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Der Ruf aus Kanada
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eBook515 Seiten6 Stunden

Der Ruf aus Kanada

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Über dieses E-Book

Einwanderungsprobleme sind gegenwärtig oft Thema von Streitgesprächen, die besonders durch Unverständnis auf der einen Seite und fehlende Anpassung auf der anderen Seite hervorgerufen werden. Der Autor und seine kanadischen Freunde beweisen ein anderes Verhalten, das beiden Seiten nutzt und zu einer erfolgreichen Eingliederung führt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Sept. 2012
ISBN9783847620402
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    Buchvorschau

    Der Ruf aus Kanada - Rudolf Obrea

    Kapitel 1 Übergangszeit

    1.1

    Sven Fahrenholz, ein schlanker, hochgewachsener nicht mehr ganz so junger Mann mit schwarzen nach hinten gekämmtem, vollem Haar, einem schmalen, länglichen Gesicht, dem die großen dunkelbraunen, fast runden Augen einen markanten Ausdruck gaben, kam an einem Nachmittag im Spätherbst von einem längeren Aufenthalt in Frankreich zurück nach Hamburg. Er arbeitete für eine Exportfirma und hatte in ihrem Auftrag die Inbetriebnahme einer neuen Werkzeugmaschine in Correze in der Auvergne beaufsichtigt. Sein Vater, der als kaufmännischer Angestellter seit vielen Jahren in derselben Firma beschäftigt war, fuhr direkt vom Büro in der Innenstadt zum Flughafen nach Fuhlsbüttel und wartete in der Abkunftshalle zwischen zahlreichen anderen Abholern auf die Ankunft seines Sohnes. Dieser blieb zunächst am Ausgang der Gepäckabfertigung stehen, bis er die hagere, untersetzte Gestalt seines Vaters im mausgrauen Geschäftsanzug mit der dazu passenden hellblauen Krawatte in der Menge erkannte und zielstrebig auf ihn zuging.

    Der angestrengte Blick des älteren Herren mit den graublauen, oval runden Augen, eingerahmt von einem blassen, hageren Gesicht, verwandelte sich bei der Begrüßung in eine Mischung aus Stolz und prüfender Erwartung. „Hallo, mein Junge! Willkommen zu Hause! „Hallo Vater! Prima, dass du mich abholst. Die Fahrt von Correze nach Lyon über Clermont Férraud durch die Berge des Massif Central dauerte ziemlich lange. Zusätzlich musste ich in Paris den Flughafen und die Fluglinie wechseln, um endlich im Flieger nach Hamburg zu sitzen. Um so angenehmer empfinde ich, dass wir von hier direkt mit dem Auto zu uns nach Bergedorf fahren können. Die etwas bedrückende Antwort des Vaters lautete: „Machen wir! Im Büro läuft momentan sowieso alles mit langweiliger Routine und ich freue mich deshalb besonders auf das, was du mir auf dem Heimweg von dem hoffentlich erfolgreichen Resultat deiner Arbeit erzählst. Noch voll von den Eindrücken seiner Begegnungen und dem Umgang mit seinen französischen Kollegen und Helfern, folgte Sven gerne der Aufforderung des Vaters und verkürzte auf diese Weise die Zeit ihrer Fahrt. Er berichtete nicht nur von den Aktivitäten auf der Baustelle, sondern auch von den regelmäßigen Treffen danach, beim Pastis im Bistro, oft gefolgt von einem ausgezeichneten Abendessen in ausgesuchten Restaurants der Umgebung. Der Vater ließ sich von der Begeisterung seines Sohnes anstecken, vergaß dabei seine Sorgen und beide überraschten mit ihren unternehmungslustig wirkenden, geröteten Gesichtern die Mutter, die zu Hause bereits aufgeregt auf sie wartete.

    Ihre Altbauwohnung im ersten Stock eines im klassizistischen Gründerstil gebauten, dreistöckigen Hauses kannte Sven bereits seit seiner Kindheit. Zielstrebig ging er deshalb den langgestreckten Flur entlang, öffnete seine Zimmertür, stellte dort zunächst sein Gepäck ab und zog bequeme Hauskleidung an. Seine Eltern erwarteten ihn auf ihren gewohnten Stammplätzen in den Sesseln des Wohnzimmers, eingerichtet mit dunklen Eichenmöbeln, die während des Tages von dem Licht des großen, hohen Fensters erhellt wurden, jetzt am Abend jedoch mit dem Leuchter in der Mitte des Raumes als dunkle, amorphe, geisterhafte Ausstattung wirkten, an die sich Sven erst wieder gewöhnen musste. Die neugierigen, auf ihn gerichteten Blicke seiner Eltern kompensierten momentan um so wirkungsvoller die Umgebung und verleiteten den Heimkehrer , sich erneut in die gerade erlebte, aufregende, andersartige Welt zurück zu versetzen. und darüber seinen Eltern voller Begeisterung zu berichten.

    Dieselbe Szene wiederholte sich nach jeder Rückkehr von seinen häufigen Reisen als Außendienstmitarbeiter, blieb aber immer weniger wirksam, weil Sven seine Neuigkeiten zwar packend zu schildern wusste, beim anschließenden Nachdenken jedoch das wiederkehrende Althergebrachte nicht mehr mit der schillernden Vielfalt seiner neuen Erlebnisse in Einklang bringen konnte. Der regelmäßig aufkommende Zwiespalt seiner Empfindungen beschäftigte ihn seit Beginn seiner beruflichen Laufbahn und verursachte ihm eine innere Unruhe, die sich in zunehmender Unsicherheit, gepaart mit aggressiver Verständnislosigkeit ausdrückte.

    Svens Freundin, Monika Behnke, die er seit seiner Schulzeit kannte und die inzwischen als Lehrerin an einer Grundschule in Barmbek unterrichtete, hatte ihn zunächst mit ihrer natürlichen Fröhlichkeit und jugendlicher Frische an sich gezogen. Sie verlieh ihrer gedrungenen Gestalt mit ihren schnellen, reflexartigen Bewegungen und dem runden, stets freundlich und fröhlich wirkenden Gesicht eine unbekümmerte Lebendigkeit, die sich auf den zwar größeren, schlanken, dafür aber bedächtigeren Freund stimulierend auswirkte. Sie mieteten sich, nicht weit von ihrer Schule entfernt, eine Zweizimmerwohnung in einem der vielen dreistöckigen Backsteinhäuser von Uhlenhorst, die Monika im Laufe der Zeit liebevoll einrichtete. Erfolgreich und gefestigt in ihrer beruflichen Laufbahn sehnte sie sich mehr und mehr nach der Gründung einer Familie, mit der sie im Kreis von Freunden und Verwandten die endgültige Anerkennung zu erzielen hoffte. Jedes Mal, wenn Sven von einer Geschäftsreise zurückkam, hätte sie jedoch bemerken müssen, dass sie ihn mit ihren Wünschen und Absichten gedanklich immer weniger erreichte und er dieses mit übertriebenen Liebesbekundungen zu übertünchen und kompensieren suchte. Selbst als sie sich schließlich über sein Desinteresse beschwerte, wich er, getrieben von seinem inneren Wankelmut aus, kehrte dafür nach der nächsten Reise nicht zu ihr zurück, sondern verkroch sich in das Schneckenhaus bei seinen Eltern.

    Seit einem Jahr lebte er wieder in Bergedorf. Nach Feierabend traf er dort bei Sport und anderen Freizeitaktivitäten erneut seine alten Freunde. Die meisten von ihnen waren allerdings, genau wie sein jüngerer Bruder Paul, inzwischen verheiratet. Sie überschütteten ihn mit ihren Ehen- und Kindergeschichten, vor denen er geflohen war, weil er einem ähnlichen Schicksal mit seinen Geschäftsreisen zu entgehen suchte. Selbst diese Flucht- versuche waren jetzt nach seiner Rückkehr aus Frankreich bedroht. Sein Vater sah ihn bei der Übergabe seines Reiseberichtes gedankenverloren und mit ungewohnt ernster Miene an und sagte: „Die Firma, für die du gerade erfolgreich die Maschine in Frankreich aufgebaut hast, kündigte in der vergangenen Woche die Auslandsvertretung mit uns. Sie folgt damit dem Trend namhafter Produzenten im Inland, die dazu übergehen, ihre Produkte nicht mehr über Hamburger Exportfirmen zu vertreiben, sondern direkt an ihre ausländischen Kunden zu liefern. Für mich bleiben bis zur Rente noch genügend Aufträge im Konsumgüterbereich, während deine Zukunft bei uns nicht dauerhaft gewährleistet ist." Sven schien von dieser Aussage nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Er blickte seinen Vater fast mitleidig an und antwortete ihm entschlossen: „Meine bisherige Tätigkeit zeigte mir bereits neue Wege, auf denen ich, noch frei und ungebunden, in eine bessere Zukunft nach meinem eigenen Vorstellungen gehen kann. Du ermutigst mich lediglich, vielleicht nicht ganz ungewollt und in alter Hamburger Tradition, zum Aufbruch, den ich mit jugendlichem Elan anpacken möchte.

    Ohne lange zu überlegen, so als ob schon länger auf einen äußerlichen Anstoß gewartet hätte. bewarb sich Sven in den folgenden Tagen bei verschiedenen Maschinenherstellern, von denen er wusste, dass sie ihren Verkauf auf das Exportgeschäft ausdehnten. Der Vater half ihm mit seinen alten Kontakten zu entsprechenden Firmen, von denen er wusste, dass sie bei ihren Bemühungen noch geeignete Mitarbeiter mit Sprachkenntnissen und Auslandserfahrung suchten.

    Schon bald ergab sich auf diese Weise eine Verbindung zur schwäbischen Firma Wegener in Esslingen am Neckar, nicht weit von Stuttgart entfernt. Sven wurde zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen und nach eingehender Prüfung durch Herrn Wegener, den Eigentümer der Firma, seinen Verkaufsleiter sowie den zukünftigen Kollegen eingestellt. Während er von seinen bisherigen Aufenthalten im Ausland stets nach Hamburg zurück-gekehrt war, bedeutete sein Umzug nach Esslingen daraufhin den endgültigen Abschied von einer altvertrauten Umgebung und stand somit am Anfang eines neuen Lebensabschnittes.

    Die Einarbeitungszeit in der neuen Firma fiel im nicht sonderlich schwer. Im privaten Umfeld musste sich der Norddeutsche allerdings auf die schwäbischen Besonderheiten, vor Allem die andersartige Mentalität der Leute, verbunden mit ihrem spezifischen Dialekt, gewöhnen, eine Aufgabe, die ihm erst auf lange Sicht, wenn überhaupt, zu gelingen schien. Bereitwillig übernahm er aus diesem Grund den ihm angebotenen Außenposten in Toronto, Kanada, um den dortigen Vertreter zu unterstützen und mit technischer Beratung zu ergänzen. Sven feierte diese Versetzung als weiteren Etappensieg seines lang herbeigesehnten Absprungs.

    1.2

    Der Flug von Frankfurt nach Toronto dauert acht Stunden, führt über den Atlantik, die endlosen, größtenteils spärlich oder unbewohnten Wald- und Seenlandschaften im Nordosten Kanadas und bietet schließlich kurz vor der Landung auf dem Lester B. Pearson International Airport die Aussicht auf das große Häusermeer Torontos und die im Süden vor-gelagerte und dort alles beherrschende Fläche des Ontario Sees.

    Sven kam pünktlich an, wurde aber nach Passieren einiger tunnelartiger Gänge in einer fenster- und schmucklosen, grau gestrichenen Halle durch Menschenschlangen ausgebremst. Sie kamen von verschiedenen Flugzeugen und lösten sich am anderen Ende an den Schaltern der Passkontrolle nur langsam auf. Als er nach einer Stunde Wartezeit dieses Nadelöhr mit der höflichen Beantwortung der meist überflüssigen, bereits schriftlich in der Zollerklärung gestellten Fragen passiert hatte, damit seine Geduld schon ziemlich beansprucht war, steigerte sich seine Anspannung bei der nochmals verzögernden Gepäckausgabe zur Angst, den auf ihn wartenden Abholer nicht mehr zu erwischen.

    Endlich öffnete sich das Tor zur Freiheit, d.h. zur Ankunftshalle. Dort starrte eine Menge erwartungsvoller Gesichter Sven an, ohne dass er zunächst den Vertreter seiner Firma, Herrn Jim Shaw, erkennen konnte. Sie hatten zwar bereits miteinander korrespondiert und sich auch gegenseitig am Telefon mit auffallenden Merkmalen beschrieben; aber trotzdem blieb der als groß und kräftig mit schwarzem Schnurrbart und randloser Brille gekennzeichnete Mann zunächst zwischen den dicht gedrängt stehenden Frauen, Männern und Kindern aller Hautfarben und Rassen verborgen. Endlich zeigte ein Schild mit der Aufschrift „Sven Fahrenholz" den Gesuchten. Um dem Gedränge zu entgehen, hatte er sich etwas abseits gestellt und damit Raum für die erste, noch etwas förmlich ausfallende Begegnung gelassen.

    „Hallo Herr Shaw! Entschuldigen Sie die Verspätung. Die Antwort, begleitet von einem freundlichen Grinsen eines selbst von der Brille nicht zu verdeckenden, dunklen, alles erfassenden Augenpaares, kam prompt. „Prima, dass Sie da sind! Ich bin noch nicht lange hier, da ich die Warterei am Zoll kenne und meine Besucher mit entsprechender Verzögerung erwarte. Kommen Sie mit zum Ausgang. Ich muss Sie leider dort noch einmal um etwas Geduld bitten, um mein Auto vom Parkhaus zu holen. Herr Shaw verschwand wieder und verhalf Sven zu einer kleinen Nachdenkpause.

    Wie sollte er seinen neuen Partner einstufen? Da gab es noch nicht viel, aber vom Aussehen her bereits ein völlig anderes Erscheinungsbild als das eines Geschäftsmannes zu Hause in Deutschland. Jeans und dunkelgraue Jacke, darunter ein hellblaues, offenes Hemd, bedeckten einen vollschlanken, agil sich bewegenden Körper und ließen auf eine unbekümmerte Lässigkeit deuten, obgleich dieses hier nichts Besonderes zu sein schien. Der Gesichts- ausdruck dagegen zeigte Selbstbewusstsein, unterstrichen durch ein rundes Kinn, das durch die darüber hinausragenden, länglich nach unten gezogenen Backen umrahmt war und dadurch die von der Augenpartie ausgehende Autorität abmilderte.

    Als Herr Shaw seinen Gast sicher im Auto verstaut hatte, einigten sich beide nach amerikanischer Gepflogenheit erst einmal auf die Anrede mit ihren Vornamen. Sven, dem eine Ähnlichkeit mit einem irischen Freund auffiel, musste danach gleich fragen: „Darf ich raten? Kommen deine Vorfahren aus Irland?" Jim lachte und antwortete: „Du hast recht. Aber das ist eine längere Geschichte, die ich dir besser beim Bier erzählen werde. Das Hotel Constellation, zu dem ich dich bringe, befindet sich nicht weit von hier an der Dixon Road. Du erfrischt dich in deinem Zimmer und ich warte mit dem Willkommensschluck in der Bar neben dem Eingang.

    Wenn auch etwas müde von der Reise, nahm Sven den Vorschlag gerne an, nicht zuletzt auch deshalb, um seine durch die Warterei am Flughafen strapazierten Nerven wieder zu beruhigen. Am späten Nachmittag (die Flüge aus Europa kamen zwischen drei und vier Uhr an) war die Bar noch weitgehend leer und Jim wartete an einem gemütlichen Tisch in der hinteren Ecke im Anschluss an die Theke. Trotzdem entdeckte ihn Sven dieses Mal sofort. Sie bestellten das angekündigte Bier und hatten mit der Frage nach Jims irischer Herkunft auch gleich einen interessanten, dem langweiligen Geschäftsgerede entgehenden Gesprächsstoff. Jim erklärte dem Neugierigen: „ Mit deinem irischen Freund bin ich bestimmt nicht verwandt. Du musst aber wissen, dass in Nordamerika, d.h. USA und Kanada, mehr Iren leben als in Irland, wir damit zusammen mit den Schotten und den Franzosen in Quebec die eigentlichen Ureinwohner dieses Landes sind. Verglichen mit Torontos Bevölkerungsmehrheit, die hauptsächlich aus Indien, Pakistan und neuerdings auch aus China zu kommen scheint, hast Du deshalb Glück, einem Einheimischen zu begegnen. „Was ist mit den Indianern? wollte Sven wissen. Jim konterte mit der rhetorischen Frage: „Siehst Du hier Indianer? Natürlich nicht! Du findest sie als unbedeutende Minderheit nur noch in den Reservaten im Norden des Landes. Besser ist, du sprichst englisch mit einem irischen oder schottischen, d.h. gälischen Akzent, um als Kanadier anerkannt zu werden." Sven fand diese Erklärung zwar patriotisch übertrieben, war andererseits aber froh, dass er jemand gefunden hatte, mit dem er sicherlich gut auskommen würde.

    Am nächsten Morgen brachte Jim seinen neuen Kollegen zunächst in sein Büro, das sie nach kurzer Fahrt in der Belfield Road erreichten. Das dreistöckige Verwaltungsgebäude besaß kein besonderes Merkmal, sondern stand quasi als Standard vor einer der zahllosen Fabrikations- und Lagerhallen des hier alles beherrschenden Industrieparkes. Sven entdeckte am Eingang das Namensschild seiner Firma zusammen mit einer Reihe von anderen. Jim erklärte ihm diesen Umstand damit, dass er zusammen mit Vertretern anderer Firmen einer Bürogemeinschaft mit gemeinsamer Servicezentrale angehöre. Auch sei die Nähe zum Flughafen für die meisten seiner Besucher günstig, da sie ihn ohne langwierige Fahrt in die Stadt schnell und bequem selbst bei einem Zwischenstop erreichen könnten. Sein eigner Raum war geräumig und besaß einen zweiten Schreibtisch, den Sven erhielt.

    Trotz der eintönigen, etwas bedrückend wirkenden Nüchternheit dieses Umfeldes waren alle Voraussetzungen für eine sachliche, effiziente Tätigkeit vorhanden. Eine praxisbezogene, emotionslose Vorgehensweise kommt hierdurch zum Ausdruck, die von Europäern oft als oberflächlich abgetan wird , aber mit den einfachen, zweckbetonten Vorgaben weniger einengt und einen großen Freiraum für eine individuelle Ausgestaltung und Entwicklung.lässt. Sven besaß die für dieses Neuland notwendige Basisausrüstung samt einem unvorein- genommenen, hilfreichen Berater.

    1.3

    Die Stadt Toronto blieb Sven zunächst völlig verschlossen, da Jim ihn auf dem Weg zur Arbeit morgens im Hotel abholte und abends nach dort zurückbrachte. Tagsüber beschäftigten ihn die verschiedenen Instruktionen, Erklärungen und neuartigen Aufgaben, die er von Jim erhielt, so sehr, dass er am Feierabend mit einem kleinen Abstecher ins benachbarte Restaurant begnügte und sich anschließend auf sein Zimmer zurückzog. Der Schock der ungewohnten amerikanischen Geschäftsgepflogenheiten überraschte ihn erst am Wochenende. In Hamburg hätte er seinen neuen Geschäftspartner stolz zu einer Stadtbesichtigung eingeladen. Hier dagegen verabschiedete sich Jim, wie nicht anders gewohnt, am Freitagabend mit den knappen, aber deutlichen Worten: „Ich hole dich am Montag zur gewohnten Zeit wieder ab."

    Das Industriegebiet von Mississauga, aus dem der Flughafen mit den ihn umgebenden Hotels inselartig herausragte, glich am Samstagsmorgen einer trostlosen, verlassenen Wüste, bestehend aus einer unübersehbaren Anzahl gleichmäßig geformter Fabrik- und Lagerhallen. Selbst das Hotel schien verlassen zu sein, da seine Gäste, hauptsächlich zugereiste Geschäfts- leute, das Wochenende, genau wie Jim, bei ihrer Familie zu Hause verbrachten. Sven blieb keine andere Wahl, als mit dem Hotelbus zum Flughafen zu fahren. Dort kaufte er sich im Bookstore einen Krimi und verkroch sich damit missmutig auf sein Zimmer.

    Am Montagmorgen beschwerte sich Sven schon während ihrer Fahrt zum Büro bei seinem Kollegen im anklagenden Tonfall: „Wenn Toronto außer dem vornehmen Hotelkasten nichts zu bieten hat, verschwinde ich bald wieder. Zum Glück ließ sich Jim nicht provozieren, sondern sah seinen Beifahrer nur mit einem fragenden Blick über die Brille hinweg kurz an,bevor er mit ruhiger Stimme gelassen antwortete: „Toronto ist groß, Kanada noch größer. Um dir darin etwas zu bieten, müssen wir dich auf Räder stellen, ohne die du hier weder aus- noch weiterkommst. Du besorgst bei Wegener das Geld und ich hier einen günstigen Gebrauchtwagen, den ich auf den Namen der Firma zulasse. Sie verwirklichten ihren Plan bereits im Laufe der Woche mit dem Kauf eines der hier üblichen und daher preisgünstigen amerikanischen Straßenkreuzer, dessen lange Motorhaube mit solider Stoßstange und lastwagenähnlichen Rädern diesen Ungetümen eine panzerartige Sicherheit verlieh. Den

    zusätzlichen Aufwand der Firma glichen sie dadurch aus, dass sie Sven mit der Hilfe von Jims Freunden eine günstige Wohnung in Bolton, einem nördlich von Toronto gelegenen Vorort, besorgten.

    Sven kaufte sich einen Lageplan von der nördlichen Umgebung Torontos, packte seine Sachen im Hotel zusammen und fuhr am darauffolgenden Wochenende, jetzt eigenständig, bis zum Ende des Highway 427 und anschließend auf dem Highway 50 North. Hier begleiteten ihn zu beiden Seiten der Straße nur noch gelegentlich einzelne Häuser und Farmen, sodass er mit zunehmender Entfernung langsam unsicher wurde. Er parkte bei einer einsamen, an einer Kreuzung gelegenen Tankstelle und stellte mit Hilfe seines Planes fest, dass er in die gegenüberliegende Abzweigung, der Countryside Drive, zu seiner neuen Wohnungsadresse abbiegen musste. Jim hatte recht. Ohne Auto war Kanada nicht zu erobern.

    Das Haus selbst entdeckte er abseits der Fahrstraße, hinter Büschen und Bäumen versteckt, lediglich am Blechbriefkasten bei der Einfahrt, undeutlich beschriftet mit W.Meissner, dem Namen seines Vermieters. Er fuhr hinein und sah sich mit einem komfortablem Backsteinbungalow konfrontiert, der auf einer kleinen Anhöhe mit vorgelagertem, großzügigen Parkplatz stand. Ein gläserner Vorbau schützte den Eingang. Sven läutete und sah kurze Zeit darauf einen älteren , mittelgroßen Herrn aus der Innentür kommen Bevor er ihm öffnete, erkannte er dessen lässige Kleidung, die im Gegensatz zu dem neugierigen, prüfenden Blick aus den dunklen, durch die buschigen Augenbrauen betonten, dunklen Augen zu stehen schien.

    Da Jim von einem deutschsprechenden Ungarn erzählt hatte, begrüßte Sven ihn mit : „Guten Tag Herr Meissner! Mein Name ist Sven Fahrenholz. Ich bin ihr neuer Mieter. Die Miene des so angeredeten erhellte sich, da er gegenüber Fremden aus Deutschland nicht mit Vorurteilen belastet war. „Guten Tag Herr Fahrenholz! Kommen sie herein. Ich stelle ihnen meine Frau vor, damit sie ihnen die Wohnung zeigt. Er führte ihn in ein, mit zahlreichen Polstermöbeln und klassizistisch verzierten dunklen Wandschränken ausgestattetes Wohnzimmer, bat ihn dort Platz zu nehmen und kam kurze Zeit später mit seiner Frau zurück. „Ich stelle vor: Herr Fahrenholz, meine Frau Theresa Meissner. Klein und zierlich von Gestalt, trat sie vor, lächelte ein wenig mit leicht in den Ecken hoch-gezogenem, spitzen Mund und sagte in einem verbindlich klingendem, geschäftsmäßigen Tonfall: „Guten Tag Herr Fahrenholz! Ich zeige ihnen jetzt die Wohnung. Falls sie ihnen zusagt, besprechen wir anschließend die weiteren Einzelheiten. Sven merkte sofort, dass er sich bei dem Herrn des Hauses wohl besser aufgehoben fühlte, und stand deshalb ohne weiteren Kommentar ruckartig auf. Sie ging voraus und führte ihn in ein Souterrain, unterteilt in Wohn- und Schlafzimmer, mit zur Rückseite hin gelegenen Bad und Küche. Die Möblierung bestand vorwiegend aus abgelegten Gegenständen, die aber noch gebrauchsfähig zu sein schienen. Jim beachtete sie kaum, weil ihn die Größe der Räume und vor Allem die Fensterwand mit Ausgang auf die Terrasse und den davor sich ausdehnenden, weiten Garten beeindruckten. Schon bald darauf einigten sie sich auf ein Ergebnis, das Sven auch später nicht bereute, Er hatte sich ein verlässliches Rückzugsgebiet gesichert , aus dem heraus er wohlüberlegte Vorstöße in seine neue, fremde Umgebung planen und gezielt durchführen konnte.

    Zurück in seinen jetzt eigenen vier Wänden, inspizierte Sven zunächst Küche und Bad, bewaffnete sich mit Block und Bleistift und notierte sich die notwendigsten Gebrauchs-gegenstände, hauptsächlich Handtücher, Badeutensilien, Geschirr und Lebensmittel, die ihm fehlten. Anschließend fuhr er zu dem, ebenfalls von Jim empfohlenen Shopping Mall in Mississauga, dessen ungewohnte Größe ihn zunächst völlig verwirrte. Schon das Meer der Autos, das den Mall von allen Seiten umschloss, beängstigte ihn, da er nicht wusste, wie er seinen Wagen in der Menge jemals wiederfinden sollte und keinerlei Eingänge zu erkennen waren. Auf einem in der Nähe stehenden Mast sah er den Buchstaben G befestigt. Seine Zuversicht stärkte sich. Er parkte in der Nähe des Mastes mit der Gewissheit, später wieder an diesen Ort zurückzufinden. Der Strom der anderen Besucher wies ihm den Weg zu einem der Eingänge und dort ein Handzettel zu den verschiedensten, straßenartigen, überdachten Fluchten von Läden und Kaufhäusern aller Art. Bepackt mit zahlreichen Plastiktüten musste er mehrmals zum Auto zurücklaufen, verlor dadurch viel Zeit, kannte sich aber schließlich gut aus und hatte am Abend alles sicher in seinem geräumigen Ungetüm verstaut. Selbst Meissners staunten, während sie ihn beim Ausladen seiner Sachen beobachteten und liehen ihm bereitwillig Bettwäsche und Decken, die er im Schlafzimmer vergessen hatte. Außerdem spendierte Herr Meissner das jetzt wirklich verdiente Willkommensbier, das Sven bei seinen Einkäufen vergeblich gesucht hatte. Dabei tauschten sie ihre Vornamen aus und Wilhelm, jetzt Bill genannt, erklärte seinem Sven, dass er Bier nur im Brewers Retail Store bzw. im Liquor Store kaufen könne. Diese Neuigkeit füllte endgültig die momentane Verarbeitungs-kapazität des Neulings. Erschöpft ging er zurück in seine Wohnung, legte sich ins Bett und schlief sofort ein.

    Am anderen Morgen verordnete sich Sven einen Ruhetag und begann ihn nach dem ausgiebigen Frühstück mit dem Auspacken und Einräumen der gekauften Sachen. Danach lockte ihn die Sonne, die um diese Jahreszeit, Anfang Juni, bereits sehr warme Tage bescherte, auf die Terrasse, wo ihn bequeme Gartenmöbel zum Sitzen einluden. Nachdenklich betrachtete er die sich vor ihm ausbreitentende, flache Landschaft mit großflächigen Äckern und Wiesen. die, wie er später erfuhr, zusammen mit den endlosen Wäldern des Nordens den Großteil Kanadas ausmachte. Lediglich am Horizont zeigte sich die von der Morgensonne beleuchtete Skyline von Torontos Bank- und Bürohochhäusern mit der alles überragenden Spitze des CN- Towers.

    Unwillkürlich erinnerte ihn die nähere Umgebung noch an den Blick von den Elbdeichen auf die verstreuten Bauernhöfe der Marsch Schleswig Holsteins im Norden Hamburgs, die er von Ausflügen in seiner Kindheit her kannte. In Hamburg, seiner Heimatstadt, deuteten allerdings keine Bürotürme auf das Zentrum der Stadt. Der Fernsehturm ragte auch nicht mit einer Höhe von über 500 m aus dem Häusermeer und die Vororte waren dort mit vielen Baumbeständen durchsetzt und hatten erkennbar eigene Zentren, die einen stufenweisen Übergang zum Inneren der Großstadt darstellten. Alles verströmte eine althergebrachte Beständigkeit, die selbst die weltweit anerkannte, hauptsächlich mit dem Hafen verknüpfte Geschäftigkeit in alter Tradition verband.

    Toronto dagegen präsentierte sich ganz im Zeichen des Aufbruchs in eine neue, andersgeartete Welt. Sven sah nicht nur die in der Ferne alles überragende Skyline der Stadt, sondern auch große, vorgelagerte Brachflächen, die sich das Grün der Landschaft als braune, eintönige Gebilde wie eine alles vernichtende Überschwemmung eroberten. Sie gehörten Entwicklungsgesellschaften, (Developers mit Fantasienamen), die auf möglichst engem Raum ein Maximum an Einfamilienhäusern in billiger Standardbauweise als endlose Linien aneinander reihten, um sie gewinnbringend, hauptsächlich an junge Familien und Einwanderer, zu verkaufen. Selbst die in der Nachbarschaft gelegenen Bauernhöfe wurden nur noch teilweise bewirtschaftet, sodass die Felder sich in eine Steppe verwandelten, die oft bereits verkauft und als zukünftiges Bauland ausgewiesen waren. Einem Raubtier gleich fraß sich der scheinbar unersättliche Moloch der Großstadt in das Land hinein, zerstörte jegliche Natur und ersetzte sie durch riesige Ansammlungen von einförmigen Häuserwürfeln, die über meist sechsspurige Highways untereinander und mit der Innenstadt verbunden waren.

    Die Zahl der Einwohner hatte sich auf diese Weise in den letzten zwanzig Jahren von 800 000 auf zweieinhalb Millionen verdreifacht und dabei alle anderen Großstädte Kanadas einschließlich Montreal weit hinter sich gelassen. Toronto verkörperte jetzt, trotz oder wegen der einem riesigen Ameisenhaufen gleichenden Menschenansammlung, die Finanz- und Wirtschaftsmetropole des Landes. Obwohl man sich offiziell, bis auf die Provinz Quebec im Nordosten, auf Englisch verständigte, kannten die in der Nachbarschaft von Sven verstreut wohnenden italienischen Land- und Bauarbeiter zusammen mit ihren Familien nur ihre Muttersprache. Alle allgemein gültigen, zwischenmenschlichen Beziehungen schienen in diesem ständig in Aufruhr befindlichen Ameisenhaufen nur auf einen gemeinsamen Nenner ausgerichtet zu sein, nämlich den maximal möglichen Gelderwerb, um so dem alles erfassenden Wunsch der weltweit herbeiströmenden Menge der Emporkömmlinge gerecht zu werden. Ein Schmelztiegel der besonderen Art, der von den Gesetzen und Richtlinien der verantwortlichen Provinz- und Zentralregierung nach Außen zwar eingefasst ist, im riesigen Innenraum aber durch das ständige Brodeln und Hinzufügen neuer Ingredienzen unberechenbare Energien von teilweise bedrohlichen Ausmaßen freisetzen kann.

    Noch gehörte Sven nicht zu diesem neuen Umfeld. Es war aber nicht nur der Platz auf der Terrasse seiner neuen Wohnung, der ihm noch etwas Zeit und Muße für sein Überlegungen gewährte, sondern bald auch seine neue Tätigkeit als Baustellenleiter für seinen deutschen Arbeitgeber, die Firma Konrad Wegener, die ihm die ihm die notwendige Zuversicht verlieh.

    1.4

    Jim, Svens neuer Kollege, stammte als der selbsternannte Ureinwohner aus Hamilton, einer Industriestadt südwestlich von Toronto am Ontariosee gelegen. Seine Großeltern waren aus Belfast eingewandert, weil die damals junge Stahlindustrie im Gebiet von Burlington-Hamilton den Großvater als Facharbeiter benötigte und seine Überfahrt sowie Unterbringung samt Familie finanzierte. Erst dem Enkel war es gelungen, sich der Tradition als Stahlarbeiter zu entziehen und bei einer der zahlreichen Importfirmen für Industrieprodukte in Mississauga, dem modernen, alles überwuchernden Stadtteil Torontos Ausbildung und Anstellung zu finden. Das durch die Vorfahren überlieferte technische Verständnis, die ebenfalls vererbte mit Witz gepaarte Schlagfertigkeit und die offene vertrauenserweckende Art im Umgang mit den Kunden machten ihn zu einem allseits beliebten und in der Branche bekannten Verkäufer. Die Firma Wegener übergab ihm daraufhin schließlich die Werksvertretung für Nordamerika, eine Tätigkeit, die ihm zu einem stetig wachsenden Erfolg verhalf.

    Hatte Sven am Anfang noch gedacht, dass er der aus Europa kommende unstete Wanderer sei, so musste er bald erkennen, dass Jim als Einheimischer mit den hier erforderlichen häufigen Kundenbesuchen derjenige war, den er wegen der ständigen Geschäftsreisen nur selten im Büro antraf. Sven dagegen stand eine andere Aufgabe bevor, nämlich der Aufbau einer Fabrik in Bancroft, einem kleinen Provinzstädtchen, südöstlich vom Algonquin Provincial Park, und somit in der Abgeschiedenheit der kanadischen Weite gelegen. Hier galt es nicht, Jims geschäftlichen Erfolge bei international anerkannten amerikanischen Großkonzernen nachzueifern, sondern er musste dessen kanadische Verhaltensweisen erforschen, um sich damit auf die Zusammenarbeit mit den als besonders eigensinnig geltenden Bewohnern des Nordens vorzubereiten. Zwar blickte Sven von der Terrasse seiner Wohnung auf eine ihm vertraute Ebene. Bei näherer Betrachtung stellte sie sich jedoch irgendwie fremd und andersartig dar. Die ihm zugewiesene Aufgabe verlangte, diese Eigendynamik der neuen Umgebung zu erkennen, um sie danach mit den europäischen Gewohnheiten von sich und seinen deutschen Monteuren so abzugleichen, dass sich beide Seiten in einem unvoreingenommenen Freiraum treffen konnten und dadurch ihre jeweiligen, aufeinander abgestimmten Vorteile voll zur Geltung kamen.

    Auf die Landschaft schienen die Menschen hier wenig Rücksicht zu nehmen, weil ein Groß-teil sich aus Einwanderern oder deren Kinder zusammensetzte, die im gegenseitigen Konkurrenzkampf nur ihre ökonomischen Erfolge zur Geltung bringen wollten. Im Gegensatz zu einer alteingesessenen Bevölkerung mit einem umfassenden Verantwortungsbewusstsein zur Bewahrung ihres Lebensraumes, und dem damit verbundenen traditionellen Verhalten, wie in Deutschland, fehlte hier diese Sichtweise. Gleichzeitig ermöglichte diese Tatsache Sven als Neuankömmling einen zunächst einfacheren Einstieg im Umgang mit seinen Mitmenschen, bei dem er sich erst einmal mit den allgemeinen, auch bei ihm zu Hause gültigen und deshalb leicht erlernbaren Äußerlichkeiten anglich und einlebte. Jim erwies sich bei dieser Aufgabe, trotz seiner andersartigen beruflichen Ausrichtung, als guter Lehrer und Freund. Er glich seine häufige Abwesenheit im Büro dadurch aus, indem er Sven zu Besuchen bei seinen Freunden mitnahm und ihn an seinen Freizeitaktivitäten beteiligte.

    Das besondere Klima Torontos beschert nur einen kurzen Frühling, dem bald darauf Anfang Juni ein heißer Sommer folgt. Da Sven gerade zu dieser Zeit angekommen war, begeisterte ihn Jim mit einem überraschenden Vorschlag.. Etwas unscheinbar fragte er: „Du bist doch aus Hamburg; kannst du dann auch segeln? Vorsichtig antwortete Jim: „Das kommt darauf an, was du damit meinst. Zusammen mit meinen Arbeitskollegen habe ich bei einer Segelschule einen Grundkurs gemacht, damit wir uns mit gemieteten Segeljollen auf der Alster, einem kleinen Binnensee in der Stadtmitte von Hamburg nach Feierabend einen sportlichen Ausgleich schafften. „Das sollte erst einmal reichen! Hast du Lust am kommenden Samstag mit mir auf mein Boot zu kommen? Sven strahlte: „Natürlich bin ich dabei. Sag mir nur wo und wann.„Wie du weißt, wohne ich in Brampton. Auf der Fahrt zur Innenstadt komme ich um neun Uhr bei dir vorbei und nehme dich mit. Das Boot liegt auf den Toronto Islands und so können wir bei unserem Ausflug Toronto vom Wasser aus besichtigen."

    Bei seinem ersten Besuch der Innenstadt war Sven der Yonge Street nach Süden folgend bereits einmal so neugierig gewesen, dass er sich durch den Tunnel unter den Gleisen beim Hauptbahnhof „Union Station hindurch gewagt hatte, um anschließend zwischen den Hochhäusern von Harbour Front bei den Island Ferry Docks einen wenig spektakulären Blick auf das Wasser und die dort vorgelagerten Toronto Islands zu erhaschen. Dieses Mal fuhr Jim mit ihm, nicht wie er erwartet hatte, zu den Fähren, die das allgemeine Publikum von den Island Ferry Docks zu den Parkanlagen der Inseln brachten, sondern zu einer kleinen Bucht am östlichen Ende des Queens Quay. Hier lag lediglich ein älteres, unscheinbares, kleines Barkassenboot, in das die beiden nach freundlicher Begrüßung des Bootsführers einstiegen. Sven sah Jim etwas erstaunt an und erhielt folgende Erklärung: „Dies ist eine spezielle Fähre des Royal Canadian Yacht Clubs, bekannt als RCYC. Sie bringt uns zum Clubhaus auf eine dem South Island vorgelagerte Privatinsel.

    Während der Überfahrt fügte er hinzu: „Ich bin lediglich ein Stammgast dieses traditions-reichen, exklusiven und wohl bekanntesten Segelclubs von Toronto. Mein früherer Chef ist Mitglied und der Eigentümer des Bootes. Wir segelten oft gemeinsam. Aus Alters- und Zeitgründen erscheint er aber nur noch bei gesellschaftlichen Anlässen im Clubhaus und überlässt mir das Segeln und die Wartung des Bootes. Ein schalkhaftes Grinsen begleitete den Zusatz. „Nicht das Eigentum ist wichtig, sondern die kostenlose Benutzung. Als sie beim Boot, einem schnittigen Kabinenkreuzer, ankamen, musste Sven seinem Freund neidisch recht geben.

    Mit den verschiedenen Winschen ausgerüstet, verlief das Auftakeln sogar einfacher und leichter als bei den Jollen auf der Alster und bald kreuzten sie bei mäßigem Westwind auf dem Inner Harbour zwischen den Inseln und dem Innenstadtufer. Die Skyline mit dem Skydome, dem neuen Stadium, dem Fernsehturm und dem sich nach Osten anschließenden Hochhäusern des Bankenviertels sowie der davor nur noch klein wirkenden, aber immer noch imposanten Fassade des Royal York Hotels, dem ehemaligen höchsten Gebäude der Innenstadt, präsentierte sich in ganzer Größe.Voller Stolz rief Jim am Steuerrad: „Dies ist meine Art der Stadtrundfahrt, die wir gleich beenden, wenn wir mit halbem Wind durch den Eastern Channel auf den offenen See hinausfahren." Dort angekommen, durfte Sven bei den dort vorhandenen unbegrenzten Platzverhältnissen das Ruder übernehmen und zeigen, dass seine Kenntnisse ausreichten, um ein Boot dieser Größe mit voller Besegelung sicher zu manövrieren . Der Ausflug entwickelte sich so zu einem Erlebnis, bei dem sich beide Teilnehmer während ihrer gemeinsamen, vergnüglichen Beschäftigung näher kennen lernten und dieses, von einer besonderen Umgebung umrahmt, als prägender Eindruck dauerhaft in ihrer Erinnerung verankert blieb.

    Nachdem Sven und Jim das Boot am Nachmittag sicher an seinen Liegeplatz zurückgebracht und abgetakelt hatten, lud Jim zu einem Drink an der Bar des Clubhauses ein. Der ursprüng- lichen, alten englischen Tradition dieses Clubs entsprechend, befand sie sich in einem läng-lichen, mit dunkelbraunem Holz getäfelten Raum ohne Fenster und Tische, dafür aber beherrscht von einer langen Theke und der dahinter befindlichen alles überragenden Flaschenwand. Daraus holten drei Barkeeper ständig die verschiedensten Getränke heraus und servierten diese entweder direkt oder zu Cocktails gemixt den vor ihnen aufgereihten Gästen. Da um diese Zeit viele Boote zurückkamen, herrschte entlang der Theke ein großer Andrang. Eine bunte Schar, hauptsächlich Männer, stand dichtgedrängt in mehreren Reihen hintereinander. Sie berichteten von ihren Ausflügen und versuchten sich dabei lautstark mit ihren Segelkünsten und den dazugehörigen Fachausdrücken gegenseitig zu übertrumpfen.

    Schon bald entdeckte Jim eine Gruppe von Freunden, die ihn mit lautem Hallo begrüßten und die er als Ben, seinen Rechtsverdreher und Anwalt, Arne Erikson, den Inhaber einer Maschinenbaufirma und Max Weber als Kollegen und Vertreter der deutschen Firma Klöckner- Möller vorstellte. Typisch für Jim und wie von den anderen nicht anders erwartet, fügte er hinzu: „Sven hier wurde mir von meiner Firma zugeteilt, damit ich ihm die „Zivilisation beibringe, die er bei unseren „Lumberjacks ( Spitzname für die Land- bevölkerung im Norden und Westen Kanadas) auf seiner Baustelle benötigt." Alle lachten, da das momentane Training in dieser Umgebung eher das Gegenteil zu bewirken schien..

    Arne, mit dessen Boot er und seine Begleiter ebenfalls einen Ausflug gemacht hatten, ergänzte dann aber: „Vielleicht kann ich Sven eher helfen. Schließlich wohnen die meisten meiner Kunden auch in den einsamen Kleinstädten des Nordens und noch schlimmer in der endlosen Weite des Westens. Ich verbringe viel Zeit mit ihnen und bin daher fast ein Zwitter. Einerseits wuchs ich in Toronto auf, habe hier studiert und zähle „Großstadtpflanzen wie Ben zu meinen besten Freunden. Andererseits schätze ich aber auch die Großzügigkeit und die damit verbundene Freiheit, die die Individualität der Leute auf dem Lande ausmachen. Ben, der sich als Anwalt sofort angesprochen fühlte, erwiderte: „In Toronto gelten wenigstens allgemein anerkannte und festgelegte Gesetze, die ähnlich wie in London, Paris oder Hamburg unser Zusammenleben regeln. Je weiter man nach dem Norden kommt, desto weniger werden sie beachtet, dafür aber umso großzügiger nach dem jeweiligen Bedarf von „Dorfältesten zurechtgebogen. Fremden und besonders Ausländern begegnet die Bevölkerung mit Misstrauen und ich hoffe nur, dass Sven der Kontakt zu Toronto erhalten bleibt. Selbst Arne mit seiner besonderen Kundschaft behält sein Boot hier und freut sich auf den Drink in der Bar dieses Clubs, in dem die Bank- und Geschäftsleute den Ton angeben. Max Weber, den Sven jetzt fragend ansah, bestätigte Bens Ansicht mit den Worten: „ Du wirst dich in Toronto nach einer Weile sicher wohlfühlen und ein angenehmes Leben genießen können. Ich werde dich in der nächsten Woche im Büro besuchen, da ich bei deinem Projekt beteiligt bin und wir die noch offenen Fragen abklären müssen."Sven, der eigentlich andere Kontakte suchte, wusste nicht so recht, ob er sich auf diesen Besuch freuen sollte, sagte aber zu, indem er sich gleichzeitig mit Arne zu einem Wieder-sehen in dessen Haus in Don Mills, einem älteren, zentral gelegenen Wohngebiet von Toronto, verabredete. Jim, der sich an ihrem Gespräch wenig beteiligt hatte, entschuldigte sich bald darauf wegen seines Abendessens zu Hause und erreichte damit, dass er und Sven sich schnell wieder verabschiedeten.

    Die unerwartete Begegnung, vor Allem die mit seinem Landsmann Max Weber, hatte Sven neugierig gemacht. Auf dem Weg zu seiner Wohnung fragte er deshalb Jim:Kannst du mir etwas mehr über diesen Max erzählen? „Er ist ein Deutscher, den seine Firma vor etwa einem Jahr nach hier geschickt hat, und einer, der über seine deutschen Kontakte sehr schnell zum Erfolg bei einigen Großfirmen, vor allem in der Automobilbranche, gekommen ist. Er nutzt seine Beziehungen geschickt aus und ich würde mich nicht wundern, wenn er momentan gerade über Arne als Gönner und notwendigen Bürgen versucht, Mitglied bei unserem Segelclub zu werden. „Keine schlechte Idee, wenn jemand als Vertreter ins Geschäft kommen will erwiderte Sven. Jim schien dieser Einwand wenig zu beeindrucken: „Du hast recht. Max muss einschlägige Erfahrungen mit diesem althergebrachten Geschäftssystem haben, bei dem Beziehungen die Hauptrolle spielen. Er versucht deshalb, sich bei den hiesigen, oft noch sehr einflussreichen, englischen Kreisen einen Zugang zu verschaffen. Dieses scheint sehr leicht zu sein, gelingt aber meist nur an der Oberfläche. Andererseits, und dabei nahm sein Gesicht einen geradezu zornigen Blick an, sind wir auch keine englische Kolonie mehr, in der über einen eng miteinander verflochtenen Handel alle Geschäfte beherrscht werden. Ich begegne bei meinen Geschäftsreisen in erster Linie selbstbewussten, eigenständigen Partnern, die vor Allem meine Fachkompetenz prüfen wollen. Die mühsam errungene Freiheit in Nordamerika besteht auch darin, dass jeder als einzelner bei den zuständigen Entscheidungsträgern Beachtung findet, wenn er den Vorteil seiner Idee oder seines Produktes überzeugend darstellt. Beziehungen helfen am Anfang, werden aber nüchtern und fachkundig beurteilt und nicht mehr honoriert, wenn

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