einen eisern tadelnden Blick, der so gestochen scharf war, dass Tringard erschrocken zusammenzuckte.

    „Wirklich, Tringard? Du willst mich schon wieder auf die Probe stellen? Es täte dir gut, deine Gedanken im Zaum zu halten, bis ich fertig gesprochen hat, wenn es nicht unter deiner Würde ist", sagte er sachlich und ohne die Stimme zu erheben, und doch war klar, dass es besser nicht unter Tringards Würde sein sollte, den Weisen aussprechen zu lassen. Tringard vermied eingeschüchtert den Augenkontakt. Simlon schmunzelte.

    „Aber im Grunde, Jomera, hat Tringard nicht Recht?", schaltete sich nun auch Kigror ein wenig beschützerisch ein.

    „Was macht einen wahren Krieger aus?, sagte Jomera, erstmals offenkundig ungeduldig. „Dass er Weisheit und Kraft zu vereinen weiß. Das habe ich beim letzten Mal bereits gesagt und unter Weisheit fällt nun mal auch zuzuhören, und nicht nur das zu hören, was man hören will.

    „Wie könnt ihr…", begann Kigror, leicht aufbrausend.

    „Er sagte `beinahe´, sagte Simlon. Ein Unwohlsein breitete sich in ihm aus, als sich alle Köpfe zu ihm drehten, und er wieder errötete, doch seine Stimme blieb stark. „Er sagte, es gibt `beinahe´ keine Möglichkeit, nicht wahr? Das schließt nicht aus, dass es wohl doch eine gibt. Einen Moment dachte er, er läge falsch und habe sich zur Lachnummer gemacht, doch dann seufzte Jomera.

    „Genau das habe ich. Die Wahrheit steckt so oft in nur  einem einzigen Wort. Unterschätzt nie die Macht der Wörter. Er schien sich kurz zu sammeln. „Wie dem auch sei. Die Macht des Fürsten ist durch und durch außergewöhnlich. Auf dem Gebiet der Magie ist er ein übermenschlicher Meister, der von keinem anderen Lebewesen Niradas gestoppt werden kann. Woher diese Macht stammt, ist mir vollkommen unbekannt. Wir wissen nichts. Nur ihre allumfassende Kraft ist real, und sie lässt es unmöglich erscheinen, dass der Fürst jemals von einem Menschen besiegt werden könnte. Simlon schluckte und merkte, wie sich seine Brust zusammen zog bei diesen Worten. Der Weise fuhr fort. „In der Tat hat sich seine Magie im Verlauf der letzten Jahre so bedrohlich entwickelt, dass dieses Unterfangen tatsächlich unmöglich sein dürfte. Zwei jedoch… und er wartete einen Moment, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Zweien könnte gelingen, was für einen unmöglich ist.

    „Was meint Ihr damit, Weiser?" fragte Kigror schnell.

    „Die Legende. Oder Prophezeiung wäre wohl das besser passende Wort. Die Prophezeiung des Einen und der Anderen."

    „Prophezeiung? Was besagt sie?", fragte Kigror begierig und erhob sich halb aus seinem Stuhl.

    „Dass Zweien das gelingen kann, was Einem nicht möglich ist. Sie besagt, dass bevor des Fürsten Macht seine Spitze erreicht, eine neue aufkommen wird, die die des Fürsten herausfordern wird. Zwei Auserwählte werden sich dem Herrscher Dragons in den Weg stellen, und ihr Schicksal entscheidet über das von Nirada." Ein kurzes Schweigen trat ein und die Kerzen flackerten auf.

    „Zwei Auserwählte? Wer? Und wann werden sie sich Nirada offenbaren?" Kigrors Stimme überschlug sich.

    „Ich denke nicht, dass die beiden wissen, wozu sie berufen sind. Und selbst wenn sie es täten, könnten sie uns nicht beide gleichzeitig ihre Identität offenbaren."

    „Wie meint ihr das?", knurrte Leoror.

    „Dazu nämlich, erklärte der Weise ruhig, „müssten sie beide in Nirada sein. Aber so ist es nicht. Einer der beiden befindet sich in der anderen Dimension. Die Männer riefen durcheinander, und auch Simlon war äußerst beunruhigt vom dem, was der Weise gerade gesagt hatte. Es war kein Geheimnis, dass eine solche andere Dimension existierte, und doch war es etwas, vor dem sich jeder zu fürchten schien.

    „Aber wie soll er uns denn von dort aus von Nutzen sein?", fragte Kigror, offensichtlich zornig, als wäre es Jomeras Schuld, dass der Auserwählte nicht bereits neben ihm stand.

    „Indem der andere Auserwählte ihn in seiner Dimension aufsucht und gemeinsam mit ihm nach Nirada zurückkehrt. Ich denke, es soll eine Art Prüfung sein, um die Tapferkeit und das Geschick der Auserwählten auf die Probe zu stellen, ehe sie sich ihrem Gegner als würdig erweisen können."

    „Aber es ist völlig unmöglich, die Dimensionen zu durchqueren, warf Tringard erhitzt ein, „es gibt keinen Weg…

    „ Oh, doch, den gibt es ganz sicher, sagte Jomera seelenruhig, als widerlege er eine äußerst dumme Theorie.  „Sie werden durch die Dimensionstore gehen.

    „Das ist unmöglich, sagte Kigror finster, „Diese Tore sind Legenden! Es gibt sie nicht wirklich.

    „Sie existieren, antwortete Jomera, und Simlon meinte eine Spur Überheblichkeit in seinem Ton festmachen zu können. „Und, wie es der Zufall will, habe ich eines gefunden. Nun hielt die Männer nichts mehr am Tisch, sie standen auf und begannen durcheinander zu schreien.

    „Ruhe, forderte der Weise laut, „es gibt keinen Grund sich gleich wie Barbaren aufzuführen.

    „Aber, Weiser, was Ihr uns damit sagt, ist eindeutig: Der Fürst wird bezwungen werden, und wir können endlich wieder den Frieden genießen", sagte Kigror, nun schallend vor Freude.

    „Genau das, sagte der Weise „sage ich nicht. Die Prophezeiung besagt lediglich, dass eine neue Macht aufkommen wird. Ob sie größer sein wird, als die des Fürsten steht in den Sternen. Die Auserwählten haben einen langen und harten Weg vor sich.

    „Aber wer?, fragte Kigror erneut und begierig lechzend, „wer ist dieser Mann, der unsere einzige Hoffnung ist?

    „Mann?, der Weise lachte, „Welcher ausgewachsene Mann könnte solche Kräfte haben, ohne sie zu bemerken? Nein, die Rede ist von Kindern, Kigror, von Heranwachsenden, die gemeinsam mit ihrer Kraft wachsen können. Du fragst, wer es ist? Nun, das ist der Grund, warum ich euch erneut hier zusammen gerufen habe. Denn er ist unter euch.

    „Dann kann es nur Tringard sein, rief Kigror und klopfte hart auf den Tisch, „nur er ist stark genug, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein! Jubelrufe brachen aus, und die Männer warfen Tringard bewundernde Blicke zu, doch Simlon sah im Gesicht des Weisen, dass das letzte Wort noch nicht gefallen war.

    „Du liegst wieder falsch, Kigror", sagte der Weise, als fände er langsam Gefallen daran, den Statthalter zu belehren. Und im nächsten Moment dämmerte Simlon was er damit sagen wollte.

    „Tringard ist nicht schwach, aber in ihm schlummert nichts von der Begabung, nach der ich so lange Zeit gesucht habe."

    „Aber das bedeutet…", begann Leoror und Simlon sah, wie bei ihm der Groschen fiel, der bei ihm selbst eben schon gefallen war.

    „Richtig. Nicht Tringard ist der Auserwählte. Es ist Simlon."

    Kapitel 2 - Schatten über London

    Der junge, dunkelhaarige Mann mit dem rabiaten Blick lungerte an einer Straßenecke. Er folgte den drei Touristen, die durch die Innenstadt Roms spazierten, nun schon eine ganze Weile. Geduldig wartete er darauf, dass die drei - eine Frau, ein Mann und ein etwa fünfzehnjähriger Junge - von der Straße in eine der vielen verwinkelten Nebenstraßen abbogen, von denen es so viele in diesem Teil der Stadt gab.

    Er war auf die kleine Familie aufmerksam geworden, als der Vater auf einem kleinen Markt seine Brieftasche gezückt und dabei versehentlich mehrere große Geldscheine hatte aufblitzen lassen. Die würde er sich unter den Nagel reißen. Er würde sich einfach den Jungen greifen, ihn ein wenig mit seinem Messer bedrohen, und schon würde sein Vater kuschen. Es war ein routinierter Ablauf für ihn. Und während er im Schatten der glühenden Stadt lauerte, offenbarte sich auch schon die Gelegenheit. Die Frau zog den Mann in eine Seitenstraße.

    „Dort muss es sein, Robert", sagte seine Mutter, Lisa Mayer, aufgeregt. Jamie rollte mit den Augen. Sein Vater hatte deutsche Vorfahren, daher der Nachname, obwohl sie aus England stammten. Jamie störte das nicht. Es gab schlimmere Namen als Jamie Mayer. Vielmehr hingegen störte ihn Rom, oder jedenfalls die Erkundungstouren, die seine Eltern ihm aufzwangen und die ihn wie auf einer Odyssee durch die Innenstadt trieben. Er starrte seine Mutter an, wie sie seinem Vater hitzig den Aufbau einer Therme erklärte, wo dieser doch mehr über Thermen wusste, als über sein eigenes Bad zu Hause. Zunächst noch hatte ihn die Aufgeregtheit seiner Eltern noch belustigt, nun jedoch fand er sie gar nicht mehr sonderlich amüsant. Seine Mutter, eine kleine, zierliche und hübsche Frau, lehrte Geschichte an einer renommierten Londoner Universität und hatte schon immer von einem Familienurlaub nach Rom geträumt. Auch sein Vater war dieser Idee inbrünstig verfallen. Äußerlich war er das genaue Gegenteil seiner Frau: blond, bullig groß und mit einem kurzen Kinnbart, den er trug, weil Jamie ihn davon hatte überzeugen können, dass alle Archäologen, die sich mit antiken römischen Artefakten befassten, ohne einen solchen Bart nicht ernst genommen werden könnten. Allerdings hatte dies zum genauen Gegenteil des Beabsichtigten geführt: Jamie fand, dass er damit aussah wie ein untalentierter Zauberer, der auf Kindergeburtstagen schlecht geformte Luftballontiere an buhende Kinder aushändigt. Trotzdem redete er seinem Vater weiterhin gut zu, wenn dieser auch nur den leisesten Anflug von Zweifel zeigte.

    Jamie war fünfzehn Jahre alt, weder klein noch groß, und hatte relativ kurzes, wuscheliges dunkelblondes Haar, das sich partout nicht zähmen ließ. Aus seinem für sein Alter übermäßig kantigen Gesicht ragte eine spitze Nase mit einigen Sommersprossen hervor, die sich jedoch nur in den Sommermonaten zeigten, und zwei intensiv leuchtende grüne Augen schwenkten lässig hin- und her. Seine Ohren standen ein wenig ab, aber diesen kleinen Makel konnte er verkraften. Man schätzte ihn oft als etwas älter ein, obwohl er selbst nicht so empfand. Er war einfach ein ganz normaler Junge.

    „Weißt du überhaupt, was das für Gebäude sind?", fragte seine Mutter und sah Jamie mit hochgezogenen Brauen an. Er war nie gut in Geschichte gewesen, aber das nur, weil Schularbeit ihn generell nicht interessierte.

    „Heh?", fragte er und zog mit fragendem Blick seine Ohrenstöpsel

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