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Verbrannte Schiffe: Roman
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eBook292 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Ein Fußballteam gewinnt bei einem Event-Wettbewerb in Deutschland eine Gastspielreise durch Mexiko. Betreut von einem Reiseleiter mit Landeserfahrung und zwei spanischen Assistenten, folgt die heterogen zusammengesetzte Gruppe unwissentlich genau der Route, die einst die Konquistadoren unter Cortés auf ihrer Flucht aus Tenochtitlán einschlugen. Der Zusammenhalt der deutschen Gruppe beginnt bald zu bröckeln, nachdem die Organisation nicht reibungslos funktioniert, Freundschaftsspiele in aggressiven Debakeln enden und die gängigen Reiseerwartungen nicht erfüllt werden. Die beiden spanischen Roadmanager scheinen in einen Konflikt mit mysteriösen Gegnern verwickelt zu sein, dessen Wurzeln offenbar in eine weit entfernte Zeit zurückreichen. Zudem beginnt der desillusionierte Reiseleiter Zukunftspläne zu entwickeln, die nicht unbedingt von Loyalität seinen "Schutzbefohlenen" gegenüber zeugen.

Die Gruppe, die in der Mehrheit dem Land, seiner Kultur und den sozialen Spannungen, mit denen sie konfrontiert wird, desinteressiert bis ablehnend gegenübersteht, begegnet auf ihrer verlustreichen Tournee einigen pittoresken bis dubiosen Figuren, vom alkoholsüchtigen britischen Konsul über Schläger in den berüchtigten Cantinas, demonstrierende Zapatisten und streikende Automobilarbeiter bis hin zum abgehalfterten nordamerikanischen Rock-Musiker und einem Magnaten, der den Mexikanern verkaufen will, was sie selbst erfunden haben. Zum Finale mit höchst unterschiedlichen Konsequenten für die einzelnen Protagonisten kommt es am Endziel der Reise, in der karibischen HafenstadtVeracruz...

Mexiko mit seinen politischen Verwerfungen nach einer gescheiterten Revolution, der allgegenwärtigen Korruption und der kulturellen Fremdbestimmung durch die Macht jenseits des Rio Grande bildet nicht allein die exotische Kulisse, sondern steht im Fokus des Geschehens, beherrscht das Denken und Planen der Hauptpersonen und zieht einige von ihnen in einen verhängnisvollen Bann.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum15. Nov. 2012
ISBN9783844234886
Verbrannte Schiffe: Roman

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    Buchvorschau

    Verbrannte Schiffe - Jürgen Walter

    Omen

    Nicht dass er sonderlich schicksalsgläubig gewesen wäre, doch zwei Begebenheiten ziemlich zu Beginn der Tour schienen bereits den wahnsinnigen und für einige Teilnehmer tragischen Verlauf anzudeuten, wobei er sich darüber im Klaren war, dass man solchen Erlebnissen nur dann im Nachhinein tiefere Bedeutung zumisst, wenn etwas schiefgelaufen ist.

    Da war einmal das vielleicht dreijährige Kind, das Emil, der Torwart, am Abflughafen mit dem Gepäckwagen böse angefahren hatte. Die Familie hatte den Unfall nicht gesehen, und das kleine Mädchen, vor Schmerz und Schreck verstummt, zeigte nur auf das nackte blutende Bein, nicht einmal anklagend, nur verständnislos und zutiefst unglücklich. Emil sprach sich von jeder Schuld frei, indem er auf die Unachtsamkeit von Bälgern und deren Eltern schimpfte, und die zwei oder drei von der Gruppe, die den Vorfall mitbekommen hatten, nicht gerade die Feinfühligsten, ließen ähnliche Kommentare hören und zogen weiter, ohne sich um das Kind, das jetzt endlich schreien konnte, weiter zu kümmern, mit jener Rücksichtslosigkeit, die sich manchmal rächt. Er jedoch glaubte, von diesem Zeitpunkt an geahnt zu haben, dass sein Auftrag noch übler enden werde, als er von Anfang an befürchtet hatte. Wie es denn auch geschah – wenn auch nicht für alle gleichermaßen.

    Und dann war da die Begegnung mit dem betrunkenen Engländer am ersten Abend in Mexiko. Zwar waren die anderen daran nicht beteiligt, aber auch der tragische Ausgang dieses seltsamen Zusammentreffens schien einen Schatten auf die weitere Reise zu werfen. Alles hing eben mit allem zusammen. Er hatte die Bar im Souterrain des Hotels Isabel la Cátolica aufgesucht, um noch ein Bier zu trinken, als er in ein Gespräch gezogen oder eher zum Zuhören eines Monologs gezwungen wurde, der ihm zunächst lästig fiel, weil er sich belanglos und unzusammenhängend anließ, der ihn aber plötzlich zu beunruhigen begann, ihn an etwas im Augenblick gedanklich nicht Fassbares erinnerte, etwas schon einmal Erlebtes oder zumindest Gehörtes, der ein Déjà-vu-Gefühl weckte, das einen Menschen befällt, der das Gedächtnis verloren hat.

    Zunächst war ihm der große Mann in dem zerknitterten hellen Anzug am Tresen gar nicht aufgefallen. Erst als sich das schlecht rasierte Gesicht, intelligent und verbraucht zugleich wirkend wie eine Collage aus Clochardvisage und Antlitz eines Charakterdarstellers, näher schob, und er hörte, dass der Mann mit schweißüberströmter Stirn und offenstehendem schmuddeligem Hemdkragen kultiviertes Englisch, womöglich in gediegener Oxford-Tradition, sprach, begriff er, dass er selbst der Adressat des Sermons war. In einer Cantina nimmt niemand Notiz von skurrilen Gestalten und achtet zumindest nach dem Erreichen eines bestimmten Pegels nicht mehr auf Gespräche, Ansprachen oder Brandreden in der unmittelbaren Nachbarschaft. So fiel keinem der umstehenden Mexikaner, in der Mehrzahl Hotelgäste, Geschäftsleute und undurchsichtige Typen mit Brillantine-Frisur in bedruckten T-Shirts, auf, dass der englische Gringo dem anderen Gringo wirre Sätze, bisweilen von Speichelfontänen begleitet, ins Gesicht warf.

    - Ich sehe, Sie haben die compañeros  im Auge. Das ist gut so.

    Ehe er diese kryptische Behauptung hinterfragen konnte, begann der Engländer seinen Warnungen und seiner kruden Schilderung fortzufahren, mit sympathischer Stimme, aber monoton, ohne Punkt und Komma, als halte er einen Lehrvortrag, den er schon etliche Male unverändert vor unterschiedlichem Publikum zum Besten gegeben hatte.

    - So eine Spelunke explodiert leicht. Von einem Augenblick zum anderen.  Und dann haben Sie die mexikanischen Faschisten ante portas, keine großen Ideologen, aber enorm blutrünstig in ihrer Schäbigkeit. Ich habe es am eigenen Leib erfahren müssen, immerhin in der – an diesem Abend allerdings ruhenden – Eigenschaft als Konsul Großbritanniens. Sie müssen von dem Vorfall gehört haben!

    Seltsamerweise kam ihm tatsächlich irgendetwas an der sich atemlos weiterspinnenden Story bekannt vor, besonders als der Engländer erzählte, er sei unter falschen Anschuldigungen in Cuernavaca in eine Schlucht geworfen worden und habe am selben Tag die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte – nein, das nicht ganz, vielmehr: die ihn jemals geliebt hatte, verloren. Es war weniger der Titel, den sein Thekennachbar beanspruchte, der ihn ungläubig aufhorchen ließ (es gab eine Menge windiger Eminenzen unter den Vertretern europäischer Nationen in tropischen Metropolen), vielmehr glaubte er, vor langer Zeit von einem solchen Fall gehört oder darüber gelesen zu haben. In der Tat ist es eine Impertinenz, fuhr der Mann fort, nachdem er sein Glas Mezcal geleert und ein weiteres geordert hatte, dass behauptet wurde, man habe mir einen toten Hund hinterher geworfen. Ich kenne den versoffenen Schreiberling, der das erfunden hat, der mir so das Leben und die Würde nehmen wollte. Was er über die Gefährlichkeit der Cantinas hierzulande berichtet hat, war allerdings wahr. Passen Sie also auf sich auf!

      Er überlegte angestrengt, an welche Geschichte ihn die absurde Erzählung des Betrunkenen erinnerte, ein Buch musste es gewesen sein, wahrscheinlich ein Roman. Ihm fiel Greene ein; da hatte es etwas mit einem Honorarkonsul gegeben. Aber das war in Argentinien gewesen, oder in Paraguay. Vielleicht hatte der Alkoholiker neben ihm das Buch auch gelesen und das Geschehen einfach nach Mexiko verlagert, um eine wirre Geschichte gegen die Einladung zu einem Drink einzutauschen. Denn soeben fragte der Engländer ihn, ob er den nächsten Mezcal übernehmen könne, selbst habe er im Moment zu wenig Bargeld bei sich. Doch während er dem Camarero signalisierte, er solle noch einen Schnaps für seinen Gesprächspartner und für ihn selbst eine weiteres Bier auf den Tresen stellen, überkam ihn das Gefühl, es gebe noch ein anderes Werk, ein Drama oder Epos, das der Sache näher käme, ein chaotisches und düsteres Stück, von dem er vielleicht nur aus zweiter Hand gehört hatte.

    Schon früher waren ihm Europäer und vor allem US-Amerikaner in diesem Land begegnet, die jede Bindung zu ihrem früheren Leben verloren zu haben schienen, die mittellos durch ein Dasein taumelten, dessen Horizont nur bis zur Unterkunft in der kommenden Nacht und zum nächsten geschnorrten Suff reichte. Sie waren oft intelligent, hatten Phantasie; sie wussten zu erzählen. Doch er hatte erfahren müssen, dass es nur Ärger brachte, sich mit ihnen einzulassen, sei es aus Interesse oder aus Mitgefühl. Mexiko war ein Wallfahrtsort für solche Menschen, zumeist Männer, die von Erfolgreicheren oder Durchschnittlichen als Wracks bezeichnet wurden. Unter denen, die er auf seinen Reisen getroffen hatte, war der Engländer von seinem snobistischem Anspruch und der behaupteten Vergangenheit her allerdings eine Ausnahmeerscheinung. Der Mann trank ausnahmslos Schnaps, und auch noch den für jede Konstitution verheerendsten, während die Mexikaner um sie herum, Tequila oder Brandy mit Cola mischten, um bequem betrunken zu werden, ohne sich die Schärfe des hochprozentigen Fusels antun zu müssen.  Normalerweise nahm er jede Gelegenheit wahr und jede Lüge zur Ausflucht, alkoholisierte Gesprächspartner mit jenem charakteristischen Flair aus Einsamkeit und Niedergang loszuwerden, doch diesmal ließen ihn die kultivierte Sprache des anderen und das seltsame Gefühl, zu ahnen, wovon der redete, den Sachverhalt unwillentlich in die Verliese des Gedächtnisses verbannt zu haben, abwarten. Er musste sich auch keine Gedanken machen, wie er der Suada entkommen konnte, denn kurz darauf verlor sein Gegenüber das Interesse an ihm und wandte sich mit vom Mezcal befeuerter Energie einer neuen Situation zu, an deren Entstehen ebenfalls Agavenschnaps, wenn auch in der edleren Tequila-Variante,  entscheidenden Anteil hatte.

    Zwei beleibte Herren mit mächtigen Schnauzbärten in zu engen Anzügen waren aneinander geraten. Zuvor hatten sie nach der üblichen Art mexikanischer Bankiers, Handelsagenten oder Abteilungsleiter miteinander getrunken, sich Fotos gezeigt, schmutzige Witze gerissen und traurige Liebeslieder gesungen. Doch die Wirkstoffe der blauen Agave sind tückisch und verwandeln Sentimentalität rasch in Zorn und Brutalität. Nun versuchte einer dem anderen ins Gesicht zu schlagen, was nicht leicht zu bewerkstelligen war, da beide weder sehr fest auf ihren Beinen standen noch besonders präzise mit ihren Fäusten zielen konnten. In diesem Augenblick stand der Engländer, dem der Mann hinter dem Tresen, ein langer schweigsamer Norteño, anscheinend der einzig Nüchterne in der ganzen Bar, gerade wieder das Glas vollgeschenkt hatte, leicht schwankend von seinem Hocker auf. Es geht los, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf die Kontrahenten. Rurales, Faschisten, rief er, assesinos, cobardes, sie warten nur darauf, von hinten zuzustechen. Trotz des Tumults waren die englisch-spanischen Beleidigungen dank seiner Stentorstimme gut vernehmbar. Mittlerweile hatten sich Freunde der beiden Kämpfenden oder auch Außenstehende, denen mit dem Sprit die Kampfeslust in die Adern gefahren war, eingemischt, und nun floss auch Blut, denn ein Schwinger hatte eine Nase getroffen. Eben in diesem Augenblick hörten die Mexikaner den Gringo. Die meisten drehten sich um. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich vom eigentlichen Geschehen weg zum Ursprung der Provokation. Sie waren als feige Mörder geschmäht worden, von einem Fremden, einem Nordamerikaner in ihren Augen. Mira este yanqui, hörte er heisere Stimmen, este hijo de puta. Rasende Wut und kollektive Aversion sprachen aus ihren Gesichtern, äußerten sich in den Drohgebärden, als sie näher rückten, um dem „Hurensohn" die Beleidigungen zurückzuzahlen.

    Er hatte im Laufe der Jahre gelernt, sich aus Konflikten herauszuhalten, zumindest in Kneipen und in dieser Weltgegend. Von dem Norteñ0 hinter dem Tresen frühzeitig gewarnt, hatte er seinen Barhocker zur Seite geschoben, und jetzt beobachtete er quasi  vom unbeleuchteten Bühnenhintergrund aus, wie sie den englischen Konsul, der über große Körperkräfte und einen erstaunlichen Widerstandswillen verfügte, niedermachten. Sein Blut färbte ungefähr den Umriss der mexikanischen Landkarte in die Sägespäne, die den Boden vor der Theke bedeckten.

    Diese beiden seltsamen, in keiner Weise zusammenhängenden Erlebnisse am Anfang der Reise erschienen ihm später, im selbstgewählten Exil, wie Zeichen einer grauen Vorbedeutung, die damals nur niemand zu erkennen vermochte: So wie die Gruppe, die er eigentlich durch alle gefährlichen Untiefen hätte führen sollen, mit einem Schiffbruch für die Rohheit  dem verletzten Kind gegenüber büßen sollte, so war er selbst nach der lauen Indifferenz, die er an den Tag gelegt hatte, als dem Konsul der Schädel eingeschlagen wurde, dazu verurteilt worden, zu wandern, ohne Aussicht auf Rückkehr und mit Zielen vor Auge, denen er sich nicht einmal merklich annähern, die er geschweige denn jemals erreichen konnte. Und der Satz, den er sich später während der vergeblichen Schuftereien, der schon im Ansatz scheiternden Liebesbemühungen, in den Slums, in alten Bussen und heruntergekommenen Hotelzimmern, immer wieder, beinahe zwanghaft, ins Gedächtnis rief, lautete: Alles hängt mit allem zusammen.

    I. Megalopolis

    Wohin ist der See verschwunden, in deren Mitte die Stadt einst lag? Wenn der Wind die getrockneten und pulverisierten Fäkalien, die sie doch durch so endlos lange Rohre aus dem Moloch in weit entfernte Landschaften blasen, mit Staub und Salzen vermischt wieder zurückbringt und damit die Rachen ätzt und die Nasen bluten lässt, wenn hunderttausend Fabrikessen in die trübe Luft rauchen und fünf Millionen Volkswagen durch Straßenschluchten kriechen, wenn der Lärm von Motoren und Abspielgeräten jedes Wort erstickt, die Menschen vor voll besetzten Parkbänken Schlange stehen, weil sich nirgends im Gewühl ein Platz findet, wenn man Zeuge wird, wie sich der Ring der elenden barrios immer enger um die alte Stadt, die eigentlich auf den Ruinen einer noch älteren errichtet wurde, zieht, dann weiß man, Ciudad de México könnte eine zeitgemäße, also eine moderne, hässliche Heimat sein, ein Ort von dieser Welt. Und man sieht den bettelnden Indio-Frauen auf dem Zócalo zu, wie sie ihre verlausten Kinder inmitten der Massen füttern und in den Schlaf wiegen; das dürfen sie nämlich, das hat man ihnen erlaubt, den Urahnen der Herren dieses Landes, sogar im Schatten der Kathedrale und im Angesicht der Globalisierung, denn so lässt sich anhand dieser lebenden Relikte belegen, dass es früher hier auch schon etwas gegeben hatte, was nicht unbedingt humaner, aber zumindest ursprünglicher, dem Land eigentümlicher gewesen war. Nur vom Wasser der Lagune findet man keinen Tropfen mehr.

    1

    Oft noch, wenn er sich auf durchgelegenen Matratzen über dem gestampften Boden wälzte, in Bretterverschlägen, deren Fensterlöcher durch zerrissene Moskitonetze kaum abgedichtet waren, und auf das an- und abschwellende Sirren eines Blutsaugers, das gerade durch die fehlende Konstanz und den unvorhersehbaren Rhythmus so penetrant  an die Nerven ging, lauschte, dachte er an den Tag, an dem die ihm unaufhaltsam erscheinende Lawine von Ereignissen, die ihn letztlich hierher nach Cali geschleift  hatte, losgetreten worden war, und er sah sich in einem anderen Leben die große Straße im Zentrum einer Stadt, die er nicht als Heimat empfand, in der er aber doch geboren worden war und mehr Jahre verbracht hatte als sonstwo, entlang gehen, zwar mit der weißen Weste dessen, der sich noch nicht hatte schuldig machen können, aber auch damals schon ohne Hoffnung und Perspektive. Er ging an Banken vorbei, an Modegeschäften und dann wieder an Fastfood-Restaurants. Diese City, deren Entstehung im Geist der damaligen Zeit, in Form einer zweckmäßigen, kommerziellen Moderne, die bereits auf der Bauskizze schon verbraucht wirkte, er miterlebt hatte, war unbeschreiblich verwechselbar.

    Sein Ziel war ein Bürogebäude in ziemlich guter Lage, und dort die fünfte Etage. Die Tür mit dem kühlen Logo und der Aufschrift GERMAN MEGA öffnete sich mit dezentem Surren, und er durchquerte auf weichem Teppichboden ein Vorzimmer, das die Ausmaße seiner Wohnung haben mochte.  Er nannte seinen Namen, und eine Dame von glatter Schönheit mit dezent modischem Outfit wies ihm den Weg zu einem Raum, dessen einziges Mobiliar aus ein paar Regalen, einem riesigen elfenbeinfarbenen Schreibtisch und zwei futuristisch anmutenden Sesseln bestand. An den Wänden hingen Werbeplakate für Veranstaltungen, die offenbar von der Agentur durchgeführt worden waren. Hinter der Schreibtischplatte, auf der sich ein mit „Event Manager beschrifteter Reiter befand und sonst nichts, erhob sich ein schlanker Mann mit kurzem, silbergrauem Haar, in schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt gekleidet, aus seinem Sessel. Auf dem Shirt stand „I am MEGA.  Miller mein Name, Yves Miller, sagte der Mann und streckte die rechte Hand aus. Miller sprach leise, baute seine Sätze sorgfältig. Er dehnte die Vokale und Endsilben. Wie ein Arzt, der von verzweifelten Patienten Vertrauen und Anerkennung seiner Kompetenz einfordert, dachte er.

    Sie haben unser Inserat vermutlich genau gelesen. Sie wissen also, was wir fordern. Miller listete in verbindlichem Ton die offenstehenden Posten auf, die der Schuldner, den er zu beauftragen gedachte, begleichen musste. Spanisch wie ein Muttersprachler? Erfahrungen mit Reisen in Lateinamerika, vorzugsweise in Mexiko? Führerschein und die Bereitschaft, im Notfall einen Kleinbus durch chaotischen Verkehr und über abenteuerliche Pisten zu steuern – was allerdings im Normalfall der bereits engagierte Chauffeur tun werde? Talent, ad hoc ein Freizeitprogramm für die Truppe zu entwerfen und so weiter. Und das Wichtigste ist, dass Sie gute Nerven haben, sagte Miller zuletzt. Er musste von seinen Erfahrungen in Mexiko berichten, erklären, warum er für zwei Wochen aus der Stadt verschwinden könne, einfach so; warum er denn derzeit arbeitslos sei. Schließlich erklärte ihm Miller, dass er den Job haben könne, da seine „Qualifikationen passten, da sich nur wenige Bewerber, die „mobil wie er seien, gemeldet hätten, dass sie sich nun über die Rahmenbedingungen würden unterhalten müssen. Die Summe, die er nannte, war für den Job als Reiseleiter recht üppig, die nötigen Versicherungen werde die Agentur sogleich für ihn abschließen. Aber Sie müssen den Hintergrund der Tour kennen, sagte Miller, und etwas über die Personen wissen, mit denen Sie quer durch Mexiko fahren. Und nun erklärte der Event-Manager, wie seiner Agentur, eigentlich ihm selber, die Idee gekommen sei, die Verbindung von Sport und Public Relations auf eine „neue Ebene zu hieven; nicht mehr die klassische Werbung an der Stadionbande, die TV-Spots in der Halbzeitpause eines Länderspiels, die sündhaft teure Verpflichtung eines unbegabten Superstars für einen Reklame-Sketch, nein, die Basis war einzubeziehen, die Leute sollten mitmischen, „endlos Fun haben, und so seien als Sponsoren Konzerne gewonnen worden, deren Produkte sonst nicht unbedingt in Verbindung mit sportivem Geist gebracht würden. Das Ganze habe man optisch mit einem Schuss Erotik und einem „Feuerwerk von Gags aufpeppen müssen. Die Erfahrungen von GERMAN MEGA mit der Organisation von Belegschaftsfeten für Unternehmen seien da sehr hilfreich gewesen. Man habe sich noch tolle Hauptpreise „mit einer Prise Adventure ausgedacht, dann sei man mit diesem Event-Konzept auf die Suche nach einem finanzkräftigen Sponsor gegangen und fündig geworden. Eine Großbrauerei habe sofort tief in die Taschen gegriffen, und auch der Einzelhandel am Endspielort und die Touristikbranche seien Schlange gestanden, denn Boulevard-Blätter, lokale Radiosender und das Privatfernsehen als „Multiplikatoren optimalen Product-Placements" hätten sich angekündigt für die ausführliche Berichterstattung über: die Deutsche Bier- und Fußballmeisterschaft für Kneipen-Teams. Mit dem ersten Preis: eine Fußball-Tournee durch Mexiko für die Siegermannschaft. Und Sie können sich vorstellen, dass auf unser Stellenangebot nicht allzu viele Meldungen eingingen, kam Miller ohne Überleitung auf seine Bewerbung und Vorstellung zu sprechen. Nun, wenige hatten Ihre Qualifikationen und Erfahrungen, und von diesen hatte keiner die nötige Zeit. Miller spielte beiläufig auf seinen derzeitigen Status als Arbeitsloser an und gab ihm zu verstehen, dass er ein vergleichsweise üppiges Honorar als Pausenclown einstecken würde. 

    Als alles vorbei war, in Cali, verglich er die Situation in Millers Büro mit einer anderen, Wochen später in Veracruz, als er vor einem anderen teuren Schreibtisch saß, hinter dem ein anderer, mächtigerer und noch bedenkenloserer Ausbeuter seichter Wünsche thronte, und erinnerte sich an den Hass der Ohnmächtigen, der nur sekundenlang durch die Erkenntnis, dass man so nie sein wolle, gemindert wurde, ehe die zweite, bittere Erkenntnis, dass man nicht die geringste Möglichkeit habe, jemals so zu sein, ihn wieder völlig als Befehlsempfänger reaktivierte. Es war der Hass, den er in diesen Augenblicken gespürt hatte, als ihm die Banalität der cleveren Puppenspieler, an deren Fäden er selbst hilflos hing, und die profitable Enteignung naiver Träume der anderen, die etwas erleben wollten, denen die Wahrnehmung aber schon längst genommen war,  bewusst wurden.

    Aber auch jetzt, da noch alles zu verhindern gewesen wäre, stand er nicht auf, ging er nicht wortlos hinaus. Während Miller den eigenen geistigen Anteil an „diesem europaweit einzigartigen Event erneut betonte und die Meisterung organisatorischer Schwierigkeiten bei der Umsetzung der „gewagten Idee beschrieb, überschlug er das Für und Wider und kam zu dem Schluss, dass er die einmalige Chance, noch einmal in das Land zurückzukehren, das in besseren Zeiten der Ausgangspunkt für die langen, durch eine nie mehr gespürte Intensität der Sinneseindrücke und des hautnahen Erlebens gekennzeichneten Reisen gewesen war - als seine Haut, sein Herz und sein Denken noch eine Einheit gebildet hatten. Das Geld konnte er auch brauchen, aber es würde ihm nicht lange weiterhelfen. Der Job der letzten Jahre als Korrekturleser des großen örtlichen Blattes mit regionalen Mantelzeitungen war vor einigen Monaten wegrationalisiert worden, da die Verleger zu dem Schluss gekommen waren, dass sich die Seiten mit dickeren Schlagzeilen, größeren Farbfotos und von weniger Schreibern, die quasi die Texte ohne Umweg über eine Qualitätskontrolle direkt in die Druckmaschine eingaben, leichter und billiger füllen ließen und die Leser weder inhaltliche Defizite, noch Fehler in der Rechtschreibung, der Grammatik oder Syntax bemerken würden. Mit seinem Arbeitslosengeld kam er einigermaßen hin – er hatte keine teuren Bedürfnisse, zumindest keine, die er sich leistete; in wenigen weiteren Monaten aber drohte ihm die Grundsicherung. So konnte er diese Umstellung durch drei Wochen Mexiko zwar verschieben, da er sich für diese Zeit bei seinem Vermittler abmeldete, aber irgendwann war es so weit, und dann nutzte ihm auch das Honorar nichts mehr, wenn bis dahin noch etwas davon übrig wäre. Dass er einen Job in seinem Metier oder auf den wenigen angrenzenden Gebieten, von denen er etwas zu verstehen glaubte, finden würde, hielt er angesichts der „allgemeinen Entwicklung" und seines fortgeschrittenen Alters für ausgeschlossen -  und wurde in dieser Ansicht von seinem Arbeitsvermittler, den er von Zeit zu Zeit aufzusuchen hatte,  nur bestärkt.

    Nein, nicht das Geld für gut drei Wochen war das Entscheidende; die Aussicht, nach mehr als zehn Jahren Mexiko noch einmal wiederzusehen, hatte ihn bewogen, das Angebot dieser die Untiefen des Zeitgeistes befahrenden Agentur anzunehmen, auch wenn er möglicherweise mit einer Crew von Debilen unterwegs sein müsste. Schon bevor er die Büroetage betreten hatte und selbst noch während Miller nun im gelangweilten, sicheren Stil eines Referenten, der vor wegdämmernden Zuhörern, die bereits längst geködert waren, noch aus Pflichtgefühl sein Programm abspulte und von den „innovativen Ressourcen und der „kreativen Manpower schwadronierte, war er entschlossen gewesen, nach Mexiko zu gehen. Aus eigenen Mitteln konnte er sich eine solche Reise nicht mehr leisten. Vielleicht wäre er nach Mittelamerika gegangen, wenn er hätte wählen können, an die Karibikküste von Honduras, in einen nicaraguensischen Hafen am Pazifik oder an einen Hochlandsee in Guatemala. Mexiko, das Niemandsland zwischen dem mächtigen Nachbarn im Norden und dem brodelnden Zentralamerika, „so fern von Gott und so nah an den USA", war ihm ein Kontinent der blendenden Kontraste gewesen, dessen Licht zu grell für die Augen schien und dessen Schatten sich zu düster und bedrohlich für eine gesegnete Abendruhe niedersenkte. Es fehlten die Nuancen, die Abstufungen, die farbige und faulige Idylle der kleinen Staaten im Süden, deren Menschen in unendlich vielen Mischungen und Schattierungen durcheinander wirbelten, den Tod nicht sonderlich ernst nahmen, die Liebe ziemlich leicht und den Suff leichter überstanden weil ihr Rum aus Zuckerrohr weniger Amokläufe verursachte als die gefährlichen Agavenbrände der Mexikaner. Diese, ernsthafte Mestizen mit dünnen Schnurrbärten, heller im steinigen Norden, dunkelhäutiger in den südlichen Bundesstaaten Chiapas oder Yucatán, hatten an Last und Härte der Geschichte zu tragen, einer anspruchsvollen Bürde, deren Unausweichlichkeit die Menschen in Costa Rica oder El Salvador erst vor siebzig Jahren oder noch gar nicht registriert hatten. Und die damit verbundenen, ständig sich wiederholenden Niederlagen hatten aus geselligen Campesin0s einsame Wölfe gemacht, die dem gewaltsamen Tod und der vom Machismo gepflegten Doktrin von der weiblichen Unterwerfung huldigten. Dennoch schätzte er ein Land, in dem sich stets neue Nester des Widerstands und des Aufruhrs bildeten, gegen Kolonisatoren, Ausbeuter oder auch nur korrupte Polizisten, das trotz der unentwegten Berieselung durch Ton, Bild und Schrift aus den Zentren jenseits des Rio Grande intelligente, kritische und verantwortungsbewusste Geister hervorbrachte, auch wenn diese im eigenen Haus gewöhnlich wenig zählten.  Aber wenn er hätte wählen können – er wäre nach Mittelamerika gegangen, wo in der kurzen Abenddämmerung unter Palmen, in denen Vögel und Ratten pfiffen, beim Geruch der Holzkohle, über deren Glut scharf gewürzte Bananen und Schweinerippen gegrillt wurden, um zu Rum und Limonenwasser und zum sanften Girren indianisch-chinesischer Schönheiten, die man mit Geld locken, aber nicht kaufen konnte, verspeist wurden, wo, oft nur ein paar Schritte

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