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Das kurze Leben des Rudolf N.
Das kurze Leben des Rudolf N.
Das kurze Leben des Rudolf N.
eBook336 Seiten3 Stunden

Das kurze Leben des Rudolf N.

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Über dieses E-Book

Weihnachten 1944 erfährt der 17-jährige Rudolf, Flakhelfer an der Heimatfront, dass er nicht das Kind seiner vermeintlichen Eltern ist. Er erhält das Tagebuch mit den Aufzeichnungen seiner leiblichen Mutter, die mit seinem Vater 1924 nach Australien ausgewandert ist. Sie berichtet darin vom hoffnungsvollen Neubeginn seiner Eltern, von ihrem harten Pionierleben im australischen Busch, aber auch von ihrem Zerwürfnis und den Umständen seiner Geburt.
Rudolf und sein Freund Heinz desertieren in den letzten Kriegstagen. Dabei muss Rudolf ein besonders tragisches Ereignis erleben, später wird er von den Werwölfen aufgegriffen und zu einem Attentat gezwungen. Auf seiner neuerlichen Flucht hat er seine erste Liebeserfahrung. Als alles vorbei ist, hält das Schicksal für Rudolf weitere grausame Vorkommnisse und Entdeckungen bereit.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum21. Okt. 2012
ISBN9783844233605
Das kurze Leben des Rudolf N.

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    Buchvorschau

    Das kurze Leben des Rudolf N. - Sigrid R. Ammer

    Ammer_kurzeLeben_Umschlag.jpg

    Das kurze Leben des Rudolf N.

    Roman

    Sigrid R. Ammer

    ____________________________

    Copyright: © 2012 Sigrid R. Ammer

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.com

    ISBN 978-3-8442-3360-5

    ____________________________

    Mein Dank gilt Gerda Kazakou, die mir in vielen guten Gesprächen mit Hinweisen und Ratschlägen bei der Endfassung des Romans zur Seite stand.

    ____________________________

    ***

    Da sagte Jahwe zu Kain:

    »Wo ist dein Bruder Abel? «

    Er antwortete:

    »Ich weiss es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders?»

    Genesis 4,9

    Eine Chronik schreibt nur derjenige, dem die Gegenwart wichtig ist.

    J.W. Goethe

    Es ist angemessen, da wir nun einmal Menschen sind, über menschliches Missgeschick nicht zu lachen, sondern zu weinen.

    Demokrit

    Die Eifersucht ist Beschämung; darum ist es eine einsame Leidenschaft.

    Rahel Varnhagen

    Die Zeit ist ein Fluss, ein ungestümer Strom, der alles fortreisst. Jegliches Ding, nachdem es kaum zum Vorschein gekommen, ist es auch schon wieder fortgerissen, ein anderes wird herbeigetragen, aber auch das wird bald verschwinden.

    Marc Aurel

    ***

    Von einem, der auszog, für Volk und Vaterland zu kämpfen

    der Vater und Mutter nicht kannte

    der zur falschen Zeit tötete

    der seine Träume nicht verwirklichen konnte

    und dessen Tod einsam war

    TEIL I

    1

    Die Guttners bewohnten in einem grossen Zweifamilienhaus eine Wohnung mit sechs Zimmern, von denen allerdings nur noch eines tagsüber in Gebrauch war, da der Kohlenkeller beinahe leer war und die Zuteilung von Briketts und Eierkohle seit Monaten auf sich warten liess.

    Dieses Zimmer hatte je nach Gebrauch verschiedene Namen: Natürlich war es dreimal täglich das Esszimmer. Wenn Rudolf und sein Vater vor der grossen Europakarte standen, aus dem Volksempfänger Nachrichten hörten und die bunten Stecknadeln entsprechend den Frontverläufen in die Karte spiessten, dann war das Zimmer das Lagebesprechungszimmer, nachmittags oft das Bügelzimmer, nach dem Abendessen das Flick- und Strickzimmer; als Rudolfs Schwester Sybille Diphterie hatte, diente es als Krankenzimmer und wurde eine Zeitlang durch einen dicken Samtvorhang aus Omas alter Truhe in zwei Hälften geteilt, was es für einige Zeit erschwert hatte, die Rückzugsfront im Osten genau abzustecken, da sich der Ostteil der Europakarte im Krankenzimmer befand, das wegen Ansteckungsgefahr auf keinen Fall betreten werden durfte. So war die Ostfrontlage auf dem Stand von 1943 nach der Offensive im Kursk-Bogen stehengeblieben, obwohl die sowjetischen Armeen bereits die Südukraine erobert und nach Galizien vorgestossen waren und die deutschen Truppen die Krim hatten räumen müssen.

    Rudolf, der ein paar Tage Urlaub von seinem Flakhelferdienst hatte, betrat das Zimmer. Es war der 29. September 1944, der Vorhang war weggeräumt worden und so wieder ganz Europa sichtbar. Er trat an die Karte, nahm schweigend die Nadeln aus dem Osten und steckte sie weiter westlich – entsprechend dem neuen Frontverlauf – wieder ein, der bereits westlich von Warschau verlief. Hinter den russischen Linien steckte er bei Minsk, Smolensk und anderen Städten reichsdeutsche Nadeln ein.

    Herr Guttner sass hinter seiner Zeitung in dem einzigen Sessel im Zimmer. Frau Guttner war über ihr Strickzeug gebeugt und schaute immer wieder auf ihre Strickmusterkarte, die sie vor sich auf dem Esstisch ausgebreitet hatte. Rudolf stand eine Zeitlang sinnend vor der Karte und meinte schliesslich:

    »Schau mal, Vater! Überall hier haben wir noch Verbände, die werden den Russen in den Rücken fallen, hätten sie nicht unsere Front überrollt und sich so weit in den Westen vorgewagt, könnten sie vielleicht entkommen, aber so?»

    Herr Guttner hatte seine Zeitung sinken lassen und hörte seinem Sohn zu.

    »Unsere Kameraden von der Ostfront werden ihnen die Hölle heiss machen und sie in ihre Steppen zurückscheuchen. Was meinst du, Vater?»

    Rudolfs Vater legte die Zeitung aus der Hand, stand auf und trat neben seinen Sohn. Er betrachtete die Europakarte mit nachdenklicher Miene.

    »Hitler hat recht, wir müssen wie Felsen stehen an den Grenzen des Reiches.«

    »Mehr, Vater, mehr! Der Osten gehört doch uns. Alles, was sie uns weggenommen haben 1919 mit dem Schandvertrag . . . Und noch mehr ...»

    Frau Guttner drückte die Spitze ihrer Stricknadel fest auf das Muster, um die Stelle nicht zu verlieren, schaute auf und liess ihren Blick auf Rudolfs Rücken ruhen. Dieser spürte, dass seine Mutter ihn aufmerksam betrachtete und drehte sich lächelnd zu ihr um.

    »Mutter, was ist, du siehst ja so . . . so . . . besorgt aus.»

    »Weisst du, Rudolf, woran ich eben gedacht habe? Diese Bolschewiken-Soldaten haben ja auch Mütter, die vielleicht wie ich gerade warme Pullover stricken für ihre Söhne. Der Winter dort ist doch kalt, nicht wahr?»

    Herr Guttner schaute seine Frau an, und ihr war klar, dass er sie verstanden hatte.

    »Na und, Mutter? Sie sind unsere Feinde, sie wollen Deutschland ...»

    »Schon gut, mein Junge, ich denke nur, in der russischen Steppe zu sterben ist gleich schrecklich, für deutsche Soldaten wie für die russischen.»

    »Aber Mutter, du willst doch nicht, dass die Bolschewiken den Krieg gewinnen, Deutschland erobern und uns unterjochen?!»

    Herr Guttner legte seine Hand auf Rudolfs Arm, während seine Frau sich wieder über ihr Strickmuster beugte und sagte:

    »Mein Junge, es gibt da gewisse Probleme ...»

    ». . . die dazu da sind, dass wir sie lösen. Unser Führer ...»

    »Rudolf, so hör doch mal zu! Ich habe Arbeiter in meiner Fabrik, 120 französische Gefangene. Sie arbeiten anständig, es gibt kaum Sabotage. Aber wo bleibt das Material? Meine Aluminiumvorräte reichen noch für zwei Wochen, das Zink, das Kupfer ...? Schon wieder die Sirenen! Los in den Keller! Ich laufe rasch rüber in die Fabrikhallen. Nimm Mutter und Sybille mit!»

    Herr Guttner war in fünf Minuten in der Fabrik. Die französischen Kriegsgefangenen waren schon in die Unterstände bei den Sandlagern gekrochen, die wenigen deutschen Arbeiter und die Angestellten befanden sich im Keller unter dem Bürogebäude.

    »Alles klar, Karl!?« rief er dem Pförtner zu, »geh in den Keller oder wir kriegen Schwierigkeiten! Schon Hauptalarm. Ich laufe zurück.»

    »Alles klar, Herr Direktor. Nur im Keller sind bis jetzt die meisten umgekommen. In den Keller bringen sie mich nicht!»

    »Wie du meinst, Karl, aber lass dich nicht erwischen vom Blockwart!»

    Der öffentliche Luftschutzraum unter dem Haus derGuttners füllte sich rasch mit Menschen, die von der Strasse hereinrannten. Frau Guttner sass schon mit Rudolf und Sybille im Keller, neben sich ihr immer bereites Köfferchen mit den Wertsachen, Pässen und Papieren. Auf dem Tischvor ihnen standen die Behälter mit den Gasmasken. Ihnen gegenüber sassen ein paar Nachbarn, die keinen Keller hatten, an anderen Tischen Fremde, und auf einer der Pritschen lag eine schwangere Frau und stöhnte. Niemand wagte hinzuschauen, man konnte die Gedanken der Menschen erraten: ›Sie wird doch nicht jetzt hier gebären!‹ Nur Frau Guttner warf einen Blick auf die junge Frau und überlegte, was zu tun wäre im Falle, dass . . .

    Als Herr Guttner den Kellerbereich erreicht hatte, schrie der Blockwart in das Brummen der schweren englischen Bomber hinein:

    »Dalli, dalli, Sie sind wieder der Letzte!»

    Herr Guttner hielt den Blockwart Klober für einen hinterhältigen Zuträger der Partei. Er konnte den Mann nicht ausstehen und stieg ohne ein Wort an ihm vorbei in den Keller hinunter. Noch immer strömten Leute von der Strasse herein, die Doppelstockpritschen waren alle belegt von Arbeitern und Angestellten, die der Alarm auf dem Nachhauseweg überrascht hatte. Herr Guttner setzte sich zu seiner Familie, und kaum war die Metalltür verriegelt, als auch schon ein Bombenhagel auf die Stadt niederging.

    »Diesmal sind wir dran«, meinte eine dünne Frau in einem schweren, abgetragenen Mantel und mit zu früh ergrautem Haar, »meine Kinder sind allein zu Hause, ich muss raus, nachschauen, bitte Herr Blockwart, lassen Sie mich ...»

    »Sind Sie verrückt, Frau?! Sie wollen wohl Selbstmord begehen!»

    Eine zweite Welle kam näher, man konnte schon das Pfeifen der Bomben hören, dann die Einschläge. Das Licht ging aus und Angstschreie flatterten vereinzelt durch den dunklen Keller. Dann setzte die düstere Notbeleuchtung ein. Gleich darauf ein dumpfer, schwerer Schlag: Die hochliegenden Kellerfenster, die zugemauert worden waren, gaben der Druckwelle nach, und die Ziegel flogen in den Keller. Ein Schrei. Die magere Frau war von mehreren Ziegeln getroffen worden. In dem Halbdunkel drohte Panik auszubrechen.

    »Raus! Lass uns raus!« schrieen ein paar Leute, andere husteten von dem Staub, jemand weinte. Einige Männer gingen die Stufen hinauf auf den Blockwart zu und drängten ihn, die Tür aufzumachen.

    Aber der stand breitbeinig vor der Eisentür und sagte drohend:

    »Zurück! Warten bis Vorentwarnung ist! Warten, habe ich gesagt!« wiederholte er, als ihm die Menschen zu nahe kamen. Er legte seine Hand auf den Pistolengriff. Das Brummen des Bomberpulks hatte sich in der Ferne verloren.

    »Ich muss zurück an meine Kanone, die Teufel vom Himmel holen, bevor sie ganz Deutschland zusammenbomben. Ich muss zu meinen Kameraden!« sagte Rudolf ziemlich laut zu seinem Vater. Dieser schaute ihn an und bemerkte, dass der Einsatz bei der Flak seinen Sohn schon gezeichnet hatte. Sein Jungenkinn war stärker geworden, die Backenknochen waren bei seinen 17 Jahren schon so markant wie bei einem 30jährigen Russlandkämpfer. Er schaute seine Frau an, denn er hatte ihren Blick auf sich gespürt. Auch sie hatte Rudolf betrachtet und wohl ähnliche Gedanken gehabt. In ihren Augen allerdings – aber das konnte Herr Guttner bei dem schlechten Licht nicht erkennen – stand auch Angst, Angst um Rudolf.

    Und noch etwas: Angst vor der Zukunft. ›Was, wenn ich umkomme bei einem Bombenangriff oder von Tieffliegern erschossen werde? Und ich habe nicht mit Rudolf gesprochen? Ernst und ich müssen eine Gelegenheit finden. Ich kann nicht sterben, ohne dass Rudolf die Wahrheit erfahren hat.‹ Sie ging zu ihrem Sohn, umarmte ihn und legte ihren Kopf an seine Brust, was er sich gutmütig gefallen liess. Er klopfte seiner Mutter etwas verlegen auf den Rücken und murmelte:

    »Schon gut, Mama. Gleich können wir hier wieder raus!»

    Herr Guttner beobachtete die Szene und wunderte sich über sein Gefühl der Unzugehörigkeit. ›Rudolf ist nicht mein Sohn‹, dachte er bestürzt, wo er ihm doch all die Jahre ein vorbildlicher Vater gewesen war. Mindestens hielt er sich dafür. Und auch Melanie hätte dies jederzeit bestätigt, das wusste er.

    Endlich Vorentwarnung. Einige verliessen den Keller unter den spionierenden Augen des Blockwarts, andere, die noch einen weiten Weg nach Hause hatten, blieben bis zur Entwarnung, aus Angst, dass sie es bis zum nächsten Alarm nicht bis nach Hause schaffen würden.

    Rudolf stieg auf den Speicher, schaute aus dem Dachfenster in den feuerroten Nachthimmel, um herauszufinden, welche Stadtteile wohl getroffen worden waren. Diesmal musste es die Bahnhofsgegend erwischt haben, in dieser Richtung stand die Stadt in Flammen. Die Löschfahrzeuge heulten durch die Strassen, Menschen riefen. Aber in der näheren Umgebung schien alles, ausser Fensterscheiben, heil geblieben zu sein. Rudolf stieg von der Truhe herunter, um in die Wohnung zurückzukehren, da traf der Strahl seiner Taschenlampe ein Loch im Dach, dann eine Brandbombe zu seinen Füssen. ›Ein Blindgänger‹ dachte Rudolf und zog sich die bereitliegenden Asbesthandschuhe über, nahm ohne zu zögern die Bombe vorsichtig auf und warf sie durch das Dachfenster hinunter in den Garten. Er horchte. Nichts geschah.

    Als die Guttners wieder in ihrer Wohnung versammelt waren, sagte Rudolf:

    »Im Garten liegt eine Brandbombe, ein Blindgänger, war auf dem Speicher. Den müsst ihr entschärfen lassen und natürlich gibt’s auch ein Loch im Dach.»

    »Hast du etwa die Bombe ... ?« fragte seine Mutter etwas bleich.

    »Habe ich, Mama. Ich fahre morgen zu meinen Kameraden zurück«.

    »Aber du hast doch noch einen Tag Urlaub, mein Junge«, meinte Frau Guttner und sah Rudolf flehend an.

    »Lass nur, Mutter! Unsere Heimat braucht jetzt alle Kräfte. Oder willst du den Bolschewiken in die Hände fallen?»

    »Nein, Rudolf, sicher nicht«, meinte Frau Guttner resigniert.

    ›Wo haben die Jungen nur den Mut und den Optimismus her?‹, fragte sich Herr Guttner und schüttelte unmerklich den Kopf.

    »Ich muss euch alle schützen helfen vor den Barbaren, und deshalb muss ich morgen zurück in meine Stellung, zu meinen Schulkameraden.»

    »Halte dich an Klaus Hoffmann, mein Junge, der hat ein Gespür für Gefahren ...»

    Herr Guttner sah, wie Rudolf den Kopf senkte.

    »Was ist denn, Rudolf?»

    »Klaus ist vor einer Woche von einem Tiefflieger erschossen worden. Gefallen. Der erste von unserer Klasse, und er wird nicht . . . «, ›der letzte sein‹ dachte Herr Guttner den Satz seines Sohnes zu Ende.

    »Ich will morgen sehr früh fahren, Mutter.»

    »Ich lege dir ein paar Sachen zurecht, auch für deine Kameraden«, sagte sie, in ihr Schicksal ergeben.

    »Ich glaube, dass wir heute Nacht Ruhe haben werden.

    Ich wünsche dir eine gute Nacht, schlaf wohl!« sagte Herr Guttner, und seine Frau schloss Rudolf schnell und schüchtern noch einmal in die Arme und wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht.

    Die Guttners betraten ihr Schlafzimmer.

    »Puh, ist das eine Eiseskälte«, stöhnte Herr Guttner.

    »Herr Fraiss hat mir gesagt, dass es bald Eierbriketts geben soll. Vielleicht kann ich ihm welche abschwatzen. Aber Ernst, was anderes. Ich glaube, wir sollten Rudolf die Wahrheit sagen. Ich habe Angst, dass ich oder du oder gar wir beide bei einem Bombenangriff ums Leben kommen. Es könnte doch sein, dass Rudolf nach Australien gehen will, irgendwann, wenn all der Wahnsinn vorbei ist.»

    »Du hast recht, Melanie. Wir sollten nicht bis zu seinem 18. Geburtstag warten.»

    Melanie schaute ihren Mann lange an und sagte:

    »Und wenn ich ihn verliere, Ernst? Wenn er mich verflucht?»

    Herr Guttner konnte nichts antworten und sagte deshalb:

    »Vielleicht sagen wir es ihm jetzt, an Weihnachten, da wird er doch sicher wieder Urlaub bekommen. Und dann schenken wir ihm das Tagebuch.»

    »Das Tagebuch?»

    »Ja, das gehört eigentlich sowieso ihm. Und das macht ihn vielleicht neugierig. Dann kann er auf seiner Australienkarte bunte Nadeln einstecken statt in Europa.»

    »Das Tagebuch . . . ich muss darüber nachdenken. Jetzt bin ich zu müde, Ernst.»

    Herr und Frau Guttner prüften routinemässig noch einmal die Verdunklung in der Wohnung, löschten das Licht und legten sich schlafen.

    Um vier Uhr morgens wurde bei Guttners geklingelt.

    Dann folgten Schläge an die Tür. Herr Guttner erreichte im Morgenmantel als erster die Wohnungstür, drückte auf den Knopf, die Haustür öffnete sich und Stiefelschritte kamen die Steintreppen herauf. Dann standen zwei Männer vor der Wohnungstür.

    »Heil Hitler!« sagte der Mann in der schwarzen Uniform und hielt Herrn Guttner sogar kurz eine Erkennungsmarke hin. Ηerr Guttner trat zurück und liess den Mann und seinen Begleiter in Zivil eintreten.

    »Bitte, kommen Sie herein. Was ist denn los, um Gottes Willen?»

    »Sie sind Herr Guttner?»

    »Ja.»

    »Sie leiten das Metallwerk hier?»

    »Es ist meine Firma, und ich bin der Direktor«, erwiderte er, und der Uniformierte kniff leicht die Lider zusammen.

    »Ich mache das kurz: Ist ein Kriegsgefangener namens Maurice Savier in Ihrer Firma beschäftigt?»

    »Entschuldigen Sie, Herr ... ?»

    »... Winkler.»

    »Herr Winkler, ich habe 120 Kriegsgefangene, da können mir nicht alle Namen geläufig sein. Aber das lässt sich herausfinden. Warum?»

    »Ich brauche Ihnen keine Erklärung zu geben, aber bitte: Wir haben eine Stablaterne bei ihm gefunden, er hat den Fliegern Zeichen gegeben, deshalb haben wir den englischen Segen so rasch nach dem Voralarm abbekommen. Wenn der Kerl kein Alibi beibringen kann, wird er um 6 Uhr standrechtlich erschossen. Haben Sie auch Nachtschichtarbeiter aus dem Gefangenenlager?»

    Herr Guttner zögerte keine Sekunde:

    »Ja, schon längere Zeit. Die Gefangenen arbeiten in diesen Schichten zu 40 Mann.»

    »Ich will alle Namen, Zeit der Anwesenheit und so weiter. Ist das klar?»

    »Wir führen darüber Buch, selbstverständlich.»

    »Informieren Sie mich telefonisch so schnell wie möglich.»

    Herr Guttner nickte nur.

    »Wir haben Zeugen, dass vom Galgenberg aus Lichtzeichen gegeben worden sind. Das Gefangenenlager ist nicht weit von dort, übrigens auch Ihre Fabrik nicht. Also, Sie wissen, was Sie zu tun haben.»

    Herr Winkler von der Gestapo stand auf, ebenso sein Begleiter, der kein Wort gesprochen, aber Herrn Guttner unentwegt mit Stahlaugen beobachtet hatte. Auch Herr Guttner selbst war aufgestanden und begleitete die beiden zur Tür. Dort gab ihm Herr Winkler noch ein Kärtchen:

    »Meine Telefonnummer. Heil Hitler!»

    »Heil Hitler!»

    »Heil Hitler!« Herr Guttner wartete, bis die Haustür zugefallen war, schloss die Wohnungstür und murmelte:

    »Schweinerei«, ohne dass Frau Guttner und Rudolf, die die Unterredung mitangehört hatten, wissen konnten, worauf sich das Wort, das sie noch nie aus dem Mund von Herrn Guttner gehört hatten, bezog.

    »Du musst den Mann ausliefern, wenn er nicht an seinem Arbeitsplatz war, Vater. Er muss es gewesen sein. Aber woher hatte er eine Stablaterne?»

    »Unsere Nachtwächter haben Stablaternen, zum Beispiel.»

    »Kannst du herausfinden, ob alle da sind?»

    »Ich muss los, in die Firma, die Bücher nachsehen und ...»

    Herr Guttner ging in sein Schlafzimmer, seine Frau folgte ihm mit sorgenvollem Gesicht.

    »Ich werde mich in den Kleidern hinlegen, wer weiss, was heute Nacht noch alles geschieht«, sagte sie.

    »Ich schlaf noch ein paar Stunden, gute Nacht, Mama!»

    »Gute Nacht, mein Junge!»

    »So eine Schweinerei, den Bombern Lichtzeichen zu geben! Der Kerl gehört aufgehängt.« Mit diesen Worten verschwand Rudolf in seinem Zimmer. Seine Schwester hatte die ganze Szene verschlafen. Nach jedem Angriff flüchtete sie sich in einen totenähnlichen Schlaf.

    Wenig später kam Ernst Guttner aus seinem Schlafzimmer, warf sich noch eine Jacke um und eilte zur Tür. Er ging durch den Garten hinüber zur Fabrik, die im Dunkeln lag, obwohl in der Formerei gearbeitet wurde. Auch das Verwaltungsgebäude lag da wie ein schlafendes Tier. Er öffnete die Tür zu seinem Büro und nahm die Akten über die Kriegsgefangenen aus dem Tresor, legte sie auf den Schreibtisch, blätterte unkonzentriert darin herum.

    Er hatte das Gesicht immer verdrängt, und immer wenn er Maurice Savier sah, hatte er dieses merkwürdige Gefühl: Den kenne ich. Jetzt gab es kein Entrinnen mehr.

    Herr Guttner widmete sich wieder der Akte, fand schnell heraus, dass der Franzose für die Nachtschicht bis 22 Uhr eingeteilt gewesen war. ›Sollte er von der Firma weggegangen sein, ohne dass die Wachmannschaft das bemerkt hat? Und wieder zurückgekommen sein? Habe ich ihn im Unterstand während meines Rundgangs gesehen?‹

    Er stellte sich all diese Fragen und hatte keine Antworten. Die Zeit verging. Er schaute auf die grosse Standuhr seines Vaters, ihr Pendel schwang hin und her, gnadenlos, eine Stunde der Frist war schon abgelaufen.

    Er griff zum Telefon.

    »Herrn Winkler, bitte . . . Herr Winkler? . . . bitte? Ja, der Mann, dieser Maurice Savier war bei mir in der Firma in der Abendschicht bis 22 Uhr . . . Gesehen? Weiss ich nicht ...»

    Er wollte sich nicht festlegen, versuchte auszuweichen.

    »Ja, sofort, ich werde Sie dort treffen, natürlich . . . identifizieren? . . . Ich?»

    Seine Gedanken überschlugen sich. Er musste Zeit gewinnen, er musste seine Unsicherheit verbergen. Er gab seiner Stimme einen harten Klang:

    »Ich gehe sofort los. Das werden wir bald haben! Ich erzähle Ihnen alles an Ort und Stelle. Heil Hitler!»

    Er stand sofort auf, steckte sich das Parteiabzeichen an die Jacke, rannte die Treppe hinunter zum Pförtner und rief:

    »Karl, ich leih mir kurz dein Fahrrad, muss ins Lager hinüber!»

    »Klar, Herr Direktor«, nickte Karl, lachte und hob seinen rechten Oberarm, die Hand und der Unterarm verrotteten in französischer Erde. ›Alter Kommunist!‹ dachte Herr Guttner freundschaftlich und radelte in die Nacht hinaus. Es war eine kalte, feuchte Septembernacht. Er fror, aber sein Kopf glühte, als er noch vor Winkler das Gefangenenlager erreichte.

    Der Wachtposten erkannte ihn und liess ihn ins Lagerbüro treten. Er setzte sich, und Fritz Bauer bot ihm eine Zigarette an. Er lehnte dankend ab und rückte etwas näher an den anheimelnde Wärme verströmenden Kanonenofen.

    »Du hast dir hier ja eine tolle Wärme reingesetzt, Fritz«, begann er die Unterhaltung.

    »Sonderzulage, Ernst. Aber ansonsten sieht es ja nicht gerade gut aus. Jetzt sind wir bald dran.»

    Ernst Guttner schaute Fritz fragend an.

    »Ich hab gehört – man hat ja so seine Verbindungen – alle Männer von 16 bis 60 werden bald unter Waffen genommen. Die Aktion heisst ›Volkssturm‹. Neuer Führererlass. Was hältst du davon?»

    »Mit so einem Aufgebot werden wir sicher dank der genialen Führung Adolf Hitlers

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