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Die Ketzer von Antiochia: Der Aufstieg des frühen Christentums
Die Ketzer von Antiochia: Der Aufstieg des frühen Christentums
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eBook680 Seiten7 Stunden

Die Ketzer von Antiochia: Der Aufstieg des frühen Christentums

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Über dieses E-Book

Ein furchtbares Erdbeben verwüstet die Stadt Antiochia. Der 15jährige Menachem wird gerettet von Angehörigen einer Sekte, die Christianer genannt werden. Er lernt den Baumeister Porphyrios kennen, der die Stadt wieder aufbauen will. Dieser schickt den begabten Jungen zum Studium der Architektur nach Rom. Drei Jahre später kehrt Menachem als Angehöriger des Ritterstandes zurück und wird zum Baumeister mit allen Vollmachten befördert. Er heiratet seine große Liebe Berenike, die auf ihn gewartet hatte. Sie hofft darauf, dass er sich taufen lassen und ihren Glauben an Christus, den Gesalbten Gottes, teilen wird. Sein hohes Ansehen in der Stadt schützt die Christianer vor Verfolgung. Sie gelten in der Stadt als verdächtige Sekte. Ihre Gegner suchen sie zu vernichten.
Der Leser wird Zeuge der Geburt einer neuen Religion, des Christentums, das seine Wurzeln im Judentum hat. Die Hauptperson ist als hybride Persönlichkeit gezeichnet. Menachem ist von Geburt Jude, aber griechisch gebildet. In beidem verkörpert er die Erfolgsgeschichte des frühen Christentums.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum20. Apr. 2015
ISBN9783737540407
Die Ketzer von Antiochia: Der Aufstieg des frühen Christentums

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    Buchvorschau

    Die Ketzer von Antiochia - Alexander L. Cues

    Erstes Buch Die Götter zürnen

    I

    Als Menachem erwachte, wusste er nicht, wo er sich befand. Es war stockfinster. Die Mischung aus Staub und Leichengeruch machte ihm das Atmen fast unmöglich. Eine blutende Wunde am Kopf ließ ihn erschrecken. War sie die Ursache für den stechenden Schmerz, der ihm beinahe die Besinnung raubte? Er vermochte es nicht zu sagen, genau so wenig, wie lange er hier schon gelegen hatte. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Er erinnerte sich nur noch an zwei, drei furchtbare Erschütterungen, das entsetzte Schreien der Menschen, das vom Lärm des zusammenstürzenden Hauses übertönt wurde. Als sich die Katastrophe ereignete, waren sie gerade mit der Zubereitung ihres armseligen Essens beschäftigt. Es gab einen Brei aus Getreideresten, die sie außerhalb der Stadtmauern gesammelt hatten. Beißender Qualm erfüllte wie immer den einzigen Raum ihrer Wohnung im dritten Stockwerk des Mietshauses im jüdischen Viertel von Antiochia. Sie lebten auf diesem beengten Raum mit sechs Personen: die Eltern, Arie und Rahel, mit den vier Kindern: Menachem, der Älteste, seine Schwestern Zippora und Lea und der Bruder Dror, der gerade erst vier Wochen alt war. Wo waren sie jetzt? Hatten Sie den Einsturz ihres Hauses überlebt? Quälende Gedanken überfielen ihn und ließen ihn nicht mehr los. Würde man nach ihnen suchen? Aus eigener Kraft war es ihm unmöglich, sich nicht aus dieser Trümmerwüste zu befreien. Aus der Ferne drangen leise Stimmen an sein Ohr: das Wimmern der Verletzten, deren Gliedmaßen gebrochen waren, die verzweifelten Rufe nach den Kindern, den Eltern, die unter den eingestürzten Mauern begraben waren. Die meisten hatten keine Chance, dem Verderben zu entrinnen. Ihre Insula war wie alle Wohnhäuser ihres Stadtbezirks aus getrockneten Lehmziegeln errichtet, die selbst ohne Erdstöße manchmal in sich zusammenfielen, weil die Grundmauern die Belastung nicht tragen konnten. In den oberen Stockwerken zogen sie oft zusätzliche Mauern ein, um weitere Menschen unterbringen zu können. So wuchs die Gefahr eines Einsturzes mit jedem neuen Bewohner. Menachem machte sich wenig Hoffnung, gefunden zu werden. Wenn die Eltern und Geschwister tot waren, würde niemand nach ihm fragen. Überlebende ergriffen aus Angst vor Seuchen nach solchen Katastrophen die Flucht. Schwer Verletzte lagen oft tagelang herum und starben vor Durst. Er aber wollte leben.

     

     

    Sie hatten unsägliche Mühen bei der Übersiedlung nach Antiochia auf sich genommen. Welchen Sinn hätte das also gehabt, würde er jetzt elend zugrunde gehen? Vor vier Jahren waren sie aus dem Bergland von Galilaea hergekommen. Menachem war gerade zwölf geworden. Er hütete in der Heimat immer die kleine Ziegenherde, von der die Familie lebte. Der Vater stellte Decken her aus Ziegenhaaren, die Mutter machte Käse und backte Brote aus Weizen und Gerste. Sie waren immer fromme Judäer gewesen, die den Sabbat feierten und die Speisegebote beachteten, wie ihre Vorfahren es schon seit Generationen getan hatten. Sie hielten Abstand zu den Fremden, die von Tyros herüber kamen, um mit ihnen zu handeln. Die Händler brachten lederne Gürtel mit und Amphoren für Wein und Öl. Manchmal tauschte der Vater aber seine Decken ein gegen nützliche Dinge, die sie im Hause brauchten: Öllampen, Kämme und Besen. Es war ein einfaches aber erträgliches Leben. Dann kam jedoch das verhängnisvolle Jahr, in dem kein Regen fiel und die Tiere keine Nahrung mehr fanden. Eins nach dem andern mussten sie schlachten. Die Parzellen, die der Vater geerbt hatte, mussten an den Großgrundbesitzer verkauft werden, damit sie sich wenigstens noch etwas zu essen kaufen konnten. Als auch dieses Geld zu Ende ging, musste der Vater als Tagelöhner anheuern. Der bescheidene Lohn reichte aber bald nicht mehr aus, um die Familie zu ernähren. Schließlich beschlossen die Eltern, in die Stadt Antiochia zu ziehen, wo ein Bruder der Mutter mit Frau und Kindern lebte. Sie zogen mit ihren wenigen Habseligkeiten fort aus dem Dorf Kedesh, wo es für sie keine Zukunft mehr gab.

     

     

    Vorsichtig tastete er über sein Gesicht. Die Wunde befand sich über dem rechten Auge, wo ihn ein Stützbalken getroffen hatte. Die Blutung war mittlerweile zum Stillstand gekommen, doch er musste unbedingt seinen Durst stillen und die Wunde auswaschen. Bei dem nahezu aussichtslosen Versuch, sich aus seiner Lage zu befreien, durchzog ein heftiger Schmerz seinen linken Fuß. Als er das Bein abtastete, wurde der Schmerz unerträglich. Das Fußgelenk war zertrümmert und bedeckt von einem Gemisch aus Lehm und Blut. Ihm wurde klar, dass er sich ohne Hilfe niemals würde befreien können. Er musste an die jüngeren Geschwister denken. Sie konnten die Katastrophe unmöglich überlebt haben. Und wenn doch, würden sie an den Folgen ihrer Verletzungen sterben. Er schob die unerträgliche Vorstellung beiseite. Dieser Gedanke war ihm zu schmerzhaft, denn zwei weitere Geschwister, ein Junge und ein Mädchen, waren schon kurz nach der Geburt an Infektionen, die mit hohem Fieber und rötlichen Flecken auf den kleinen Körpern einhergingen, gestorben. Der jüdische Arzt, den sie aufsuchten, nannte die Krankheit „Fleckfieber. Helfen konnte er ihnen nicht. Er gab ihnen den Rat, ihr Wasser aus einer anderen Zisterne zu holen. Das bedeutete eine Verdoppelung des Weges für die Kinder bei der Beschaffung von Wasser, das sie aus dem syrischen Stadtbezirk holen mussten. Manchmal jagten die Anwohner sie einfach davon. Und jetzt bangten sie um das Leben des kleinen Dror, der bis jetzt noch gesund geblieben war. Menachem dachte gerade, dass er wieder ohnmächtig werden würde, als er Stimmen über sich hörte. Er konnte nicht verstehen, was in dieser für ihn fremden Sprache gerufen wurde. Mit letzter Kraft brachte er einen verzweifelten Schrei hervor, bevor ihm erneut die Sinne schwanden. Als er erwachte, schaute er in zwei fremde Gesichter. Ein junger Mann, seiner Kleidung nach ein Grieche, und eine syrische Frau beugten sich über ihn. Die Wunde am Kopf schmerzte unerträglich. Jemand hatte ihm einen Kopfverband angelegt. Er bemerkte, dass die Frau seinen verletzten Fuß versorgte. Als der Mann ihn fragte: „Willst du etwas trinken? zuckte er zusammen. Angst und Misstrauen überfielen ihn. Die Eltern hatten ihn gelehrt, im Umgang mit Fremden vorsichtig zu sein. Judäer waren oftmals Opfer von Anschlägen. Besonders feindlich verhielten sich ihnen gegenüber die eingeborenen Syrer, deren Sprache er nicht verstand. Warum halfen diese Fremden ausgerechnet ihm? Wohin hatte man ihn gebracht? Er wusste, dass die Stadt eine Brutstätte des Verbrechens war. Besonders jetzt, nach dem Erdbeben, waren mit Sicherheit Scharen von Plünderern unterwegs. Herumliegenden Leichen, aber auch schwer Verletzten wurde alles genommen, was irgendwie zu gebrauchen war.

     

     

    Der Raum, in dem er sich befand, zeigte bedrohlich wirkende Risse im Mauerwerk. Es war lebensgefährlich, sich hier aufzuhalten. Jeden Moment konnte das Dach einstürzen. Wussten seine Retter nicht, in welcher Gefahr sie sich hier befanden? Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte die Frau: „Wir haben die Mauern abgestützt. Das Dach ist heil geblieben. Wenn nicht ein neues Beben kommt, sind wir sicher. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Als er zu trinken versuchte, zitterte er so stark, dass ihm der Becher aus der Hand fiel. Die Frau füllte ihn neu und half ihm, den Becher zum Mund zu führen. „Lass´ Dir Zeit. Es ist genug da. Auch sie sprach Griechisch, das er gut verstand. Die Nachbarn im Haus waren aus Kreta nach Antiochia gekommen. Von ihnen hatte er die Sprache gelernt.

     

     

    Jetzt erst merkte er, dass noch andere Personen im Raum lagen und versorgt wurden. Zwei lagen ganz nahe bei ihm, ihr schmerzhaftes Stöhnen war für ihn deutlich zu vernehmen. Zwei weitere Verletzte lagen auf der anderen Seite des Raumes neben dem Eingang. Sie schienen zu schlafen. Er konnte nicht erkennen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Wieder wandte sich die Frau an ihn: „Du brauchst unbedingt Ruhe. Versuche zu schlafen." Er war jedoch noch viel zu aufgewühlt von den Geschehnissen, um einfach schlafen zu können. Zudem beschäftigte ihn die Frage, bei was für Menschen er sich hier befand. Er konnte sich nicht vorstellen, was diese Menschen bewegte, sich um die Verletzten zu kümmern, wagte jedoch nicht, seinen Rettern eine Frage zu stellen, die sich abwechselnd mal dem einen, dann dem anderen Verletzten zuwandten, ihnen zu trinken gaben und die Wunden versorgten. In einer Nische des Raumes sah er einen Tisch, auf dem er eine Buchrolle erkennen konnte. Als sich die Tür öffnete, betrat ein weiterer Mann den Raum, an Kleidung und Haartracht unschwer als Judäer zu erkennen. Er begrüßte die beiden Helfer mit einem Kuss und sagte: „Kyrios Jesous". Diese erwiderten seinen Gruß mit denselben Worten. In einer bereitstehenden Schüssel wusch er den Staub von seinen Füßen und ließ sich von den anderen erzählen, wie es um die Verletzten stand. Dann kam er auf Menachem zu und fragte ihn, wie er heiße. „Menachem, Sohn des Arie aus Kedesh," antwortete er stockend und mit leiser Stimme. „Ich glaube, wir haben deine Eltern und Geschwister gefunden. Sie leben, aber dein Vater ist schwer verletzt. Er hat immer wieder deinen Namen gerufen. Sie werden gerade hierher gebracht. Als er diese Worte des Fremden vernahm, wollte Menachem sich aufrichten, spürte aber, dass seine Kraft dazu nicht reichte. „Du wirst sie bald sehen. Sie können nicht aus eigener Kraft gehen. Es kann aber nicht mehr lange dauern. Bleib´nur ruhig liegen. Diese Nachricht hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn und er schlief trotz seiner Schmerzen wieder ein.

     

     

    Er wurde geweckt durch das ihm wohlbekannte Weinen eines Kindes, welches er sofort als die Stimme seines kleinen Bruders Dror erkannte, der in den Armen der Mutter lag, die gerade hereingetragen und auf eine Decke gelegt wurde. Wieder wollte er sich aufrichten, um ihr etwas zuzurufen, fiel aber auf sein Lager zurück und schlief weiter. Unruhig wälzte er sich hin und her. Er erinnerte sich im Traum daran, wie sie nach Antiochia gekommen waren. Die Stadt war ihm zuerst unheimlich und gefährlich erschienen. Ihre hohen Mauern, die engen Straßen mit den Mietshäusern, der Lärm, der Schmutz und der unsägliche Gestank von Abwässern und Garküchen – das alles war ganz anders als die liebgewonnenen Lebensumstände in seinem Heimatdorf in den Bergen Galilaeas. Sie fanden zunächst Unterkunft beim Bruder der Mutter und seiner Familie, was die große Umstellung zumindest ein wenig erleichterte. Jakob ben Zakkai war im jüdischen Viertel ein angesehener Mann. Er konnte lesen und schreiben und half ihnen, sich bei den Behörden registrieren zu lassen. Er kannte sich zudem im Rechtswesen aus und verfasste Gutachten für Handwerker und Händler, die mit dem Magistrat der Stadt um Steuern und Abgaben stritten. Man konnte ihn durchaus als wohlhabend bezeichnen, denn er besaß ein Mietshaus mit vier Stockwerken, das mit seiner Rückwand einen Teil der Mauer bildete, die das jüdische vom syrischen Viertel trennte. Die eigene Wohnung bestand aus drei Zimmern, einer Küche und hatte eine Latrine, was schon ein gewisser Luxus war. Eins der Zimmer wurde freigemacht für Menachems Familie. Als einige Zeit später eine Familie im dritten Stock am Fleckfieber starb, zogen sie in deren Wohnung, die aus einem Zimmer und einer kleinen Nische bestand, die sie als Vorratskammer benutzten. Neben ihren Schlafstellen, der kleinen Wiege für den Bruder und der Feuerstelle gab es noch eine Truhe im Zimmer, in der die Habseligkeiten der Familie aufbewahrt wurden: ein paar Ziegenfelle, der Gebetsschal des Vaters, Silberschmuck der Mutter, Essgeschirr und die Sabbatleuchter mit ihren Kerzen. Wenn man aus dem Fenster schaute, konnte man in die Zimmer des gegenüberliegenden Hauses hineinblicken. Die Straße war so schmal, dass man die Gespräche der Bewohner von gegenüber gut mithören konnte.

     

     

    Diesmal wurde er geweckt, als man seinen schwer verletzten Vater hereintrug, der eine große Kopfwunde erlitten hatte und vor Schmerzen stöhnte. Man legte ihn neben Menachem auf eine Decke.

     

    Abba", flüsterte er, „kannst Du mich hören? Der Vater drehte ihm den Kopf zu und seufzte vor Glück: „Dem Himmel sei Dank. Du lebst! Ist die Mutter auch hier? Und deine Geschwister?

     

    Die Mutter ist hier, mit Dror. Von Lea und Zippora weiß ich nichts. Sind sie mit dir zusammen im Haus gewesen, als das Unglück passierte? „Nein, sie waren unten mit den Kindern deines Onkels. Ich konnte ihre Schreie hören. Sie haben nach mir gerufen, aber ich konnte ihnen nicht helfen. Der Vater war zu schwach, um weiter zu reden. Der fremde Judäer gab ihm zu trinken und schaute besorgt auf seine Verletzungen. Als der Vater eingeschlafen war, wandte er sich an Menachem und sagte: „Es sieht aus, als wenn dein Vater auch innere Verletzungen hat. Er hat mehrmals Blut gespuckt, als wir ihn hierher getragen haben." Dann beugte er sich über den Vater und wusch die Wunde an dessen Kopf behutsam aus. Jetzt konnte der Junge entsetzt feststellen, dass der Vater über und über mit Blut bedeckt war, das seine Kleider mit dem Staub zusammen gelb-rötlich gefärbt hatte.

     

     

    Seine anfängliche Freude über die Wiedervereinigung mit seinen Eltern wich immer mehr der Angst vor dem, was vor ihnen lag. Was sollte aus ihnen werden? Menachem dachte voller Verzweiflung daran, dass sie nun auch ihre kümmerliche Wohnung mit ihren wenigen Besitztümern verloren hatten, ihnen war nichts von dem geblieben, was sie gerade erst aufgebaut hatten. Der Vater hatte im griechischen Stadtbezirk, der direkt am Orontes lag, bei einem Färber Arbeit gefunden. Er selbst lernte schnell, seine Tage auf der Straße zu verbringen und etwas zu verdienen. Das war schwer und gefährlich. Manchmal half er einem Gemüsebauern, dessen Vorfahren makedonische Soldaten waren, seinen Stand aufzubauen und die Auslagen zu bewachen. Da gab es dann hin und wieder ein paar Oliven, einen Kohlkopf oder auch ein paar Bohnen für die Familie. Ab und zu schleppte er Wasserkrüge für Nachbarn ihrer Insula. Auch half er bei Bauarbeiten an und in Wohnhäusern des jüdischen Wohnbezirks, wo viel gebaut wurde. Er flickte dort Dächer und half den Bewohnern dabei, Wände einzuziehen, um den vorhandenen Wohnraum zu unterteilen. Das alles verschaffte ihm einige Kupferasse, deren eine Hälfte er seiner Mutter gab, während er die andere Hälfte in einen Lederbeutel legte, den er Tag und Nacht nicht ablegte.

     

     

    Jetzt musste er an den Onkel und seine Familie denken. Ruth, die Frau des Onkels, war schwanger. Sie warteten auf ihr drittes Kind. Joel, der Sohn, war sieben, die Tochter Rahel fünf Jahre alt. Der Onkel hatte damit angefangen, seinen Kindern Lesen und Schreiben zu lehren. Menachem durfte dabei sein und lernte schnell. Das spornte die beiden Kinder an, die es ihrem älteren Cousin gleichtun wollten. Er wollte schnell lernen und sich immer mehr Wissen aneignen, denn er hatte ein großes Ziel vor Augen.

     

     

    Baumeister wollte er werden. Das war sein Geheimnis.

     

     

    Noch niemandem hatte er davon erzählt. Er hatte heimlich die Bibliothek der Stadt aufgesucht, wo man die Baupläne der Tempel und des kaiserlichen Palastes bewundern konnte. Gerade als er sich vorstellte, wie er bald wieder seine hebräischen, griechischen und lateinischen Buchstaben auf den Papyrus malen würde, vernahm er, dass die Tür ein weiteres Mal geöffnet wurde. An der Hand einer phönizischen Sklavin betraten seine beiden Schwestern den Raum. Zippora, die Ältere, war kreidebleich und Lea, die Jüngere, weinte und versuchte so schnell wie möglich zur Mutter zu kommen, die beide Kinder sofort gesehen hatte. Menachem konnte nicht glauben, was er mit eigenen Augen sah: Beide Mädchen waren unverletzt! Auch die Mutter war überwältigt und fing vor Schmerz und Freude laut zu weinen an. Die Phönizierin begrüßte die anwesenden Helfer mit einem Kuss und dem Gruß „Kyrios Jesous", den diese erwiderten. Dann kümmerte sie sich weiter um die beiden Kinder. Seltsame Menschen, dachte Menachem. Sie schienen sich alle zu kennen, obwohl sie doch Griechen, Syrer, Judäer oder Phönizier waren. Wie konnte es sein, dass Handwerker, Sklaven und Freigelassene sich küssten? Und was bedeutete dieser merkwürdige Gruß? Wer war dieser Jesus? Traf sich die Gruppe vielleicht sogar im Geheimen? Das wäre durchaus möglich, denn die Polizeibehörden der Stadt duldeten solche Zusammenschlüsse nicht. Wer nicht angemeldet und registriert war, musste mit hohen Strafen rechnen. Meistens wurden die Anhänger lebenslang in die Steinbrüche geschickt. Menachem erinnerte sich an einen Vorfall in der Nachbarschaft des makedonischen Gemüsehändlers. Dort trafen sich Anhänger des Isiskultes, meistens Handwerker aus dem syrischen Bezirk. Einmal hatten sie gerade ihr monatliches Festmahl beendet, den Göttern geopfert und sangen ihren Paian, als plötzlich Wachsoldaten in ihr Lokal eindrangen. Sie wurden festgenommen und in Ketten abgeführt. Man machte ihnen den Vorwurf, Aberglauben zu verbreiten. Letztendlich stellte sich heraus, dass die Zusammenkünfte der Gruppe nicht genehmigt waren. Alle Anwesenden wurden daraufhin in Ketten gelegt und zur Arbeit in den Steinbrüchen verurteilt. Ob seine Retter wohl auch einem Aberglauben anhingen?

     

     

    Der nächste Tag brachte ihm ein wenig Aufklärung. Es war der Abend vor Jom Rishon, dem ersten Tag der Woche. Unmittelbar nach Sonnenuntergang wurde er durch Singen und Beten geweckt. Mit zum Himmel erhobenen Händen standen sie da und riefen ihren Gott an: Der junge Grieche, die Syrerin, der Judäer, die Sklavin und noch ein paar andere, darunter einige Judäer, aber auch andere Syrer und Griechen, Männer und Frauen. Dann setzten sie sich an einen Tisch, sprachen den Segen und brachen das Brot, wobei sie in Jubel ausbrachen. Menachem verstand einige Worte: „Verkündigt den Tod des Herrn, bis dass er kommt." Sie aßen und tranken aus einem Kelch, der herumgereicht wurde. Nach ihrem Mahl holten sie eine Schriftrolle aus der Nische, aus der der Judäer den Wochenabschnitt aus dem Propheten Jesaja vorlas, ehe die Syrerin das Wort ergriff und den Text auslegte. Zum Abschluss küssten sich alle und verabschiedeten sich mit dem Gruß „Kyrios Jesous". Einige verließen dann den Raum, andere wandten sich wieder den Verletzten zu und pflegten ihre Wunden. Für den Jungen bestand nach dieser Beobachtung kein Zweifel daran, dass er mit seinen Eltern und Geschwistern in einer Synagoge war. Diese Menschen lebten offensichtlich nach jüdischer Sitte. Sie sprachen den Segen über dem Brot, legten die Tora aus und lobten Gott. Aber weshalb taten sie das am ersten Tag der Woche und nicht am Sabbat? Und weshalb aßen und tranken die Judäer zusammen mit Ungläubigen? Und wieso durfte eine Frau die Tora auslegen? Er würde den Grund für diese Merkwürdigkeiten herausbekommen und nahm sich vor, einen seiner Retter zu fragen, am besten den jungen Griechen. Am Abend dieses Tages erlag sein Vater seinen schweren inneren Verletzungen. Menachem hatte gewusst, wie es um seinen Vater stand, dennoch war es ein Schock für ihn. Sie begruben den Vater am nächsten Tag auf einem Platz, der sich im Eigentum ihrer Helfer befand. Der jüdische Friedhof ihres Wohnbezirks war total verwüstet und deshalb eine Bestattung dort unmöglich. Menachem fühlte sich nun immer mehr alleingelassen in dieser großen Stadt mit so vielen fremden Menschen, die anders waren als er und die Seinen. Er sehnte sich zurück in die Heimat. Er vermisste die Berge Galiläas und den Duft von frischem Thymian. Nachts, im Traum, sah er die vertrauten Gesichter der Großeltern und der Nachbarn in Kedesh. Ob sie wohl noch am Leben waren? Sein Schmerz tat unendlich weh, aber er weinte nur, wenn er allein war. Er vermisste die Umarmung des Vaters und seine aufmunternden Worte. Er ahnte, dass es jetzt auf ihn ankommen würde, und so gab er sich große Mühe, seine jüngeren Geschwister zu trösten, obwohl er sich selbst in seiner Trauer nach Trost sehnte. Es kostete ihn unendlich viel Kraft. Außerdem machten ihm seine Verletzungen noch sehr zu schaffen. Die Mutter hatte sich in Schweigen gehüllt. Der Schmerz hatte sie verstummen lassen. Erst nach einigen Tagen richtete sie die ersten Worte an ihren Sohn: „Du wirst stark und klug werden wie dein Vater. Er hat dir viel zugetraut." Diese Worte gingen Menachem nicht mehr aus dem Sinn.

    II

    Erst zwei Monate nach der Katastrophe konnte Menachem wieder aus eigener Kraft gehen. Dazu hatte er sich zwei Krücken aus Bauholz gebastelt, das er in Trümmern gefunden hatte. Er musste jetzt schnell auf eigenen Füßen stehen, denn nach dem Tod des Vaters war er es mit seinen sechzehn Jahren, der für die Familie verantwortlich war. Die Schäden in der von der Katastrophe heimgesuchten Stadt waren unübersehbar: Die Kolonadenstraße, einst der ganze Stolz des Magistrats, war übersät mit Bruchstücken der Tempel, Götterstatuen und öffentlichen Gebäude. Das Standbild der Stadtgöttin Tyche ragte nur noch als Fragment aus dem Schutt des einstmals daneben stehenden Tempels, dessen Säulen umgestürzt waren. Auch das Dach der Bibliothek war schwer beschädigt. Sogar die mächtige Stadtmauer hatte dem Beben nicht standhalten können. Die Häuserblocks in den griechischen, syrischen und jüdischen Wohnbezirken glichen einer Trümmerwüste. Am schlimmsten war jedoch, dass die Wasserleitungen und Kanäle, die vom Berg Silpios her die öffentlichen Zisternen der Stadt speisten, völlig zerstört waren. So liefen die Überlebenden in ihrer Not zum Orontes, um dort ihren Durst zu löschen, und tranken das verseuchte Wasser, in dem noch immer Leichen entsorgt wurden, ein schrecklicher Teufelskreis. Über allem lag eine gespenstische Stille. Staub und Leichengeruch machten einen Aufenthalt an vielen Orten in der Stadt fast unerträglich. Menachem und die Seinen verließen wie viele andere die Stadt und hielten sich auf dem freien Feld auf, jenseits der Stadtmauern, wo sie ein armseliges Zelt aus den Ziegenfellen ihres Vaters, die sie aus den Trümmern bergen konnten, errichtet hatten. Das schützte sie ein wenig vor den empfindlichen kalten Winden, die jetzt im Herbst aus Nordosten in die Ebene von Hatay Einzug hielten.

     

     

    Trotzdem konnte dieser Zustand keine Dauerlösung sein. Der junge Judäer überlegte, wo sie in der Stadt Schutz und Obdach finden konnten, und suchte Alexander auf, den jungen Griechen, dem er sein Leben verdankte. Alexander lebte mit seiner Familie in einem stark zerstörten Wohnhaus, wo sie einige Cellae, Räume des Erdgeschosses, zu Wohnhöhlen hergerichtet hatten. Die Menschen lebten dort mit der ständigen Bedrohung, von herabstürzenden Gebäuderesten erschlagen zu werden, hatten aber keine Wahl. Die Höhlen boten wenigstens Schutz vor der heraufziehenden Kälte des Winters. Die Eltern Alexanders waren Opfer des Erdbebens geworden. Er kümmerte sich mit seiner Schwester Berenike, zwei Jahre jünger als er, um die drei jüngeren Geschwister, die die Katastrophe überlebt hatten.

     

    Glaubst du, dass wir das alles überleben können?" fragte Menachem seinen Retter.

     

    Mit Gottes Hilfe werden wir es schaffen. Und wenn der Kyrios kommt, hat alles Elend ein Ende. Bis dahin helfen wir einander, so gut es geht." Menachem glaubte nicht an Gottes Hilfe. Wo war sie? Um sie herum war bittere Not, Durst, Hunger, Seuchen, elendes Sterben. Wie konnte Alexander da von der Hilfe Gottes sprechen?

     

    Wir machen eine Prüfung durch. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, auch nicht der Tod unserer Eltern. Was wir erleben, ist nur ein Vorspiel für die Wiederkunft des Kyrios. Wir beten darum, dass er kommt. Dann nannte Alexander ihm einen Namen: Porphyrios. „Du weißt doch, wie man Mauern errichtet und Dächer deckt. Geh´und grüße ihn von mir. Er ist Baumeister und sucht Helfer für den Wiederaufbau der Stadt. Er war mit meinem Vater befreundet. Du findest ihn im römischen Quartier, nicht weit von der Bibliothek entfernt. Auf dem Weg dorthin durch die zerstörte Stadt offenbarte sich ihm das von Elend beherrschte Bild, das er fortan nicht mehr vergessen würde. Noch immer lagen Leichen in den Trümmern, manchmal ganze Familien, die der Tod beim Essen ereilt hatte. Scharen von Ratten rannten umher und zankten sich laut um jeden Bissen. Im Hippodrom und an anderen Stellen, die man vom Schutt bereits geräumt hatte, verbrannte man Leichen, was einen bestialischen Gestank verursachte. Menachem dachte, dass die Toten wohl besser dran waren als jene, die jetzt von der Seuche befallen waren und fiebernd in den Trümmern umherirrten, wo der Tod auf sie wartete. Noch immer suchten Kinder nach ihren Eltern, hofften Überlebende darauf, ihre Angehörigen zu finden. Die staatliche Ordnung war völlig zusammengebrochen. Diebe und Plünderer waren unterwegs. Aber wer war ein Plünderer, und wer suchte unter den Trümmern nach eigenen, vielleicht schmerzlich vermissten Gegenständen? Niemand sprach mit einem anderen, jeder schien mit seinem eigenen Schmerz überfordert. Menachem hatte nur einen Wunsch: Schnell wieder heraus aus dieser Wüste aus Schutt und Leichen. Es schien ihm unvorstellbar, dass hier jemals wieder Menschen leben und arbeiten könnten. Er beschleunigte seine Schritte, musste aber immer wieder Umwege machen, weil Trümmer seinen Weg versperrten. Als er schließlich den höher gelegenen römischen Bezirk erreichte, bemerkte er, dass hier einige Häuser zwar stark beschädigt, aber nicht völlig eingestürzt waren. Ein trauriges Bild boten allerdings einige öffentliche Gebäude: das Nymphaeum, das Pantheon daneben, der Tempel der Diana und der Altar, auf dem für den Kaiser geopfert wurde.

     

     

    Wie sollte er hier nur den Architekten Porphyrios finden? Menachem setzte sich auf einen Stein und zog den Schlauch hervor, in dem sich sein kostbarer Wasservorrat befand. Er wollte gerade trinken, als er einen Schlag auf seiner Schulter spürte: „Her mit dem Schlauch, wenn dir dein Leben lieb ist! brüllte eine Männerstimme. Als er sich umdrehte, erblickte er zwei heruntergekommene Gestalten. „Wird es bald? drohte der zweite und hob einen Stein auf, um ihn gegen Menachem zu schleudern. Um der bedrohlichen Situation zu entgehen, hielt er den Unbekannten den Wasserschlauch hin. Plötzlich aber ertönte hinter ihnen eine ganz andere, Ehrfurcht gebietende Stimme: „Macht euch davon, elendes Pack! Der Zorn der Götter wird euch treffen!" Als Menachem sich umdrehte, nahm er einen Greis im Priestergewand wahr, der sich mühsam mit Hilfe einer Krücke näherte und ihn anrief: „Was suchst du hier? Mach´dich fort, bevor sie dich hier niedermachen! Sie werden dir für das bisschen Wasser den Hals umdrehen! Die Götter zürnen, und keiner weiß, warum.

     

     

    Unsere Tempel und Altäre sind zerstört, es gibt keine Opfer mehr und keine Mähler. Und auch der Kaiser, den wir verehren, hat keinen Ort mehr in dieser Stadt. Sein Standbild ist zerstört wie das von Tyche und Diana. Mach`dich davon, es gibt hier nur noch Mörder und Plünderer!"

     

    Wer seid Ihr?" „Ich bin Severus, Priester des Mithras. Ich bereite mich vor auf seinen Geburtstag."

     

    Und wann ist das?" „Sieh`her: Was siehst du auf diesem Stein?" Menachem konnte die lateinischen Buchstaben D-I-M lesen.

     

    Was hat das zu bedeuten?"

     

    Deo Invicto Mithrae – dem unbesiegbaren Gott Mithras geweiht. Er wird am Ende der Tage siegen. Er hat uns gerettet durch das Vergießen des ewigen Blutes. Das steht auf diesem Grabstein. Jeder römische Soldat glaubt daran, und du kennst ihn nicht einmal? Am 25. Dezember feiern wir seinen Geburtstag. Und nun sag´mir endlich: Was machst du hier, wo das Chaos regiert?"

     

    Ich suche Porphyrios, den Architekten. Wisst Ihr, ob er sich hier aufhält? „Schau nach, da vorn, wo die Bibliothek stand, da steht sein Bretterverschlag. Er baut die Stadt wieder auf, der Fantast! Menachem wunderte sich: „Sonderbarer Alter," dachte er. „Ein Priester des unbesiegbaren Mithras! Schimpft auf das Chaos und jammert darüber, dass nicht mehr geopfert werden kann. Was können uns Opfer helfen?" Er kannte nur die Opfer im Jerusalemer Tempel. Als er klein war, nahmen ihn die Eltern einige Male mit auf die beschwerliche Reise nach Jerusalem zum Passahfest, wo er vor allem über die hohen Mauern und den Tempel des Herodes in der Stadt staunte. Er erinnerte sich, dass dort des Ewigen gedacht wurde, der die Vorfahren aus der Sklaverei in Ägypten geführt und ihnen die Tora geschenkt hatte. Es war jedes Mal eine festliche Atmosphäre. Viele Verwandte und Nachbarn waren mit ihnen gezogen und feierten in Jerusalem den Seder, an dem sie das Lamm schlachteten und die ungesäuerten Brote aßen. Sie brachten den Priestern Schafe und Ziegen als Opfer. Nur dort, so hatte er gelernt, durfte man Opfer bringen. Die beiden Wegelagerer hatten sich glücklicherweise davongemacht. Menachem grüßte den Priester des Mithras zur Verabschiedung mit Respekt und überquerte den Trümmerberg des Tempels. Die armselige Hütte des Baumeisters fand er schließlich inmitten mehrerer Haufen aus Marmorsteinen. Als er sich ihr vorsichtig näherte, trat der Gesuchte heraus und wunderte sich über den Besuch. Auch er war bereits ein alter Mann, nach römischer Sitte gekleidet mit einer Toga, die ihn als Angehörigen des Ritterstandes auswies.

     

    Salve! Was führt dich her zu mir? Hier findest du nur noch Trümmer."

     

    Grüße richte ich Euch aus von Alexander, dem Sohn des Parmenides, der ein Opfer des Erdbebens geworden ist. Er hat mir erzählt, dass Ihr Helfer sucht für den Wiederaufbau der Stadt."

     

    Du gehst an Krücken! Was kannst du? Hast du die großen Baumeister studiert?" Menachem erzählte Porphyrios von seinen Erfahrungen beim Bau von Wänden und Dächern im jüdischen Viertel, was dieser interessiert zur Kenntnis nahm.

     

    Und woraus waren deine Wände gemacht? Was ist übrig geblieben von deinen Wänden und Dächern? Stehen sie noch nach der Katastrophe?"

     

    Sie waren aus Lehmziegeln, mit Lehm bestrichen. Nichts davon hat das Beben übrig gelassen."

     

    Siehst du, das überrascht mich wenig. Genau das müssen wir ändern. Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen." Er führte ihn zu einem Wohnhaus, von deren Art Menachem auf seinem Fußmarsch durch den römischen Bezirk viele gesehen hatte. Wie die dortigen Häuser war auch dieses stark zerstört, aber seine Grundmauern standen noch. Der Baumeister kratzte mit einem Stein an der Mauer.

     

    Hast du schon mal so eine Mauer gesehen? Weißt du, was das ist?" Der Junge schwieg. Er wusste nicht zu antworten, aber er war sichtlich beeindruckt. Keine Kerbe, nur ein oberflächlicher Kratzer war sichtbar.

     

     

    Das ist römischer Beton. Die Mauern, die wir bauen, müssen aus diesem Material sein. Damit werden wir die Stadt wieder aufbauen, dem Erdbeben und dem Feuer trotzen."

     

     

    Menachem war beeindruckt vom starken Willen des Alten. Er fragte ihn: „Wie wollt Ihr wohl ein solches Vorhaben in die Tat umsetzen? Porphyrios antwortete voller Überzeugung, als würde es bald schon so weit sein: „Zuerst einmal müssen wir riesige Berge von Trümmern beseitigen. Wir brauchen Elefanten, Ochsen und große Transportkarren. Vor allem aber brauchen wir Menschenkraft – ein ganzes Heer von Sklaven wird nötig sein, um Platz zu schaffen.

     

    Und woher soll das alles kommen?" fragte Menachem, dem der Onkel einmal erzählt hatte, dass beim Bau des Tempels in Jerusalem mehr als tausend Sklaven eingesetzt worden waren, von denen mindestens die Hälfte ihr Leben gelassen hat.

     

    Wir werden zehn- oder zwanzigtausend Sklaven brauchen, Hunderte von Elefanten und Ochsen und unzählige Transportkarren, um die Stadt wieder aufzubauen," fuhr der Alte unbeeindruckt fort. Es war für den Jungen unvorstellbar, woher der Baumeister das alles nehmen wollte. Außerdem würde man riesige Mengen Zement aus Vulkanerde benötigen, denn er wollte mit römischem Beton bauen. Woher sollte die kommen? Ganz abgesehen davon, dass alles viel, viel Geld kosten würde.

     

     

    Trotz seiner Zweifel an der schnellen Umsetzbarkeit der Visionen des Baumeisters imponierte dieser dem Jungen durch seine Überzeugungskraft sehr. Sie trafen sich von da an jeden Tag. Der Baumeister schätzte den Eifer des Jungen. Es gefiel ihm, dass er kluge Fragen stellte. So verschaffte er ihm und den Seinen ein Quartier neben dem ebenfalls zerstörten Palast des Präfekten auf der Orontes-Insel. Hier hatten sich viele Veteranen des römischen Heeres niedergelassen, darunter auch Gallier und Thraker. Die meisten von ihnen hatten nach ihrer Entlassung aus dem Heeresdienst das römische Bürgerrecht und einen namhaften Betrag aus der Militärkasse erhalten, mit dem sie sich Land gekauft hatten. Viele hatten von ihrem Recht zum Connubium Gebrauch gemacht und eine nicht-römische – meistens syrische – Frau geheiratet. Diese Leute waren jetzt, soweit sie das Erdbeben überlebt hatten, Nachbarn von Menachem, seiner Mutter und seinen Geschwistern. Ihre neue Wohnung bestand aus zwei kleinen Räumen, von denen der eine offenbar als Werkstatt eines Schuhmachers gedient hatte. Von ihrem Haus war das Erdgeschoss erhalten geblieben. Nebenan wohnte eine siebenköpfige Familie aus der Cyrenaika. Ihr Hausvater Herophilos war Arzt und verstand sich auf das Heilen von Knochenbrüchen. Viele Verletzte suchten ihn deshalb Tag für Tag auf, um bei ihm Hilfe zu finden. Die meisten mussten von Angehörigen zu ihm getragen werden, nur manche schafften es auf selbst gebastelten Krücken oder wunderlichen Karren hierher. Jeden Tag bildete sich eine lange Schlange bemitleidenswerter Gestalten vor dem Haus. Die Menschen litten nicht allein an den schrecklichen äußerlichen Verletzungen. Die meisten von ihnen waren schwermütig geworden, konnten oder wollten nicht mehr sprechen. Andere wiederum zitterten am ganzen Leib oder schrien, wenn Fremde ihnen zu nahe kamen.

     

     

    Menachem und seine Familie lebten zu dieser Zeit von dem, was er gespart hatte. Das würde sie wenigstens über den Winter bringen. Jedoch war es nicht einfach, überhaupt das Nötigste aufzutreiben. Gerstenmehl und Gemüse kaufte er von einem einheimischen Bauern, der jenseits des Orontes sein Land bestellte. Der Einkauf kostete ihn jedes Mal einen ganzen Tag und war außerdem gefährlich, weil er den Fluss auf den Steinen der zerstörten Brücke überqueren musste. Trotz dieser widrigen Umstände beschäftigte ihn aber vor allem seine Arbeit mit dem Baumeister, die durch ihre Regelmäßigkeit etwas Normalität suggerieren konnte, wenn auch nur zeitweise. Schon am frühen Morgen studierten sie die Pläne, die Porphyrios aus den Trümmern des Präfekten-Palastes geborgen hatte. Stadtpläne, für jeden Bezirk! Menachem hatte so etwas noch nie gesehen: Pläne für die öffentlichen Bauten, Hippodrom, Theater, Bibliothek, Tempel. Und die Zeichnungen der Stadtmauer mit dem Eisernen Tor und dem Stauwehr, das die Schmelz- und Regenwasser des Parmenios auffangen sollte. Der Alte erfreute sich an Interesse und Sachverstand des Jungen, der ihn nach Beschaffenheit und Stärke von Mauern und Säulen fragte. „Siehst du, was das Erdbeben zerstört hat? Eine große Stadt, die ihresgleichen nicht hat im römischen Reich. Sie ist nach dem großen Erdbeben vor fünfzehn Jahren wieder erstanden, schöner und größer als zuvor. Und sie wird auch jetzt wieder aufgebaut werden. Warum? Ich will es dir sagen:

     

     

    Der Kaiser braucht diese Stadt.

     

     

    Er braucht sie, um die Grenzen seines Reiches zu sichern. Und die Händler brauchen diese Stadt genauso. Von Ost nach West, von Süd nach Nord führen ihre Wege hierher. Sie sind die Adern, die die Schätze Arabiens und Ägyptens, Papyrus, Elfenbein und Weihrauch aus dem fernen Indien, Gewürze und Schmuck, kostbare Seidenstoffe aus China seit jeher in das Herz der Stadt transportieren. Jetzt weißt du, warum ich glaube, dass die Stadt Antiochia wieder erstehen wird. Und du, du wirst dabei sein. Du wirst bald an meine Stelle treten. Ich bin zu alt, um ihren Wiederaufbau zu betreiben. Du wirst die griechischen und römischen Baumeister studieren, und das am besten in Rom und Alexandria, wo die besten Schulen für Architektur des römischen Reiches zu finden sind. Der Junge hatte große Mühe, seine Freude zu verbergen. Er wusste nicht, wie er dem Alten danken sollte. Aber wie sollte seine Familie ohne ihn auskommen? Porphyrios schien seine Gedanken zu erraten: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen um deine Mutter und deine Geschwister. Sie werden ihr Auskommen haben. Der Baumeister hatte zuvor schon im kaiserlichen Palast vorgesprochen und den Legaten auf die Begabung Menachems aufmerksam gemacht. Der versprach seine Unterstützung bei der Förderung des Jungen, denn Porphyrios genoss ein hohes Ansehen bei den Autoritäten der Stadt, und das Interesse des Imperiums am Wiederaufbau der Stadt war groß.

    III

    Am dritten Tag der Woche vor dem Geburtstag des Mithras bekam Menachem Besuch. Alexander erkundigte sich, ob seine Empfehlung an den Baumeister erfolgreich war. Als Menachem ihm erzählte, was inzwischen geschehen war, gratulierte er ihm und lud ihn ein, die Synagoge der Christianer demnächst zu besuchen:

     

    Am besten, du kommst zur nächsten Versammlung. Bring´deine Familie mit. Wir haben unseren Gästen nicht viel anzubieten. Aber das wenige, was wir haben, teilen wir gerne mit euch. Berenike wird auch dabei sein." Als Menachem seiner Mutter von der Einladung erzählte, war sie sehr erfreut über die Gelegenheit, ihre Retter wiederzusehen, um ihnen noch einmal danken zu können. Von dem Gespräch mit dem Baumeister hatte er ihr noch gar nichts erzählt, denn sie würde wohl erst einmal nicht schlafen vor Aufregung und sich große Sorgen um ihren Sohn machen. Aber er hatte nun die Stelle des Vaters eingenommen und trug große Verantwortung für sie und die anderen Kinder. Aus diesen Gründen würde er zuerst mit dem Onkel darüber sprechen und ihn fragen, ob er sich für die Zeit seiner Abwesenheit um die Familie kümmern würde.

     

     

    Am Abend nach dem Sabbat brachen sie frühzeitig auf, denn sie hatten einen beschwerlichen und gefährlichen Weg ins jüdische Viertel vor sich. Es war fast schon dunkel, und so hatte sich Menachem eine Fackel besorgt, die ihnen Licht spendete. Bei Dunkelheit trauten sich nicht viele Menschen auf die Straße, aus Angst vor Dieben und Räubern. Die Kinder fanden das alles jedoch ziemlich spannend, da es für sie der erste Ausflug nach langer Zeit gewesen war. Viele Monate lang waren sie mehr oder weniger eingesperrt in der kleinen Wohnung, so dass ihnen diese Abwechslung sichtlich gefiel. Die Mutter trug ihren Jüngsten, der ebenfalls neugierig auf die vielen neuen Bilder in der zerstörten Stadt reagierte. Solange es noch ein wenig hell war, konnten sie gut sehen, dass die Überlebenden sich eingerichtet hatten, so gut es ging. Wo auch nur kleine Mauerreste stehen und Dächer heil geblieben waren, hausten die Menschen in Räumen, die oft nur noch Löcher waren. An vielen Stellen hatten sie begonnen, den Schutt wegzuräumen, um Platz zu schaffen für ihr Tagewerk: das Flicken von Kleidern, die Reparatur von Schuhen, ein wenig Handel mit Gemüse und die Zubereitung von Essen. Überall waren jetzt in der Dunkelheit Feuerstellen zu sehen. Dasselbe Bild bot sich ihnen im jüdischen Viertel. Hier war der Platz vor der großen Synagoge, die auch eine Mikwe hatte, geräumt worden. Jetzt traf man sich bei Sabbatanfang wegen der starken Schäden am Dach der Synagoge unter freiem Himmel zum Gebet. Als sie die Synagoge der Christianer  erreichten, drängte sich eine kleine, bunte Menge in das Haus, in dem Menachem und die Seinen nach ihrer Bergung versorgt und gepflegt worden waren. Männer und Frauen jeden Alters, Familien mit Kindern, Sklaven und Freie, Handwerker und Vornehme, Judäer, Griechen und Syrer, alle waren sie hier vertreten. Menachem erkannte sogar einen römischen Veteranen mit seiner Ehefrau aus seiner Nachbarschaft. Als das Gebet für den ersten Tag der Woche begann, hatten alle einen Platz gefunden: „Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott und Gott unserer Väter, Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs." Judäer und Fremde beteten hier gemeinsam mit Worten, die ihm wohl vertraut waren.

     

    Du bist groß und mächtig. Dir gebührt unsere Ehrfurcht. Du bist über alles erhaben. Du vollbringst Wohltaten. Alles hältst du in deiner Hand." Menachem erinnerte sich, auch früher schon in der Synagoge Menschen gesehen zu haben, die keine Judäer waren. Man nannte sie „Gottesfürchtige", die an den Gottesdiensten teilnahmen und den Sabbat feierten. Sie waren in der Synagoge gern gesehene Gäste, trugen sie doch zum Unterhalt der Gemeinde bei. Der Vorbeter fuhr fort: „Du erinnerst dich an die Frömmigkeit unserer Vorfahren und bringst deshalb liebevoll ihren Enkeln Erlösung um deines Namens willen." Das hier waren allerdings ungewöhnlich viele „Gottesfürchtige". Menachem schätzte, dass mindestens die Hälfte der Anwesenden Fremde waren. Die Synagoge schien also aus irgendeinem Grund viele Menschen anzuziehen. Was war ihr Geheimnis?

     

     

    Das Gebet ging zu Ende: „Du regierst und hilfst, du bist Rettung und Schutzschild. Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott, Schutzschild Abrahams." Nach dem Gebet wurde der Segen über Wein und Brot gesprochen und alle bekamen davon ab. Und wieder fielen die Worte, die er schon einmal gehört hatte:

     

    Verkündigt den Tod des Herrn, bis dass er kommt." Dann bat ein Judäer, den Menachem als den wiedererkannte, der seinen schwer verletzten Vater geborgen hatte, alle Besucher, sich zu setzen oder zu legen, wie es gerade möglich war. Einige Helfer brachten daraufhin zu essen und zu trinken und alle nahmen von dem, was man ihnen anbot, Brot, Früchte und Wasser. Menachem glaubte vor Verwunderung zu träumen. Hier aßen und tranken Männer und Frauen, Sklaven und Freie, Judäer, Griechen und Syrer gemeinsam in einer Synagoge. Galten hier nicht die jüdischen Speisegebote? Wie konnte das sein, dass ein Helfer, der ein Freigelassener war, einen Sklaven bediente? Und als wäre das alles noch nicht genug an Ungewöhnlichem, nahm ein Judäer die Tora-Rolle und las aus den Psalmen Davids in griechischer Sprache: „Du wirst mich nicht dem Tode lassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger verwese." Dann ergriff die Syrerin das Wort und legte die Schrift aus:

     

    Sie haben Jesus von Nazareth, der durch Gottes Ratschluss dahin gegeben war, durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Diesen Jesus hat Gott auferweckt. Wir sind seine Zeugen. Das hat David vorausgesagt: Er ist nicht dem Tod überlassen. Sein Leib hat die Verwesung nicht gesehen. Ganz Israel soll wissen, dass Gott diesen Jesus, den sie gekreuzigt haben, zum

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