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Das ungelobte Land: Deutsch-deutsche Erinnerungen 1974 - 2014
Das ungelobte Land: Deutsch-deutsche Erinnerungen 1974 - 2014
Das ungelobte Land: Deutsch-deutsche Erinnerungen 1974 - 2014
eBook343 Seiten4 Stunden

Das ungelobte Land: Deutsch-deutsche Erinnerungen 1974 - 2014

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Über dieses E-Book

Beschrieben wird der Alltag in der DDR zwischen Anpassung und Widerstand in unterschiedlichen Lebensbereichen. Wie musste man sich als Schüler und Student staatskonform verhalten? Warum waren die gefälschten Wahlen von 1989 so relevant? Wie war das Leben als sogenanntes Intelligenz-Kind? Wie ideologiefrei war die Arbeit als Dolmetscher in der DDR? Was hat sich wirklich seit 1989 geändert?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Dez. 2016
ISBN9783738095364
Das ungelobte Land: Deutsch-deutsche Erinnerungen 1974 - 2014

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    Buchvorschau

    Das ungelobte Land - Roland Kühnel

    9. Oktober 1989

    Teil I

    Der 9. Oktober gilt als Tag der Entscheidung für die Wende, besser gesagt, das Ende der DDR. Man hörte den besorgten Aufruf von Kurt Masur und fünf mutigen Leipziger Bürgern im Stadtfunk, die Stimmung in Leipzig und überall in der DDR war geprägt von Angst und Unsicherheit.

    Ich war in Berlin wegen eines Praktikums und nicht in Leipzig, meiner Heimatstadt. Was würde geschehen? Die Nervosität erreichte ihren Höhepunkt. Zwei Tage zuvor feierte sich Honecker und sein Regime, zelebrierte mit einem Aufmarsch den „Tag der Republik. In Berlin Kontrollen an wichtigen Straßen und Kreuzungen. Um den „Palast der Republik" sammelten sich Menschenmassen. Neu war, dass bereits über 500 Meter vor der Grenze am Brandenburger Tor kein Passieren mehr möglich war. Volkspolizisten stellten sich in den Weg: Bürger, gehen Sie weiter! Was ist hier los? Nur Auserwählte „Unter den Linden"? Sollten die Menschen Gorbatschow nicht sehen? Nein, es gab einen ganz anderen Grund. Ich erinnere mich nicht mehr, wer mir dies sagte: Es ist am 7. Oktober ein Massendurchbruch von 1000 Bürgern am Brandenburger Tor geplant. Ich war elektrisiert. Sie könnten nicht 1000 erschießen. Und ich dachte an Ronald Reagan und seinen Ausruf 1987: Mister Gorbachev, tear down this wall!

    Ich hatte bis zum Nachmittag für den stellvertretenden jemenitischen Bildungsminister gedolmetscht und wartete im Aufenthaltsraum eines sehr spezifischen Gebäudes auf einen möglichen Einsatz Dieses Gebäude in der Nähe der Jannowitzbrücke war, so stand es zumindest am Eingang, ein Tagungshotel des FDGB, des Gewerkschaftsdachverbandes der DDR. In Wirklichkeit ist das Haus eine Art Neben-Stasizentrale gewesen, nur nicht so bekannt wie die berühmte Normannenstraße. Ich saß dort ab etwa 18 Uhr in der Kantine und fühlte mich so fremd wie noch nie in einer Umgebung. Als vermutlich einziger Parteiloser, Nicht-Stasi-Mitarbeiter, -IM, -OIBE (Offizier im besonderen Einsatz) oder was es sonst noch alles gab, beobachtete ich voller Aufregung das hektische Treiben in der Kantine und in den Fluren des „Gästehauses".

    Am 9. Oktober musste eine Entscheidung in Leipzig fallen. In der „Leipziger Volkszeitung hatte ein gewisser Kommandeur Lutz von der Betriebskampfgruppe „Hans Geiffert geschrieben, dass der Sozialismus gegen die Konterrevolution verteidigt werden müsse, wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand! Wie würde sich die neue Riege unter Krenz verhalten, wie Armee und Polizei? Gibt es eine chinesische Lösung? Endet alles wie am 17. Juni 1953 mit Gewalt und Panzern?

    Auch die Universität Leipzig hatte ihre eigene Kampfgruppe, die Kampfgruppenhundertschaft „Gerhard Harig. Die UZ, die Universitätszeitung, stellte anlässlich ihres 15jährigen Bestehens diese Kämpfer mit Foto vor. „Jederzeit einsatzbereit für den sicheren und zuverlässigen Schutz des Sozialismus, lautete der Titel des Artikels. Vorgestellt werden „Gruppenführer, Kämpfer, Truppführer", in eigentlichen Beruf Mathematiker, Wirtschaftswissenschaftler, Tierärzte, Linguisten. Einer der Kämpfer auf dem Foto war einer meiner Französisch-Dozenten. Wenn es in Leipzig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen wäre, hätte ich als Demonstrant meinem Lehrer von der Universität gegenüber stehen können.

    Meist sprechen Originaldokumente am besten für sich, um sich ein Urteil zu bilden. „Werktätige des Bezirkes (Leipzig) fordern: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden – Die Angehörigen der Kampfgruppenhundertschaft „Hans Geiffert verurteilen, was gewissenlose Elemente seit einiger Zeit in der Stadt Leipzig veranstalten… Wir sind bereit und willens,… diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand. Kommandeur GÜNTER LUTZ im Auftrag der Kampfgruppenhundertschaft „Hans Geiffert (LVZ 6.10.89). Dies war die Lage vor der später berühmten Demonstration am 9. Oktober. So hatte noch niemand den Menschen in Leipzig mit militärischer Gewalt gedroht. (Was ist eigentlich aus diesem Kommandeur geworden? Nun, vielleicht ist er heute bei der Bundeswehr, leitet ein Autohaus oder sitzt irgendwo in einem Stadtrat. Mich würde das überhaupt nicht wundern).

    In der Rückschau wurde oft spekuliert, wer nun das Verdienst hat, dass in Leipzig nicht geschossen wurde. Günther Schabowski äußert sich in seinem Buch „Das Politbüro" (rororo 1990) nur sehr vage. Gregor Gysi, ein gewöhnlich gut informierter Zeitgenosse, wird im ND vom 6.11.89 folgendermaßen zitiert: „… er wisse von Leipziger Kollegen (?), dass Egon Krenz am 9. Oktober in Leipzig die Hauptverantwortung für die Entscheidung zur Vermeidung von Gewalt trug. Damit habe er „einen Beitrag zur Rettung des Landes geleistet… In seiner Darstellung „Herbst ´89 (neues leben 1999) referiert Egon Krenz erstaunlicherweise nur sehr knapp zu diesem doch so wichtigen Tag der DDR-Geschichte. Unbestritten war Krenz quasi der Oberbefehlshaber (mit Mielke?) der bewaffneten Organe, aber vermutlich hat er, wenn Gysis Darstellung stimmt, die Gewaltoption abgelehnt, nachdem die Stimmung und die Gefechtsbereitschaft in verschiedenen Truppen bekannt wurde. Sollte es diesen Nicht-Schieß-Befehl gegeben haben, so gebührt Krenz dafür Respekt. Meine Beobachtung ist etwas anders gewesen; vor Ort in Berlin habe ich gehört, dass 300 Panzer mit laufendem Motor um Leipzig zusammengezogen waren und dass Egon Krenz nach Leipzig geflogen ist, um sie zu stoppen… Dieses wichtige Detail der DDR-Geschichte wird wohl nie geklärt werden.

    Zurück nach Berlin ins „FDGB-Hotel". Pausenlos klingelten irgendwo Telefone. Unteroffiziere suchten ihre Generäle, rannten durch die Flure, um sie ans Telefon zu bekommen. Und die Telefone klingelten bis etwa 20 Uhr. Die Atmosphäre in dieser für mich Höhle des Löwen war unbeschreiblich. Hochrangige in Uniform saßen apathisch an ihren Kantinentischen und tranken Bier. Stumm. Mit ratlosen Gesichtern.

    Ich dachte an mein Leipzig, an die Demonstranten, an Kommandeure vom Schlage Lutz. Da kam ein Offizier aufgeregt in die volle Kantine und sagte mit versteinertem Gesicht: Genossen, die Kampfgruppen in Leipzig verweigern den Befehl!

    Atemlose Stille. Kein Wort. Und ich? Ich wäre am liebsten an die Decke gesprungen vor Freude und Glück, musste einen Jubelschrei unterdrücken. Ich dachte nur eins: Das war´s! Das ist das Ende für diese Leute hier.

    Eine Stunde später erhielt ich den Anruf, dass meine Arbeit für heute beendet ist. Ich fuhr schnell mit der S-Bahn in meine Unterkunft und saugte die Bilder vom Fernsehen aus Leipzig in mich hinein, unglaubliche Aufnahmen von Roland Jahn und seinen Mitstreitern, die versteckt von der Kirche neben dem Hotel „Fürstenhof gedreht hatten. 70.000 Demonstranten in Leipzig, „Keine Gewalt!, „Schließt euch an!"…

    Die Mauer ist weg!

    Wo ist eigentlich die Grenze? Etwa fünf Meter von mir entfernt stand ein Westberliner Polizist, und ich fragte ihn mit einem suchenden Blick auf dem Asphalt dieses für mich so relevante Detail.

    Berlin, Check-Point Charly, 10. November früh kurz vor 7 Uhr. Wie viele andere auch hatte ich am Abend zuvor die berühmte Pressekonferenz von Günter Schabowski im Fernsehen verfolgt und deren unmittelbare Tragweite nicht begriffen. Ich fand kurz nach 20 Uhr im menschenleeren Nikolai-Viertel eine Telefonzelle – ein Unterfangen, was damals nicht leicht war – und rief meinen Vater in Leipzig an. „Wahnsinn! Hast du die „Aktuelle Kamera gesehen?! Wenn ich nächste Woche wieder in Leipzig bin, werde ich sofort einen Pass beantragen. (Pässe hatten in der DDR nur Reise-Kader, ein Wort, was mit der DDR verschwunden ist, und sonstige besondere Personen.) Zurück in meiner Unterkunft war ich von einem langen Tag Dolmetschen so müde, dass ich nicht nochmals den Fernseher anmachte. Ich war damals zu einem obligatorischen Berufspraktikum bei „Intertext Berlin, meinem zukünftigen Arbeitgeber. (Arbeitgeber gab es in der DDR nicht, man wurde als Uni-Absolvent zu einem Betrieb „delegiert.)

    Ich verschlief also einen historischen Abend, etwas, was ich mir bis heute nicht verzeihe. Am nächsten Morgen früh um 6 schaltete ich das Radio ein, und da hörte ich das Unfassbare: Die Mauer ist auf. So schnell wie noch nie zog ich mich an und ging schnellen Schrittes zu meiner Arbeitsstätte – in der Mauerstraße.

    „Intertext Berlin, das zentrale Übersetzer- und Dolmetscherbüro der DDR, hatte seinen Sitz in der Mauerstraße, im letzten Haus der DDR. Heute braucht es viel Phantasie, um die Topographie von damals nachzuvollziehen, zumal mein Fensterblick vom Praktikum auf die Häuserwand mit der Zeitungsreklame der „Neuen Zeit nicht mehr existiert. Meine letzten 50 Meter zum Hauseingang führten mich entweder die Mauer(straße) entlang, oder ich nahm den Knick in der Mauer mit, direkt am Checkpoint Charly.

    Heute nicht. Ich ging – mit dem kleinen blauen DDR-Personalausweis („Persi") in der Hand – auf die Grenzübergangsstelle zu. Am Tag vorher wäre ich allein dafür verhaftet oder zumindest streng verwarnt worden. Aber nichts. Der Grenzer zeigte auf einen anderen Grenzer hinter einem kleinen Fenster, und dieser stempelte meinen Personalausweis ab. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

    Er zeigte nach rechts, und ich ging durch ein Labyrinth von Gängen, und nach vielleicht einer knappen Minute stand ich draußen. Kein Mensch außer mir. Ein gelangweilter Grenzer rauchte eine Zigarette, einen Steinwurf entfernt. Durch meinen Fensterblick im Praktikum „kannte" ich ja die andere Straßenseite aus ca. 100 Meter Distanz. Also ging ich los. Noch heute bekomme ich da eine Gänsehaut. Ich lief – wie in Trance – auf die andere Seite zu. Eine Welt, die mir 25 Jahre versperrt blieb. Eine Welt, in die man jeden Tag im Fernsehen reisen konnte. Aber dies hier war live. Ich sah die Häuser und dann den besagten Polizisten – in einer „Tatort"-Uniform.

    Wo ist eigentlich die Grenze?, fragte ich ihn. Und er zeigte auf eine kleine weiße Linie hinter mir. Ich war also schon im Westen!

    In diesem Moment fiel mir ein, was der DDR-Grenzer, der den Ausweis abstempelte, zu mir gesagt hatte: „Bürger! Sie müssen aber bis 8 Uhr wieder zurück sein, sonst sind Sie Republikflüchtling! Als gelernter DDR-Bürger musste man zunächst davon ausgehen, dass das stimmt. In diesen verrückten Zeiten allemal. Also, keine Zeit verlieren. Ich wollte ja auch nicht „abhauen. Aber was kann man in einer Stunde machen? Einmal zum Brandenburger Tor und von der westlichen Seite rüberschauen. Kudamm schaff ich nicht mehr. (Das Problem war hier auch, dass es in der DDR ja keine Stadtpläne von Westberlin gab und man nur ungefähr die Stadt im Kopf hatte.)

    Und so wurde ich immer schneller. An der Ecke Zimmerstraße sah ich ein Plakat von Manfred Krug, der Reklame für „Schultheiß Bier machte: „Wir haben den besseren Geschmack. Eine Ecke weiter ein kleines Reisebüro mit dem Aushang „ROM 435 DM. Wahnsinn! Ist das alles nur ein Traum? Dann erblickte ich einen Zeitungsladen. Ich betrat ihn und fühlte mich wie im Schlaraffenland. „Spiegel, „Stern, hunderte von Zeitungen und Zeitschriften. Aber mein Blick blieb haften auf der „Berliner Zeitung vom selben Tag: Die Mauer ist auf, prangte in riesigen Lettern auf Seite 1. Ein Zeitdokument, das zeig ich mal meinen Kindern. Da fragte mich der ältere Ladenbesitzer: Na, junger Mann, wat wollnse denn? Ich seufzte innerlich, weil ich dieses kostbare Blatt umsonst in den Händen hielt. Nimmse mit, ik schenk se dir. Voller Glück verließ ich den Zeitungsladen.

    Weiter. Jetzt rannte ich los, Richtung Brandenburger Tor. Immer den finsteren Gesichtsausdruck des Grenzers im Kopf und seiner deadline. Unterwegs andere offensichtlich „Ungläubige aus dem Nahen Osten. Zwei von ihnen fragte ich nach dem Ultimatum mit der Zeit, aber sie antworteten: „Ja, das haben die mir auch gesagt. Ach, die sind am Ende! Und so ging ich weniger schnell durch den Tiergarten, direkt an der Mauer entlang. (Im Nachhinein erfuhr ich, dass ein fünf Meter breiter Streifen hinter der Mauer auch noch DDR-Territorium war.) Schließlich sah ich das Podest, von dem man in den Osten schauen konnte. Ich stieg hoch, und jetzt erst realisierte ich es richtig. Nein, es ist kein Traum mehr.

    Wie oft hatte ich auf der anderen Seite Richtung Westen geguckt, voller Wut, voller Ohnmacht. Was hatte ich den SED-Oberen getan, dass sie mich hier einsperren? Zumal es nie mein Plan war, in den Westen zu gehen. Ich bin Leipziger und wohne gerne dort, bis heute.

    Ich stieg vom Podest und setzte mich erstmal auf eine Bank im Tiergarten. Was mache ich jetzt? Du kannst nicht gleich wieder zurück, vielleicht machen sie die Grenze ja wieder zu. Wieder für 28 Jahre. Dann wäre ich 53.

    Nein, jetzt schaust du dir die Stadt an. Zu gern hätte ich meinen Vater oder meine Oma in Leipzig angerufen, aber womit? Ich hatte kein „Westgeld. Außerdem bildeten sich vor den Telefonzellen Menschentrauben, alles „Ossis mit dem gleichen freudigen Gesichtsausdruck. Also erstmal zurück zum Checkpoint. Dort sah ich den U-Bahn-Eingang Kochstraße. Ich dachte, steig einfach ein, vielleicht fährt die Linie Richtung Stadtzentrum. Fahrkarte? Wenn sie mich als „Schwarzfahrer erwischen würden, was könnten sie schon tun? Zufällig hielt gerade eine Bahn. Nichts wie rein. Die Bahn fuhr los, und ich wunderte mich über den Untergrund. Warum fuhr die Bahn so langsam? Warum waren die Gänge so finster? Dann fuhr die Bahn fast im Schritt-Tempo durch eine Station mit altdeutschen Buchstaben (es muss „Stadtmitte gewesen sein) – und ein Grenzer der DDR guckte grimmig in den Waggon. Ich verstand das nicht, bis ein Nachbar mir im Berliner Dialekt sagte: Det is doch die Linie übern Osten. Dies war mir neu, woher sollte man es auch wissen. So wie es in Berlin zwei Mauern gab, dazwischen ein endlos breiter Grenzstreifen. Bewundernswert, wie es Menschen überhaupt schafften, diese Grenze zu überwinden.

    Dann war ich schon an der Station am Kudamm, und inzwischen bekam ich langsam Hunger. Aber wie sollte ich mir etwas kaufen? Begrüßungsgeld, dieses Wort bis heute ohne Bedeutung für Nicht-Rentner. Ich ging in die erste Bank, glaube eine „Berliner Bank. Dort verwies man mich – offensichtlich schon etwas genervt – an das Rathaus Schöneberg und drückte mir einen Zettel mit der Adresse in die Hand. Der Stapel mit den Adressenzetteln erschien in seiner Höhe gewappnet für den Ansturm einer Masseninvasion aus China. Also auf zum Rathaus und erst mal Schlange stehen. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich gerne in einer Schlange. Stempel in den Personalausweis, und schon hatte ich 100 Mark, harte Westmark in der Hand. (Die Genossen von der SED bekamen teilweise 200 Mark, sie hatten Personalausweis und Pass und gingen zu unterschiedlichen Banken. Ein Genosse von „Intertext ging nur zur Bank rüber, um das Geld zu holen, und dann sofort wieder zurück! Später wurden dann in den riesigen Schlangen auf den Rathäusern noch die Kinder getauscht; Ledige hatten plötzlich Kinder. Ich hab mich für diese Zeitgenossen geschämt.) In der Schlange hörte ich Tausend Dinge, die man sich für die 100 DM kaufen könnte. Meine Idee war jedoch, erst mal zu Karstadt, denn ich wollte etwas bestimmtes, einen Stadtplan. Damals noch mit gut markierten Grenzen.

    Dann erspähte ich von weitem einen riesigen Plattenladen, WOM, World of Music. Nach dem Zeitungsladen das nächste Paradies. Es gab alles, und man konnte es einfach kaufen. Ein völlig neues Gefühl. In der DDR gab es auch „Westplatten, im DDR-Sprachgebrauch Lizenzplatten, aber nur unter der Hand oder zu bestimmten Zeiten. In Leipzig existierte ein Musikladen, „Musikhaus Tappert in der Rosa-Luxemburg-Straße unweit meiner Wohnung. Dort stellte man sich Freitag vor der Öffnung um 14 Uhr an die Schlange an – ohne zu wissen, was es gab. Man wusste nur, es gab irgendeine oder manchmal auch zwei Westplatten. Und das Irre, man kaufte die Platten, egal, ob es der eigene Musikgeschmack war oder nicht. Platten waren Tauschware oder gut zu verkaufen (ich habe selbst ab und zu eine begehrte Platte für 100 DDR-Mark gekauft von privat, eine Summe, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann).

    Zurück auf dem Kurfürstendamm dachte ich, immer noch mit Restzweifel, ob die Grenze offen bleibt. Du musst jetzt noch unbedingt den Ku´damm hoch und runter. Erstmal zur Gedächtniskirche, dann zum Café Kranzler, wo sich mein geplagter Magen wieder meldete. Aber kann ich mein gutes Westgeld für ein Stück Kuchen ausgeben?

    Weiter westwärts. Auf einer Fußgängerbrücke stockte mir der Atem, als ich hinunterblickte. Auf die Schnellstraßenverlängerung der AVUS am Kaiserdamm. Minutenlang starrte ich fasziniert auf die vorbeirasenden Autos. Eine Geschwindigkeit, die man auf der anderen Seite nicht kannte. Ebenso wenig unfassbare vierspurige Straßen – in einer Richtung!

    Langsam wurde es frisch, und ich dachte, du musst zurück in den Osten. Wie seltsam das klang. Zurück in den Osten, in ein anderes Land, in ein völlig anderes Land. Ungefähr um 19 Uhr passierte ich meine kleine weiße Linie, diesmal von der anderen Seite. Würde ich wiederkommen? Der Grenzer von früh um 7 Uhr schaute immer noch grimmig, aber er hatte seinen Schrecken verloren. Aber für immer?

    Zettelfalter

    Eine, wenn nicht die größte Demütigung für viele DDR-Bürger waren die Wahlen (für viele auch die bestellten Demonstrationen am 1. Mai). Wenn man heute 25 Jahre später als Wähler zu Recht oft frustriert ist, so hat man wenigstens auch die Option, nicht wählen gehen zu müssen. Nicht so in der DDR. Da wurde registriert, wer nicht zur Wahl ging, ja sogar, wann die Leute wählen gingen. An der Universität Leipzig wurden 1986 alle Studenten verpflichtet, spätestens bis 8 Uhr wählen zu gehen. Warum diese völlig überflüssige Schikane?

    Im Rückblick wird manchmal der Begriff „Zettelfalter benutzt, eine sehr beschönigende blumige Umschreibung. Wen wählte man? Die sogenannte „Wahlliste der Nationalen Front als Block. 1981 sah man sogar Wahlwerbung an den Leipziger Straßenbahnen: „Wählt die Kandidaten der Nationalen Front! Ging man in das Wahllokal, erhielt man ein A4-Blatt mit der Liste und vielleicht 15-20 Namen darauf, die wiederum offensichtlich nach einer Quote aufgeteilt waren in die SED-Kandidaten und jene der vier Blockparteien (die „Blockflöten). Es gab auch immer Wahlkabinen. Warum haben die DDR-Wähler sie nicht benutzt?, fragen westdeutsche Historiker, und dies manchmal in einem vorwurfsvollen Unterton. Diese Frage kann nur jemand stellen, der nie in einem System wie der DDR gelebt hat, in einer Diktatur, in einem Unrechtsstaat, oder wie immer man die DDR bezeichnen möchte.

    Die allermeisten DDR-Bürger wollten diese Wahlprozedur schnell hinter sich bringen, schon aus Angst vor Restriktionen. Im Wahllokal Zettel abgreifen, ohne einen Blick draufzuwerfen, mit zügigem Schritt zur Wahlurne, Zettel falten und rein in die Urne, und weg an den See oder nach Hause. Es hatte etwas von Absurdistan.

    Wie konnte man aber dem Gruppenzwang und den strengen Beobachtern der Wahlkommission entgehen? Nur, wenn man vorwählen ging (eigentlich erstaunlich, dass es diese Möglichkeit gab). Den intensiven Blicken der Wahlkommission entging man trotzdem nicht, aber man war allein mit ihr im Wahlbüro.

    Meine erste DDR-Wahl war während der Armeezeit 1984. Ich erinnere mich nicht daran, aber vermutlich stand selbst dort in der Kaserne eine Wahlkabine. 100%. Aber dann kam die berühmte Kommunalwahl im Mai 1989. Der Geist und die Ideen von Gorbatschow, von Glasnost und Perestroika, von Offenheit und Umbau, durchdrangen die Gesellschaft. Man konnte sich – auch als Krypto-Gegner – auf die sowjetischen Klassenbrüder berufen, wenn man etwas kritisierte. Das war neu. Ganz anders als zu „Solidarnosç"-Zeiten in Polen 1980/81, mit Kriegsrecht unter Jaruzelski. Zu Zeiten, wo man in der EOS (Erweiterte Oberschule, 9.-12. Klasse) auf den Besitz von West-Plastiktüten kontrolliert und ermahnt wurde. Zu Zeiten, wo man auch über Proteste unter Studenten in Jena erfuhr.

    Diesmal war die Stimmung anders. Man wusste, dass viele Bürger legal ausgereist waren; überall in Leipzig fuhren Autos mit einer kleinen weißen Schleife an der Radio-Antenne, das Symbol, ´seht her, ich bin Antragsteller auf Ausreise´. Auch bei der Frühjahrsmesse im März 89 in Leipzig herrschte eine andere Stimmung. Eine Mischung aus stummer Wut und zartem Mut, irgendwas zu tun. Es muss sich was ändern.

    Man las plötzlich kritische Leserbriefe in den Zeitungen, sogar im Zentralorgan der SED, dem „Neuen Deutschland (interessant, dass dieser Name in der DDR geändert wurde). Mehr aber in lokalen Blättern wie dem „Sächsischen Tageblatt. Man las von Umweltaktivisten, Beschwerden über bestimmte Versorgungsengpässe, jedoch nichts radikales Politisches. Vielleicht war es auch ein toleriertes Ventil von oben. Und man hatte einen neuen mächtigen Verbündeten: Michael Gorbatschow. Später wurde immer wieder ein Satz von ihm zitiert: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben! Aber die SED-Mächtigen haben diesen Satz nicht ernst genommen. Zum ersten Mal seit 40 Jahren hieß es nicht mehr: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!

    Kurz: die Stimmung war schlecht. Und nun diese Wahlen. Ich war Student im 4. Studienjahr, wenige Monate vorm Diplom und einem sicheren und interessanten Arbeitsplatz in Berlin. Kann ich meinen Studienplatz, meine berufliche Perspektive riskieren wegen einer Stimme? Das bringt doch nichts. So dachten die meisten, die allermeisten. Insofern dürften die üblichen Zahlen um die 99% durchaus gestimmt haben. Aber ich dachte, wie offenbar viele andere ebenso, diesmal muss es sein.

    Ich ging einige Tage vorher, am 2.5., ins Vorwahllokal Leipzig-Mitte, im Standesamt am Ring. Angekommen vor dem Wahllokal lugte ich hinein und sah einen riesigen Saal, und niemand drin außer der Wahlkommission. Ich musste mich erstmal auf eine Bank setzen. An die zehn Minuten schaute ich auf den offenen Eingang des Wahlbüros – kein Wähler war inzwischen gekommen -, dann stand ich auf und ging zügig zur Wahlkommission, die mir ebenso zügig den „Wahlvorschlag" der Nationalen Front überreichte.

    Jetzt oder nie! Zielstrebig und mit schnellen Schritten eilte ich zur Wahlkabine und spürte förmlich die Blicke der Wahlkommission im Nacken. Aber jetzt war es sowieso zu spät. Also rein in die Kabine, den mitgebrachten und mehrmals getesteten Kuli aus der Jacke geholt – um dann jeden Kandidaten auf der Liste sauber, einzeln und vollständig durchzustreichen. Wenn ich schon in die Kabine gehe, dann wollte ich auch eine Gegen-Stimme abgeben. Man konnte ja nicht wählen, sondern nur dagegen oder dafür stimmen. Ich bin überzeugt, dass die meisten das gar nicht wussten, wie man dagegen stimmen konnte. Da musste man sich vorher informieren; ich denke, ich hatte es so beim „Kennzeichen D im ZDF gesehen. Vom „imperialistischen Klassenfeind lernen, heißt richtig wählen lernen…!

    Ein großes Kreuz durch alle Kandidaten quer über das ganze Blatt war nur eine ungültige Stimme. Und das dauert eine gefühlte Ewigkeit, alle Namen einzeln und jeden Buchstaben des Namens durchzustreichen. Ich fühlte mich förmlich durchbohrt durch den Vorhang der Wahlkabine. Dort hing, besser: baumelte, übrigens ein stumpfer Bleistift (!) für die Wähler bereit, dazu eine komische bastmattenartige Schreibunterlage. Selbst hier wurde man noch gedemütigt. Wer seinen Kuli vergessen hatte, war umsonst in die Kabine gegangen.

    Ich überprüfte nochmals, ob ich alle Namen erfasst hatte, und ging dann, denk ich, noch schneller, zur Kommission, die mich noch strenger als zuvor musterte. Widerwillig zeigten sie auf die Urne, und im Vorbeigehen nach draußen glaubte ich zu entdecken, wie einer der „Wahlmänner" ein Kreuz in eine Wählerliste machte. Vermutlich bei meinem Namen. Jetzt war ich bestimmt ein neuer Staatsfeind - und ich war in diesem Moment glücklich darüber. Ich war kein Widerstandskämpfer (so wie viele sich, gerade an der Uni Leipzig, nach 89 gerierten), aber dieses eine Mal wollte ich diese Farce nicht mitmachen. Denn was hätten sie auch tun können? Mich am nächsten Tag zum Dekan bestellen? Also, Herr Kühnel, wir haben erfahren, dass Sie gestern in der Wahlkabine waren. Haben Sie etwa gegen den Sozialismus gestimmt?

    Ich war das ganze Studium über kein sogenannter Reisekader. Als Student der Romanistik durfte ich nicht nach Frankreich oder Italien fahren, als Student der Arabistik nicht mal ins befreundete (Süd-)Jemen oder ins noch mehr befreundete Libyen Gaddafis. Ich habe auch kein Leistungsstipendium (300 statt 200 DDR-Mark, und 100 M hatten viel Kaufkraft) bekommen trotz sehr guter Studienleistungen, da ich mich hartnäckig weigerte, eine „gesellschaftliche Funktion zu übernehmen. Ironie der Entwicklung: ich erhielt es dann doch im 4. und 5. Studienjahr, und zwar aus Quotengründen, da von den ursprünglich zehn Studenten unserer kleinen Arabisch-Seminargruppe bis Oktober 89 nur noch vier (!) übrig waren. Alle anderen sind von Studienaufenthalten im NSW, dem „nichtsozialistischen Wirtschaftssystem, nicht zurückgekehrt bzw. über Ungarn in den Westen geflohen. Darunter gerade die Überzeugten, die reisen durften. Ein Lehrer wunderte sich stets, dass nicht ich, der Renitente, abhaute, sondern sogar die Genossen das Weite suchten.

    Indes, meine Gegenstimme blieb ohne –

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