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Die mit dem Falken flog
Die mit dem Falken flog
Die mit dem Falken flog
eBook308 Seiten4 Stunden

Die mit dem Falken flog

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Über dieses E-Book

Katrin Öttner, ehemalige Wirtschafterin in einem Fabrikantenhaushalt hat Krebs. Schon seit Wochen liegt sie im Krankenhaus, als sie bemerkt, dass es auf ihrer Station nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Die alte Frau vermutet ein Komplott gegen manche Patienten die ohne zwingende medizinische Gründe in der Klinik sterben. So schnell wie möglich will sie das Krankenhaus verlassen und weiht Hilde Neubauer, die Enkelin von Katrins einstiger "Herrschaft" in ihrem Verdacht ein. Doch diese reagiert skeptisch. Erst als Katrin verspricht, ihr von ihrer Vergangenheit im Nazideutschland zu berichten, die Hilde als Journalistin schon lange interessiert, willigt diese ein, einerseits der Sache nachzugehen und andererseits einen Weg zu finden, wie Katrin das Krankenhaus "offiziell" verlassen kann.
Nach ihrer "Flucht" in ein Schrebergartenhäuschen lüftet Katrin langsam nicht nur ihr Geheimnis, sondern auch das eines ganzen Dorfes. Hilde ihrerseits wird nach und nach in den Strudel der Vergangenheit gerissen und kommt hier wie dort schrecklichen Wahrheiten auf die Spur.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum21. Okt. 2012
ISBN9783844228144
Die mit dem Falken flog

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    Buchvorschau

    Die mit dem Falken flog - Sigrid R. Ammer

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    Die mit dem Falken flog

    EINE TRAGISCHE LIEBESGESCHICHTE

    ROMAN

    Sigrid R. Ammer

    Copyright: © 2012 Sigrid R. Ammer

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.com

    ISBN 978-3-8442-2814-4

    ***

    Hilde klopfte leise. Keine Antwort. Vorsichtig öffnete sie einen Spalt weit die Tür, schaute in das Krankenzimmer, trat ein und ging auf Zehenspitzen auf das Bett zu. Sie sah, wie Katrin blinzelte und ihre Mundwinkel zitterten.

    „Katrin, mach die Augen auf, du bist doch wach!"

    „Ich muss immer erst rausfinden, wer gekommen ist, Hildchen, weil ich ..." Sie verstummte.

    „ ... weil du dir Sachen ausdenkst über die Ärzte, gell?"

    Katrin lächelte, blickte Hilde an, brachte nur ein „Hmhm" heraus und schloß wieder die Augen. Hilde stellte ihre Blumen in eine Vase, fragte nach Katrins Befinden und danach, was die Ärzte sagen. Das war das Stichwort für Katrin.

    „Der Doktor Kampf ... ich sage dir, der kann auch nicht mehr so, wie er will. Er hat heute morgen einen anderen Weißkittel mitgebracht, hab den noch nie gesehen, der hat die Frau Becker dort, und sie drehte ihre Augen zu dem anderen Bett hinüber, „ganz untersucht und dem Kampf Blicke zugeworfen. Ich hab’s genau gesehen. Ich hab mich schlafend gestellt, aber alles gesehen, Hildchen. Und wie die rausgegangen sind - ich hab noch prima Ohren - da hat der gefragt: ‚Wie lang soll das mit der Frau noch gehen? Bedenken Sie die Kosten!’ Namen hat Frau Becker schon keinen mehr!

    Katrin gab Hilde ein Zeichen näher zu kommen und flüsterte dann:

    „Sie haben schon eine Menge Medikamente abgesetzt. Seh ich doch. Die Schwester zählt nur noch die Hälfte der bunten Pillen in das Glas. Und dann hat der noch was gesagt, sowas wie: ‚Also Gamma. Sagen Sie Prof. Windisch Bescheid, Herr Kollege.’ Verstanden hab ich nicht, was der damit meint."

    Kartrin hielt nach ihrer langen Rede inne, schaute erst zur Decke, dann Hilde an.

    „Sag mal, Hildchen, was heißt ‚Gamma’?"

    „Na, Gamma ist der dritte Buchstabe im griechischen Alphabet. Sieht ungefähr so aus."

    Sie zeichnete ein griechisches Gamma in ihre Handfläche.

    „Warum?"

    „Sieht aus wie ein ... wie ein Galgen, oder nicht? Also, wenn das der dritte Buchstabe in diesem Alphabet ist, dann sind zwei davor, nicht wahr?"

    „Ja, sicher, Alpha und Beta ..."

    „Alpha und Beta, also der erste und der zweite."

    Katrin schwieg, schaute wieder zur Decke, als könnte sie dort die Lösung für ihr Problem finden.

    „Worüber denkst du nach, Katrin, über dieses Gamma vielleicht?"

    Diesmal drehte Katrin ihr Gesicht Hilde voll zu.

    „Hildchen, Hildchen, ist doch klar: Todeskandidatin. Die Frau Becker ist bald weg vom Fenster, die kostet zu viel, und die stirbt ja sowieso, also ..."

    Hildes Blick glitt zum anderen Bett hinüber. Sie sah in das bleiche Gesicht von Frau Becker, auch sie vom Krebs gezeichnet, aber viel stärker als Katrin. ‚Verglichen mit Frau Becker ist Katrin in besserem Zustand. Das kann ich sehen. Aber sterben? Warum sollte Frau Becker sterben?’, dachte Hilde.

    „Sterben? Das glaube ich nicht, das hast du dir ausgedacht."

    Katrin drehte sofort schmollend ihren Kopf zur Wand und beschloss anscheinend, darauf nicht zu antworten. Hilde kannte Katrins Reaktionen, wenn man ihre Meinung anzweifelte. Sie ignorierte also ihre abweisende Geste und erzählte einfach von ihrer Arbeit. Katrin war immer stolz auf Hilde, wenn ihre Artikel in Zeitschriften erschienen. Katrin hatte sie alle ausgeschnitten und in ihren Atlas gelegt. Dieser war vor vielen Jahren ein Weihnachtsgeschenk von Herrn Bächtle gewesen, über das sie sich gefreut hatte, wie über kein anderes davor und danach. Damals hatte sie schon acht Jahre im Hause Bächtle gedient und immer wieder Bücher von Herrn Bächtle ausgeliehen, in denen es um fremde Länder ging. Lange Winterabende hatte sie nach getaner Arbeit in ihrem gemütlichen Dachzimmer gesessen und war in ihren Träumen in all die fremden Länder gefahren, von denen sie gelesen hatte und deren Städte sie auf dem Atlas gefunden und rot umrandet hatte. Sie hatte ihren Träume-Atlas nie jemandem gezeigt, außer Hilde.

    Hilde sprach eine Zeit lang zu der Wand, die Katrin anstarrte. Dann schwieg auch sie. Lange. Sie war es als Journalistin gewöhnt, auf Antworten zu warten. Sie ließ bei Interviews ihren Gespächspartnern, meist waren es allerdings Gesprächspartnerinnen, immer Zeit, ihre Gedanken zu ordnen oder zu formulieren. Sie kannte Katrin gut genug, sie würde wieder sprechen. Und sie behielt recht.

    „Los, schau mal, was auf meinem Krankenblatt in der linken oberen Ecke steht!", befahl Katrin plötzlich, ohne auf Hildes Neuigkeiten einzugehen, in einem Ton, der in Hilde Gefühle aus ihrer Kindheit wachrief, wenn Katrin sie zurechtgewiesen hatte. Beinahe hätte sie gebockt wie damals. Sie stand auf, schaute nach und sagte:

    „Da steht ein großes B."

    „Hilde-Kind, also Beta, oder wie das heißt. Hab ich demnach noch Zeit, aber ich lieg hier schon seit sechs Wochen. Sie haben mich zweimal operiert und all die Infusionen und Medikamente. Und mir geht’s nicht viel besser, wenn der Dr. Kampf mich aufgibt ... Und dann kommt Prof. Windisch und dieser Unbekannte von gestern und der sagt so Sachen und Gamma und Kosten und Versicherung und so ... die bringen mich um. Hilde, ich muss hier raus!"

    „Also Katrin, du phantasierst, wo sind wir denn!? Dich umbringen!"

    „Ich will hier raus, und ich weiß auch wohin. Jedenfalls nicht zurück ins Altersheim!"

    „Aber Kartin, nun sei doch vernünftig! Das ist ganz unmöglich, die Ärzte lassen dich hier nicht raus, du hängst am Tropf, du brauchst Medikamente. Die Versicherung bezahlt doch. Du hast Hirngespinste, du ..."

    Katrin legte ihre Hand so, dass es eine Aufforderung war für Hilde, die ihre hineinzulegen. Sie schauten sich in die Augen, und Katrin hielt Hildes Blick fest in dem ihren, als sie sagte:

    „Hilde, du hast mir einmal versprochen, alles für mich zu tun, ja? Ich habe dich nie um etwas gebeten, aber jetzt. Also, du musst mich hier wegbringen ... du musst ... du musst ... Ich hab’s mir überlegt. Ich will an einen ganz bestimmten Platz. Du hast es versprochen, und Versprechen muss man halten!"

    Hilde schwieg, dachte nach, nahm ihre Hand vorsichtig aus der von Katrin, die es geschehen ließ, aber Hilde immer noch erwartungsvoll, ja flehendlich anblickte.

    „Du hast mir auch etwas versprochen. Ganz früher einmal. Und immer, wenn ich dich daran erinnert habe, wolltest du nichts davon wissen. Also, wie ist es mit deinem Versprechen?"

    Katrin hatte ihren Kopf längst wieder zur Wand gedreht, schwieg. Wieder wartete Hilde, diesmal aber umsonst. Als sie es nicht mehr aushalten konnte und inzwischen nachgedacht hatte, sagte sie leise:

    „Wenn du willst, dass ich dich hier raushole, dann erinnere du dich jetzt an dein Versprechen!"

    Hilde wartete wieder. Sie wußte, dass sie Katrin in gewisser Weise erpresste, aber es war sicher eine Gelegenheit, an Katrins Geschichte zu kommen. Ihr Schicksal würde Hildes Reihe „Landfrauen – Frauen auf dem Land innerhalb der Serie „Frauen unter Hitler bereichern, da war sich Hilde sicher. Katrin hatte gelegentlich rätselhafte Andeutungen über ihr Leben im Dorf und auf dem Bauernhof gemacht, vielleicht ohne es zu wollen, vielleicht aber auch, um Hilde neugierig zu machen. Katrin umgab die Geschehnisse auf dem Bauernhof, auf dem sie während des Krieges als junges Mädchen gearbeitet hatte, immer mit etwas Geheimnisvollem. Je hartnäckiger Katrin geschwiegen hatte, umso stärker war Hildes Interesse geworden. Aber Katrin war nicht dazu zu bringen gewesen, ihr Geheimnis – und ein solches vermutete Hilde – preiszugeben.

    Hilde wartete geduldig, fand sich gemein, Katrin in ihrem Saft schmoren zu lassen. Die gute alte Katrin. Hilde erinnerte sich an die vielen Male, die sie Katrin in der Küche am Tisch sitzend vorgefunden hatte, wie sie in eine Ecke starrte oder zum Fenster hinaus und, wenn sie sie angesprochen hatte, von weit her zu kommen schien, ihre Gedanken aus einer anderen Welt zurückholte, ihren Kopf schüttelte wie ein nasser Hund, um Erinnerungen oder Bilder aus einer vergangenen Zeit abzuschütteln. Als Kind hatte Hilde nur gesagt: „Katrin, wach auf!" Später hatte sie angefangen, darüber nachzudenken und zu fragen, glaubte lange Zeit, Katrin hänge ihren Buchträumen nach, irgendwo auf der Welt sei sie auf Gedankenreise. Andere Male traf sie sie auf diese abwesende Art im Garten auf einer Mauer sitzend, einen Korb voller Rosen auf dem Schoß, die Gartenschere noch in der Hand. Oder im Bügelzimmer auf einem Hocker, einen Stoß Leintücher auf den Knien. Es kam Hilde vor, als würde Katrin in solchen Augenblicken von etwas Überwältigendem ergriffen. Trotzdem erschrak sie nie, wenn sie sie ansprach, vielmehr kam ihr Blick langsam aus ihrem Inneren zurück an die Oberfläche der realen Welt. Manchmal lächelte sie, meist aber war ihr Gesichtsausdruck ernst. Wenn sie dann aufstand, war ihr Rücken gebeugt, als trüge sie eine schwere Last. Deshalb hatte Hilde den Eindruck gehabt, dass Katrin etwas mit sich herumschleppte, etwas, was sie letzten Endes krank gemacht hatte. Vielleicht würde sie ja ein gutes Werk tun, wenn sie Katrin endlich dazu bewegen könnte, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Hilde erkannte diesen Gedanken auch als Rechtfertigung für ihr Drängen. Katrins beharrliches Schweigen brachte sie in Versuchung zu sagen: Lassen wir es, du willst ja nun mal nichts erzählen. Als sie schon die Worte aussprechen wollte, drehte Katrin Hilde ganz langsam ihr Gesicht zu und flüsterte:

    „Hildchen, ich denke viel über mein Leben nach. Manchmal hab ich dabei so einen Druck auf der Brust. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass ich darüber rede. Ich habe anderen Menschen Versprechen gegeben. Sie sind tot. Jetzt darf ich ... Dafür also, dass du mich dorthin bringst, wo ich, ja, wo ich sterben will ... ich versprech’s dir ... dafür erzähle ich dir meine Geschichte, auf die du schon so lange so scharf bist. Aber wenn ich dich enttäusche, ist das nicht meine Schuld."

    Hilde wollte protestieren. Sie liebte Katrin wie eine Mutter. Sie hing an ihr seit ihrer Kindheit, sogar schon bevor Therese, ihre Mutter, gestorben war.

    „Katrin, bitte, du weißt doch, dass ich dich liebe, bitte ... "

    Hilde wollte nicht fragen, wem Katrin welche Versprechen gegeben hatte. Sie legte ihre Hand auf Katrins Hand, strich darüber. Katrin brachte nur noch ein „Hmhm, ich weiß, Hildchen, es ist schwer, ich ..." hervor, als Schwester Erika das Zimmer in ihrem üblichen Sturmschritt betrat. Katrins Kopf fiel zur Seite. Sie machte plötzlich einen schrecklich leidenden Eindruck. Ihre Mundwinkel sanken nach unten. Hilde glaubte, sie sei um einige Grade blasser geworden. Katrin konnte Schwester Erika nicht ausstehen. Diese tat ihre Arbeit, sprach kaum, sagte aber, bevor sie das Zimmer wieder verließ, an Hilde gewandt:

    „Sie sollten Frau Öttner nicht ermüden. Es geht ihr gar nicht gut. Vielleicht könnten sie Ihren Besuch beenden. Zum Besten der Patientin."

    Sie eilte aus dem Zimmer.

    „Die Schwester Erika, Hildchen, hat was in ihrem Blick und überhaupt. Ich muss dir sagen, ich habe Angst vor der. Die hat mich abgeschrieben. Hier bist du von einem Tag auf den anderen ein sterbendes Gamma. Hilde, wir haben nicht viel Zeit für meine Geschichte."

    Hilde staunte über die neuerliche Verwandlung, die Katrin so plötzlich wieder zu einer lebendigen Seele gemacht hatte. Sie ahnte, dass aus Katrins Weigerung zu sprechen, ein Wunsch zu erzählen geworden war. Ihre Augen glänzten, ihr altes Temperament brach durch. Nur ihre Blässe blieb. Sie richtete sich auf, saß im Bett, ohne die Haltestange zu benützen.

    „Ich habe einen Plan, Hildchen."

    Sie hatte ihr altes verschmitztes Lächeln, war für eine Sekunde um Jahre jünger. Hilde staunte wieder. Aber dann fiel Katrin doch in ihre Kissen zurück und wiederholte nur:

    „Ich habe einen Plan, Hildchen."

    Dann winkte sie Hilde zu sich heran. Sie beugte sich über Katrin, die ihr ins Ohr flüsterte. Sie verstummte, sank in sich zusammen, war nun wirklich eine gebrechliche alte Frau. Hilde lernte nur langsam zwischen Theater und Wirklichkeit zu unterscheiden. Sie schüttelte den Kopf, strich Katrin mit dem Handrücken über die runzlige, bleiche Wange.

    Mit abgewandtem Kopf und geschlossenen Augen begann Katrin ihre Erzählung. Mit leisen Worten stellte sie Bild um Bild vor Hildes Augen. Es floß so mühelos aus ihr, als hätte sie sich die Geschichte schon hundertmal erzählt. Schließlich wandte sie sich Hilde wieder zu und sagte:

    „Genug für heute, ich bin müde, und mein Bauch! Hildchen, schreib’s auf. Aber jetzt bist du dran! Überleg dir meinen Plan!"

    Katrin war müde, lag erschöpft in ihren Kissen, aber sichtlich auch mit sich zufrieden, dass sie es geschafft hatte, die Barriere in sich zu überwinden.`Jetzt ist mir grad, als hätt ich die Geschichte schon lange erzählen wollen. Ich werde Hilde alles beichten. Vielleicht kann ich dann ruhiger gehen und vor meinen Herrgott treten.’

    Hilde wartete noch eine Weile. Katrin schwieg.

    „Ich danke dir, Katrin, dass du mir vertraust. Ich geh jetzt, ja?"

    Ein leichtes Senken des Kopfes nahm Hilde als Einverständnis und ging. ’Katrin wird mir also ihr Leben erzählen ...’

    ***

    Der Wecker kippte über seine beiden vorderen Metallfüßchen, als Katrins Hand darauffiel und sein Schrillen verstummte. Sie streckte sich, schüttelte ihre Schultern, schob das Deckbett gegen die Wand und blinzelte in die frühe Dämmerung, die hinter ihrem Dachfenster stand. Sie stellte die Füße auf den Bettvorleger, schlüpfte in ihre Hausschuhe, fuhr sich mit den Fingern durch ihr dichtes langes Haar, warf es mit einem Kopfschwung in den Nacken und mit einem gemurmelten „Auf geht’s!" stellte sie sich auf die Beine. Gang zum Waschtisch. Sie hob den schweren Krug an und goss Wasser in die Waschschüssel. Wieder schüttelte sie sich, griff mit beiden Händen in das kalte Wasser und rieb sich das Gesicht ab, trocknete sich, zog ihr Nachthemd über den Kopf, Katzenwäsche und rasch in die Kleider. Als sie die steile Stiege hinunter ging, hielt sie kurz inne, horchte wie immer auf der letzten Stufe. Kein Laut aus Küche, Stube oder Kammer. Die Eltern schliefen noch. Nur drunten im Stall scharrte eine der Kühe und stieß dabei mit einem dumpfen Laut gegen den Futtertrog. Sie betrat die Küche, machte erst Feuer im Herd, dann in der Stube. Bis es im Herd richtig loderte, kämmte sie sich mit klammen Fingern ihr Haar, flocht es zu einem dicken Zopf, den sie sich, die Haarnadeln zwischen den Zähnen, um den Kopf legte und feststeckte. Sie war stolz auf ihr gesundes blondes Haar. Eigentlich war es das Schönste an ihr. Mindestens dachte sie selbst das. Sie wusch es sorgfältig jeden Sonntagmorgen vor dem Kirchgang und spülte es mit Essig, dass es glänzte. Ihr Vater schimpfte jedesmal über die Verschwendung. Aber manches Mädchen im Dorf beneidete sie, sie verschrien sie als hochmütig, manche nannten sie sogar affig. Sie kümmerte sich nicht darum.

    Sie setzte die Milch auf den Herd, holte ihre Schnürstiefel und band sie sich hoch, ein Bein auf dem Küchenhocker. Ihr Vater hatte sie umsonst viele Jahre lang dafür gescholten, wie er überhaupt immer was an ihr auszusetzen hatte. Sie goss die warme Milch in einen irdenen Becher, brockte sich Brot hinein und trug ihn in die Stube. Sie hörte ihren Vater in der Schlafstube nebenan schnarchen, vielleicht war es auch die Mutter, beide schnarchten, ja, manchmal schnarchten sie im Duett. Katrin musste jedesmal lächeln. Dann läutete auch dort drin der Wecker. Katrin schaute auf die Wanduhr, tatsächlich schon 5 Uhr, sie musste los. Noch bevor ihre Eltern aus der Kammer kamen, trug sie ihren Becher in die Küche, stellte ihn in den grauen Spülstein, zog sich ihren Wintermantel an und war schon auf der Treppe. Beide Kühe begannen wie jeden Morgen, wenn sie das Haus verließ, gleichzeitig zu muhen. Sie öffnete die Tür und trat in den frühen, noch unter dem Nebel versteckten Frühlingsmorgen hinaus.

    Die Kirchenuhr schlug halb sechs, als sie den Weg ins hintere Tal erreichte und in die Steige einbog, die in vielen Kehren zum Hof hinaufführte. Bei jedem ihrer Atemzüge stiegen weiße Nebelwölkchen in die kalte Luft. Sie liebte den Duft des modernden Laubs im Frühjahr, nass und schwer, und sein Rascheln im Herbst. Da ging sie knietief im leichten Laub und kickte die Blätter hoch in die Luft. Aber nur, wenn niemand sie sehen und hören konnte, denn sie begleitete ihr Laubaufwirbeln mit kurzen lustvollen Schreien. Und sie wollte nicht für verrückt gehalten werden.

    Sie erreichte die große Kehre, als sie von ferne aufgeregtes Hundegebell vernahm. Sie trat an den Abhang, schaute ins Tal hinunter und sah durch den aufreißenden Nebel, wie die Schäfer mit Hilfe ihrer Hunde die störrischen Schafe zur Schafwäsche trieben. ‚Vielleicht sind das unsere, vom Felsenhof’, dachte sie und versuchte einen der Schäfer zu erkennen. Aber sie waren wie die Schafe und Hunde nur kleine Punkte am Fluss, über dem noch dünner Frühnebel hing, der das Erkennen erschwerte. Sie folgte weiter dem steilen Schotterweg hinauf auf die Ebene. Sie liebte es, jeden Morgen in dieser Stille zu gehen, manches Mal von dem Knirschen des Schnee oder der Steine unter ihren Sohlen oder dem Gesang der Vögel begleitet. Sie ließ ihren nörgelnden Vater und ihre meist stumme Mutter hinter sich und war noch nicht von dem Geschrei der Knechte und Mägde auf dem Hof umgeben. Sie wäre gerne stundenlang so gewandert, aber schließlich hatte sie Arbeit, musste ihr Brot verdienen.

    An diesem Märztag ertönte ein langgezogenes Gääi-gääi hoch über ihr. Ein Falke. Sie legte den Kopf in den Nacken, wollte ihn, den sie wegen seiner Kraft und seines eleganten Fluges bewunderte, erspähen. Durch die Nebelschwaden glitt kurz nur sichtbar auf weiten Schwingen ein Wanderfalke und verschwand wieder lautlos jenseits der Baumwipfel. Sie setzte ihren Weg fort und beschloss, an ihrem nächsten freien Sonntag auf den Garner Felsen zu steigen, um die Wanderfalkenfamilie, die gegenüber in den Ullbergfelsen nisteten, zu beobachten. Sie summte die Melodie des Liedes „Kein schöner Land zu dieser Zeit ..." vor sich hin und ging beschwingt bergauf.

    Plötzlich blieb sie stehen, horchte. Die Stille wurde heute nicht nur vom Ruf des Falken, vom fernen Blöken der Schafe, dem Hundegebell und den Schreien der Schafwäscher unterbrochen, nein, da war ein ungewöhnlicher Motorenlärm in der Luft. Und er näherte sich. Er brach in ihre Gedanken ein, als wollte er dem Lauf der Dinge eine andere Wendung geben. Sie machte einen kleinen Sprung auf die niedrige Böschung am Wegrand, rutschte ein wenig auf dem feuchten Laub, trat unter die Bäume, wartete. Es war ein Lastwagen. Sie versteckte sich hinter einem dicken Kastanienbaum. Und wusste nicht warum. Aber es war ihr unheimlich, dass hier ein Lastwagen hochkeuchte, wo er nicht hingehörte und seinen Weg zum Hof, wenn er denn dahin wollte, besser über Bernthal genommen hätte.

    ‚Soldaten, vielleicht sind es Soldaten’, dachte sie und drückte sich noch näher an den Baum. ‚Aber was wollen die auf dem Hof?’ Sie war nicht ängstlich, im Gegenteil, sie wagte manches, was andere junge Mädchen nicht tun würden. Vom hohen Heuwagen springen zum Beispiel oder in die höchsten und äußersten Äste der Obstbäume klettern, wo andere sich eine Leiter holen würden zum Obstpflücken. Oder mit dem Dorfdepp Heiner Fußball spielen. Das war früher, als sie noch zur Schule ging. Jetzt grüßte sie ihn an der Steinbrücke über den Fluß. Dort saß er manchen Morgen und stierte in das schnell fließende Wasser. Wenn Katrin vorbeikam, stand er immer auf, zog sein schiefes Gesicht zu einer Grimasse, was seine Art des Lächelns war, wie Katrin wohl wusste. Es war jeden Tag dieselbe Szene. Heiner gehörte zu ihrem Dorf wie der Wetterhahn auf den Kirchturm. Jedem im Dorf hätte Heiner gefehlt, ob er ihn nun mochte oder nicht. Und Katrin hatte mit ihm Fußball gespielt, früher, dass ihre Zöpfe flogen und die Dörfler den Kopf schüttelten und die Dorfkinder lachten.

    Das Brummen war so ungewöhnlich, dass sie auf ihrem Beobachtungsposten ausharrte, um dieses völlig neue Phänomen in Augenschein zu nehmen. Der Lastwagen schob sich mühevoll um die Kurve, die Katrin einsehen konnte. Steine spritzten unter seinen Reifen weg wie Geschosse. Er fuhr an ihr vorbei. Auf der Ladefläche saßen junge Männer, zusammengekauert, aneinander gedrückt. Gesenkte Köpfe, keiner bemerkte Katrin hinter dem Kastanienbaum. Traurige Gestalten. Katrin schlug ihren Mantelkragen hoch.

    Es hatte ein Gerücht gegeben auf dem Hof: Polen sollten kommen, bei der Ernte helfen. ‚Jetzt schon? Im März? Sechs Knechte sind eingezogen worden, stehen an der Front, in Russland, Afrika. Wir brauchen wirklich Arbeiter, jetzt, wo so vieles zu tun ist. Da bin ich aber gespannt, ob Polacken überhaupt wissen, was Arbeiten heißt, mal sehen ...’ Sie setzte ihren Weg fort. Aus Neugier ein wenig schneller. Vergessen waren Stille und Moderduft ...

    Als sie oben ankam, den Waldrand erreichte und über die Felder zu den Gebäuden des Felsenhofes hinüberschaute, sah sie den Lastwagen vor der großen Scheuer stehen, von den Männern keine Spur. Sie beeilte sich, betrat die Großküche im Gesindehaus. Ihre Gehilfin, die Grete, entbot ihr keinen Morgengruß – sie musste mit dem Sprechen sparsam sein,

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