Der kleine Feigenkaktus
Von Heidi Oehlmann
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Buchvorschau
Der kleine Feigenkaktus - Heidi Oehlmann
Kapitel 1
Die Autobahn war an diesem Mittwochvormittag brechend voll. Es hatte den Anschein, als ob ausgerechnet an diesem Tag jeder, der einen fahrbaren Untersatz besaß, den gleichen Weg nahm wie Lilly. Es war wieder so typisch. Immer wenn sie längere Strecken fuhr, waren die Straßen überfüllt. Vielleicht lag es auch an dem sonnigen Frühlingstag, dass so viele Menschen raus wollten. Die ersten Sonnenstrahlen eines Jahres nutzten die meisten Leute für einen Ausflug. Lilly konnte sich allerdings etwas Besseres vorstellen, als diesen wunderschönen Tag auf der Autobahn zu verbringen. Sie wäre jetzt lieber auf einer Wiese bei einem Picknick gewesen. Dafür hätte sie nicht weit fahren müssen. Wahrscheinlich wäre sie bei diesem Wetter sogar zu Fuß gegangen. Der Stadtpark lag nur wenige Gehminuten von ihrer vorübergehenden Unterkunft entfernt. Natürlich wäre Lilly an dem Tage nicht die Einzige, die auf die Idee kam, in den Park zu gehen. Sobald es draußen wärmer wurde, schwärmten viele Stadtbewohner gleichzeitig in den schönen Stadtgarten aus. Um es etwas ruhiger zu haben und für sich zu sein, musste man aus der Stadt raus fahren. Auch das wäre für Lilly mit keinem größeren Aufwand verbunden.
So einen entspannten Ausflug in die freie Natur hatte sie lange nicht mehr unternommen. Bei dem Gedanken bekam sie Lust, einfach mal wieder ins Grüne zu fahren. Vielleicht hatte sie in den nächsten Tagen die Gelegenheit dazu.
Bis jetzt kam sie trotz des Verkehrs gut voran. Solange es vorwärts ging, war Lilly zufrieden. Doch die Fahrzeuge vor ihr wurden immer langsamer und kamen allmählich zum Stillstand.
»Na toll! Ein Stau hat mir noch gefehlt«, fluchte sie in ihrem alten Kleinwagen. Es grenzte fast an einem Wunder, dass ihr altes Auto überhaupt noch fuhr. Vor Fahrtantritt hatte Lilly schon Bedenken, ob sie die Strecke mit ihrem in die Jahre gekommenen Wagen schaffen würde. Zum Glück war es nicht so heiß draußen, sonst hätte sich ihr altes Auto längst ganz automatisch zur Sauna umfunktioniert. Es hatte keine Klimaanlage. Im Sommer konnte es bei langsamer Fahrt ziemlich anstrengend sein, sich länger in dem kleinen Flitzer aufzuhalten. Selbst wenn alle Fenster nach unten gekurbelt waren, kam nur bei höheren Geschwindigkeiten so viel Luft hinein, um es im Inneren auszuhalten.
Lilly war gerade auf dem Weg von Berlin nach Wernigerode und hatte fast die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Nun stand sie mitten auf der Autobahn in einem Stau und dachte an die Ereignisse der letzten Monate zurück.
Der Frühling war ihre liebste Jahreszeit. Nur in diesem Jahr brachte er ihr einfach kein Glück. In den vergangenen Wochen jagte ein Unheil das Nächste. Alles begann mit der Kündigung, die sie Ende Januar für ihre Stelle in der Buchhandlung bekam. Herr Wiesener, ihr Chef, ein älterer Herr Anfang sechzig kündigte ihr, weil es sich für ihn nicht mehr rentierte, den Laden weiter zu führen. So kurz vor der Rente wollte er sich keinen neuen Kredit ans Bein binden. Zumal es unmöglich erschien, das geliehene Geld durch die Einnahmen zurückzahlen zu können. Er erklärte Lilly, dass er schon seit Monaten nur noch drauf zahlte und seine Ersparnisse sich langsam dem Ende neigten. Er liebte seinen Laden und hätte ihn gerne weitergeführt, aber ein Geschäft, was anstatt Geld einzubringen, nur die Rücklagen frisst, kann sich auf Dauer keiner leisten.
Vor über dreißig Jahren hatte Albert Wiesener sein Geschäft eröffnet. Viele Jahre konnte er gut von den Einnahmen leben. Doch die Zeiten änderten sich. In den letzten fünf Jahren ging es bergab. Seine Umsätze brachen von Jahr zu Jahr weiter ein, sodass er nun schweren Herzens die Entscheidung zur Ladenschließung treffen musste.
Für Lilly brach nach dem Gespräch mit Wiesener eine Welt zusammen. Sie mochte ihren Job. Für sie war es eher ein Hobby statt Arbeit. Der Geruch von Büchern war für Lilly das Größte. Besonders ältere Exemplare hatten es ihr angetan. Wenn im Laden nichts los war, las sie des Öfteren in einem der Bücher. Sie konnte sich stundenlang mit den geschriebenen Wörtern beschäftigen. Dabei merkte sie meistens nicht, wie schnell die Zeit verging. An manchen Tagen verpasste sie sogar ihren Feierabend. Einmal war sie so in ein Buch vertieft, dass sie erst gegen Mitternacht die Buchhandlung verließ.
Ihren Kunden konnte sie schon beim Betreten des Ladens ansehen, welches Genre sie mochten. Lilly merkte natürlich auch den drastischen Rückgang der Verkäufe. Viele Leute kauften ihren Lesestoff nicht mehr in den Buchläden vor Ort. Es wurde einfach immer mehr über das Internet gekauft. Die paar Menschen, die zu ihr in den Laden kamen, reichten ihrem Chef nicht aus, das Geschäft wirtschaftlich führen zu können.
Bis Ende Februar konnte sie noch in dem kleinen Buchladen arbeiten und die wenigen Kunden, die Wert auf eine persönliche Beratung legten, betreuen. Seit dem ersten März war sie arbeitslos. Sie bemühte sich, eine neue Anstellung in einer anderen Buchhandlung zu finden, aber sie bekam eine Absage nach der nächsten. Die Begründung war fast immer die gleiche. Es wurden einfach zu wenig Bücher verkauft. Viele Ladenbesitzer konnten sich keine neuen Mitarbeiter leisten. Im Gegenteil, sie mussten einen Teil ihrer Angestellten entlassen, damit sich ihre Läden wenigstens noch einigermaßen selber tragen konnten.
Für Lilly war es verdammt schwer, sich einzugestehen, dass es keinen Sinn mehr hatte, sich in Buchhandlungen zu bewerben. Es half nichts, sie musste sich beruflich umorientieren. Sie wusste nur nicht, was sie stattdessen machen sollte.
Zunächst hielt sie sich mit einem Aushilfsjob als Kellnerin über Wasser. Es handelte sich nur um eine Übergangslösung, das merkte sie schnell. Lilly wollte diese Arbeit nicht für den Rest ihres Lebens ausüben. Es war nur Mittel zum Zweck, um etwas Geld in ihre leere Kasse zu spülen. Ihr fehlte einfach der Spaß am Kellnern. Mit der Kundschaft, die ihr neuer Job anlockte, kam Lilly nicht klar. Sie wollte sich nicht von irgendwelchen Typen begrapschen lassen oder sich mit Betrunkenen auseinandersetzen müssen. Das Schlimmste an dem Kellnerjob war die Spätschicht. Zum Feierabend mussten die letzten Gäste vor die Tür gesetzt werden. Das war nicht immer so leicht. Besonders, wenn die Leute vollgetankt waren, artete es oft in Schwerstarbeit aus, die Gäste aus dem Laden zu bekommen. Für so einen Job muss man gemacht sein. Und das war sie nicht.
Wenige Tage, nachdem sie ihre Anstellung im Bücherladen verlor, folgte die nächste böse Überraschung. Lilly war mit ihrer besten Freundin Verena zum Einkaufen verabredet. Für Lilly sollte es so eine Art Frustkauf werden. Sie musste sich selbst etwas Gutes tun, um sich nach dem Jobverlust nicht hängen zu lassen. Das tat sie häufiger, wenn es ihr nicht gut ging. Zum Glück war Verena jedes Mal zur Stelle und überredete ihre Freundin zu einem Einkaufsbummel. In Modefragen war Verena eine gute Beraterin. Sie sah auf den ersten Blick, welches Kleidungsstück jemandem stand, ohne, dass derjenige es anprobieren musste. Lilly hingegen hatte nicht so einen Hang zur Mode. Sie trug einfach die Klamotten, die ihr passten und in denen sie sich wohlfühlte. Alleine wäre sie nie auf die Idee mit dem Shoppingtouren durch die Modeboutiquen gekommen. Sie hätte sich eher ein neues Buch gekauft. Die Vorschläge zum Shoppen kamen immer von ihrer Freundin. Mit der Zeit merkte Lilly aber, wie gut ihr die Klamottenkäufe taten. Danach waren alle ihre Probleme nur noch halb so schlimm.
Anders als sonst trafen sich die Freundinnen gleich in der Innenstadt. Verena hatte nicht so viel Zeit, weil sie im Anschluss zum Zahnarzt musste.
Der Einkaufsbummel gestaltete sich jedoch wesentlich kürzer als erwartet. Sie waren nicht mal eine Stunde unterwegs, als sich Verena schon wieder verabschiedete. Deshalb kam Lilly viel früher nach Hause als geplant. Gut gelaunt betrat sie die Wohnung. Trotz der knappen Zeit hatte sie ein Outfit gefunden. Schnurstracks lief sie auf das Schlafzimmer zu, um ihre neuesten Errungenschaften noch einmal in aller Ruhe anzuprobieren. Bereits vom Flur nahm sie Geräusche wahr, die aus dem Schlafzimmer kamen. Es war das Stöhnen einer Frau. Hin und wieder paarte sich das weiblich Seufzen mit dem eines Mannes, Lillys Mannes. Besser gesagt, das ihres Freundes. Verheiratet waren die beiden nicht.
Lilly war schockiert. Sie wusste genau, was sie nun erwarten würde. Für einen kurzen Moment dachte sie sogar daran, die Wohnung zu verlassen. Sie sah aber wenig Sinn darin, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen und stellte sich der Situation.
Langsam öffnete sie die Tür. Ihre Hände zitterten und ihr Herz schlug laut. Sie befürchtete, die ganze Nachbarschaft konnte es schlagen hören. Als die Schlafzimmertür zur Hälfte geöffnet war, sah Lilly ihren Freund Paul mit einer anderen in ihrem gemeinsamen Bett herumturnen. Lilly war fassungslos und ließ die Einkaufstüten fallen. Ohne darüber nachzudenken, schrie sie Paul an. Die beiden im Bett Beschäftigten erschraken sich, sie zuckten zusammen und Paul ließ von der Frau ab. Die Fremde nahm ihre Sachen, zog sich im Gehen an und verließ sofort, noch halb nackt die Wohnung.
Paul entschuldigte sich tausendfach bei seiner Freundin und bat sie immer wieder um Verzeihung. Doch für Lilly gab es keine Entschuldigung. Sie hätte niemals damit gerechnet, ihr Freund könnte sie betrügen und erst recht nicht im gemeinsamen Schlafzimmer.
Fremdgehen an sich war schon schlimm genug, aber dann auch noch im gemeinsamen Bett, das war einfach zu viel für Lilly.
Zu dieser Zeit war sie zweieinhalb Jahre mit Paul zusammen. Nur wenige Wochen vor diesem Ereignis waren sie in ihre erste gemeinsame Wohnung gezogen. Lilly lebte vorher mit drei anderen Frauen in einer WG. Die Zeit mit den Mädels war natürlich schön, aber Lilly fand sich mittlerweile zu alt für eine Wohngemeinschaft. Wäre sie nicht mit ihrem Freund zusammengezogen, hätte sie sich über kurz oder lang eine eigene Wohnung genommen.
Paul lebte bis zu ihrem Zusammenzug bei seinen Eltern, obwohl er achtunddreißig Jahre alt war. Lilly konnte überhaupt nicht verstehen, wie man in dem fortgeschrittenen Alter noch die Pension Mama in Anspruch nehmen konnte. Natürlich war es praktisch, bekocht zu werden und seine Wäsche gewaschen zu bekommen. Irgendwann sollte aber jeder mal auf eigenen Füßen stehen. Lilly war es regelrecht peinlich, wenn sie bei Paul übernachtete und seine Mutter ihnen das Essen machte. Es war nicht so, dass sie seine Eltern nicht mochte. Das Gegenteil war der Fall. Vielleicht wollte sie sich deshalb auch nicht von ihnen bedienen lassen.
Als Lilly ihrem Freund den Vorschlag unterbreitete, zusammenzuziehen, war er