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HYBRIS
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eBook437 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Eine global tätige Megabank baut ein neues, supermodernes Rechenzentrum. Kostensparend, professionell und extrem sicher - glaubt man wenigstens. Bis sich ein dummer Softwarefehler einschleicht und die Existenz der Bank bedroht. Techniker und Manager wehren sich gegen den Untergang, doch eine Kette unglücklicher Umstände, gegenseitige Animositäten, Schuldzuweisungen und eine überbordende Bürokratie erschweren den Kampf. Ein obskurer Hedge Fund Manager mischt sich ein und führt ungewollt zur Entscheidung. Ob direkt beteiligt oder nur danebenstehend: Das Leben zahlreicher Protagonisten nimmt eine drastische Wende.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Juni 2017
ISBN9783742783189
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    Buchvorschau

    HYBRIS - Daniel Philipona

    Vorwort

    Ich danke meinem Vater Hugo, meinem Sohn Frederik und insbesondere Isabel Flynn dafür, dass sie mein Manuskript mit viel Engagement durchgelesen haben. Sie haben mir geholfen, ein besseres Buch zu schreiben.

    Die Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig.

    Version 1.01

    Für Esther

    Personen

    Jenny: Das Mädchen mit einer Tasche voller Geld

    Anna: Jennys überlegene Freundin

    Oliver Schwab: Herr über alle Computer der Bank

    Peter Hoyle: Cheftechniker und Olivers Stellvertreter, Vorgesetzter von Fred Larson

    Fred Larson: Leiter der Kommandozentrale

    Raj: Leiter einer Eingreiftruppe gegen Cyberkriminalität

    Johannes Pragel: Technischer Experte

    Moses Finkelstein: Technischer Experte, von Oliver kaltgestellt

    Helen Grivas: Public Relations-Chefin der Bank

    Der Professor: General Counsel, Chef der Rechtsabteilung

    Der Coo: Chief Operating Officer der Bank, Olivers Vorgesetzter

    Der Boss: Chief Executive Officer der Bank, Vorgesetzter des Coo

    Trevor Graham: Finanzchef der Bank

    David Gross: Manager eines obskuren Hedgefonds

    Uwe Weibel: IORA Account Manager, verantwortlich für die Bank

    Leo Guidoboni: Uwes Stellvertreter

    Henri de Guise: Grossgrundbesitzer mit Herzogtitel

    Dazu: Call Center Mitarbeiter in Bangalore, Indien; IORA Mitarbeiter in Europa und Amerika; eine Regierungschefin, ein Minister und ein Zentralbanker; Gefolge des Herzogs.

    1

    „Hey, bist du verliebt? Schon als der Zug mit Getöse in den Vorortsbahnhof eingefahren kam, hatte Anna die geröteten Wangen ihrer Freundin Jenny hinter der Glasscheibe leuchten sehen. Kaum zugestiegen, wollte sie natürlich wissen, was lief. „Wie heisst er? Kenn ich ihn? Komm, sag schon!

    Jenny lachte verlegen. „Gib mir zuerst einen Kuss."

    Anna umarmte ihre Freundin kurz, aber Jenny weigerte sich immer noch, ihr Geheimnis preis zu geben.

    Anna insistierte: „Na los, und mit zusammengefalteten Händen, „bitte, bitte, bitte!

    Aber Jenny war noch nicht soweit. Sie wandte sich ab und schaute entschlossen zum Fenster hinaus. „Sieh, das Laub beginnt schon zu fallen."

    Anna verzog das Gesicht. Seit wann interessierte sich Jenny für fallende Blätter? Ausserdem lag das ganze Laub schon längst am Boden. Da sie aber wusste, dass man am besten schwieg, wenn man Jenny zum Sprechen bringen wollte, hielt sie den Mund.

    Der Zug brachte Station für Station hinter sich. Und immer lief das gleiche Spiel: Der Lokführer bremste zu spät, dafür umso heftiger. Die Leute, die bereits aufgestanden waren, verloren das Gleichgewicht, griffen überrascht nach Haltern oder Stangen oder fielen gleich in ihre Nachbarn. Leise fluchend stiegen sie aus und eine neue Welle Passagiere schwappte herein. Je näher die Stadt kam, desto öfter stiegen mehr Leute ein als aus, und der Zug füllte sich rasch. Anna hielt sich demonstrativ die Nase zu, als sich eine ältere Frau so hinstellte, dass ihr üppiger Hintern kaum eine Handbreit neben Annas Gesicht zu stehen kam. Üblicherweise hätte Jenny jetzt gelacht, aber diesmal wandte sie den Blick nicht vom Fenster ab.

    Erst als man schon die Türme der Kathedrale sehen konnte, stupste Jenny Anna an und zeigte auf ihre Handtasche, die sie unter den Arm geklemmt hatte. Anna verdrehte die Augen. Die Tasche war nach allen ästhetischen Massstäben eines der grässlichsten Exemplare, das je angefertigt worden war. Ohne erkennbare Form – dafür mit verdrehten Henkeln. Und auf das bereits abgeschossene schwarze Kunstleder war auf so ungeschickte Weise eine Blume gestickt, dass man nicht erkennen konnte, was sie hätte darstellen sollen. Eine Rose vielleicht?

    „Nein, deine Tasche gefällt mir immer noch nicht", sagte Anna und versuchte dabei nicht unhöflich zu sein. Doch Jenny ging’s nicht um die Tasche. Sie öffnete den Verschluss eine Handbreit und liess Anna hinein linsen.

    „Halt mal still! Ich seh‘ ja nichts. Der Zug fuhr über Weichen und schwankte. Dann sah sie ein Bündel Papier. „Ah! Wusste ich’s doch. Liebesbriefe!

    „Bist du blöd? Schau doch richtig hin!"

    Anna versuchte in die Tasche zu greifen, aber Jenny klappte sie blitzartig zu.

    „Au! Sag mal, spinnst du?"

    Jenny öffnete die Tasche erneut, griff diesmal aber selber hinein. Zwischen ihren Fingern liess sie Anna ein Stück bedrucktes Papier sehen. Es dauerte eine Ewigkeit bis Anna endlich begriff. „Was ist denn das? Ein Hunderter?!"

    „Psst! Sei still. Das muss ja nicht gleich jeder hören!" Jenny sah sich um. Aber zum Glück war der Zug mittlerweile so vollgestopft, dass sich niemand für ihre kleine Einlage interessierte. Anna hatte mit grossen Augen endlich begriffen, dass das Bündel Papier in der Tasche keineswegs ein Stapel pikanter Briefe war, sondern ein Haufen Geld. Ein verdammter Riesenhaufen sogar. Mehr als sie je gesehen hatte. Mehr als sie sich vorstellen konnte. Denn wie alle ihre Freundinnen litt sie an chronischer Geldnot. Wenn der Monat langsam zu Ende ging musste sie sich regelmässig Geld für den Döner am Mittag zusammenbetteln. Und warum? Nicht etwa, weil sie keine Taschengeld erhielte, nein, sondern weil sie jedes Mal, wenn das Geld eintraf, die Billigläden stürmte und für fast nichts T-Shirts, Tops, Hotpants, Sandalen, Strings und Panties in Mengen kaufte. Und diesen Monat besonders schlimm: ein Designerröckchen, im Ausverkauf. Und schon in dem Moment, als die hochnäsige Verkäuferin beim Einpacken abschätzig auf ihre Beine herunterschaute, wusste sie, dass sie’s nie anziehen würde. Sie biss sich auf die Lippen. Dazu noch Lippenstift, Mascara, Puder und diesen fantastischen Eyeliner, den man diese Saison einfach haben musste! Sie wusste, ihr Verhalten war dumm – aber machten es nicht alle ihre Freundinnen so?

    Unter diesen Zwängen und Realitäten war der Anblick eines Stapels Banknoten natürlich etwas ganz und gar Aussergewöhnliches. „Wieviel ist das? Bestimmt Tausend, oder? Oahh, sooo viel Geld!"

    Jenny schwieg. Ihr wurde ganz heiss, ob der Ungeheuerlichkeit des Ganzen. Der Zug hatte das Ziel erreicht. Die Leute drängelten bereits zu den Ausgängen, als Jenny sich zu Anna hinüberbeugte. „Fünfundzwanzigtausend", flüsterte sie ihr ins Ohr.

    Ein paar Stunden später liessen sie sich erschöpft in zwei Fauteuils fallen. Sie sassen im Adamovic, der teuersten Bar der Stadt, unten am Quai, umringt von Einkaufstaschen, auf denen all die wichtigen Labels prangten. Auch Anna hatte zugreifen dürfen. Jenny hatte sich grosszügig gezeigt und eigentlich hätten sie beide glücklich sein müssen, denn schliesslich lebten sie heute Abend wie die Reichen in den Realityshows, die sie manchmal zusammen schauten. Aber Anna spürte keine Freude. Statt eines ausgelassenen Vergnügens war die Shoppingtour eine einzige Demütigung gewesen. Sie besass feine Antennen für den zwischenmenschlichen Umgang. Und jede der mageren blondierten Ziegen, die Verkäuferin spielten, liess sie spüren, dass die beiden jungen Frauen in ihren Augen nichts als verirrter Abschaum waren. Eine eklige Anomalie, die in der distinguierten Welt des High-End-Shoppings nichts zu suchen hatte. Eine der blonden Vogelscheuchen hatte die ganze Zeit die Augen nach oben verdreht, so als bete sie ständig zu Gott, er möge ja verhindern, dass ausgerechnet jetzt eine ihrer guten Kundinnen den Laden beträte. Bei einer anderen hatte sie das sichere Gefühl, sie würde sich zum Händewaschen ins Badezimmer stürzen, noch bevor die Tür hinter den beiden Freundinnen ins Schloss gefallen war. Und bei der letzten, einer Schwarzhaarigen, waren sie mehr oder weniger geflüchtet, weil sie befürchten mussten, diese würde die Polizei rufen. Denn Jenny hatte sie ungeschickterweise ein Bündel Scheine sehen lassen, und der Gesichtsausdruck der Verkäuferin zeigte klar, dass sie die beiden jungen Frauen für Diebinnen hielt, die wahrscheinlich eine alte Frau überfallen hatten, um an das Geld zu kommen. Also ab durch die Mitte!

    Jenny schien das alles egal gewesen zu sein, aber Anna war empört. „Was für ein verlogener Haufen! So widerlich!"

    Das sagte sie als die beiden in dem teuren Lokal Platz genommen hatten. Anna schaute sich um. Gelbgoldenes Licht funkelte in den Kronleuchtern, am Piano sass ein trauriger Kerl, der mit flinken Fingern Songs spielte, die die Mädchen nicht kannten. Ab und zu hörte man über all dem Gebrabbel ein lautes Lachen. Man war bereits vom Kaffee zu Schärferem übergegangen und der Alkohol begann Wirkung zu zeigen. Die Leute bestellten Cocktails mit Namen, die entweder peinlich waren oder von denen man nicht wusste, wie man sie aussprechen sollte.

    Jenny las sich mit grossen Augen durch die Karte. Der Name des Lokals war in goldenen Lettern in dickes Papier eingeprägt und die Seiten des Büchleins wurden von einer Kordel in derselben Farbe zusammengehalten. Anna sah ihrer Freundin beim Lesen zu. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass sie beide keine Ahnung hatten, was man an einem solchen Ort bestellen sollte. Aber als der Ober kam, um zu fragen, was die beiden jungen Damen wünschten, plapperte Jenny munter drauf los und es störte sie nicht im Geringsten, dass weder Anna noch der Ober verstanden, was sie soeben bestellt hatte. Da zeigte Jenny mit dem Finger auf eine Zeile. „Das hier wollen wir haben", sagte sie fröhlich.

    „Sie haben den Preis gesehen?" erkundigte sich der Ober vorsichtig, aber höflich.

    „Ja klar. Wir haben was zu feiern!"

    Sie griff nach ihrer Tasche und wollte sie schon öffnen, als sich der Ober mit einem „sehr wohl" entfernte.

    Anna war das alles so peinlich, dass sie vor Scham am Liebsten im Fauteuil versunken wäre. Sie hatte eh keine Ahnung wie sie auf dem viel zu weichen und tiefen Sessel anständig sitzen sollte. Sie bemerkte nur, dass sie und ihre Freundin auffielen. Alles an ihnen war irgendwie falsch. Die dilettantisch geschnittenen Haare mit der scheckigen Färbung, der zu grelle Lippenstift, die abgelatschten Schuhe, die Jacken, die zwar unter ihresgleichen bewundert wurden, aber hier einfach nur schäbig aussahen.

    Anna riss sich zusammen. Sie wollte jetzt endlich wissen, woher das Geld kam. Denn eigentlich war sie sich sicher, dass es gestohlen sein musste.

    „Ich hab’s gefunden", lüftete Jenny das Geheimnis.

    „Gefunden? Wo? Auf der Strasse?"

    „Bist du blöd? So ein Bündel, auf der Strasse?"

    „Ja wo denn dann? Los, verdammt, sag schon!"

    „Auf meinem Bankkonto."

    „Auf deinem Bankkonto? Willst du mich verarschen?"

    „Nein. Wirklich! Auf meinem Bankkonto! Sie lachte laut auf. „Ich hab mir am Automaten bei der Filiale einen Hunderter fürs Wochenende rausgelassen. Sonst schau ich ja nie auf den Zettel. Aber diesmal hab ich’s getan und als ich dann mein Guthaben gesehen habe, bin ich fast umgekippt. Wie sechs Richtige im Lotto! Da bin ich zur Filiale zurückgerannt, an den Schalter gestanden und hab mir einen schönen Stapel auszahlen lassen.

    „Aber …. Aber das ist sicher ein Fehler. Woher solltest du plötzlich so viel Geld haben?"

    „Natürlich ist’s ein Fehler. Ich bin ja nicht dumm. Aber es ist nicht mein Fehler. Und bevor die was merken, hab ich’s schon verputzt. Ich bin ein süsses, unschuldiges Mädchen und ich werde Krawall schlagen, wenn sie sich’s zurückholen wollen. Und sowieso: Für die sind das doch nur Peanuts. Und die wollen sicher nicht, dass jemand erfährt, dass ihre Konten nicht stimmen!"

    Anna verschlug’s ab so viel Naivität die Sprache. Viele, viele Dinge gingen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Sie hatte eine Vision von Jennys Mutter, die sich vor einem mitleidslosen Pfändungsbeamten auf die Knie warf und bitterlich weinte: „Bitte, bitte, sie ist doch noch ein Kind! Sie wusste doch nicht was sie tat!" Eine gute Frau, Jennys Mutter, die immer ein nettes Wort für Anna hatte, wenn sie auf einen Besuch vorbei ging. Sie ahnte nichts von der Katastrophe, die ihr unbekümmertes Töchterchen gerade anrichtete. Es würde sie umso härter treffen und ihr lautes Wehklagen würde endlos zwischen den Wänden der engen Wohnblocks hin und her hallen.

    Anna hatte plötzlich das Gefühl, sie hätte in ihrem Leben alles falsch gemacht. Zum ersten Mal bereute sie, dass sie sich in der Schule nicht mehr angestrengt hatte. Sie würde eine ewige Gefangene in dieser tristen Verliererwelt bleiben. Das alles machte sie so niedergeschlagen und traurig. Sie fühlte sich von Jenny und ihrer sorglosen Dummheit in einen Abgrund gerissen, aus dem es kein Zurück mehr gab.

    Der Knall des Korken schreckte sie aus ihren Träumen auf. Es schäumte aus der schweren Flasche und der Kellner goss den teuren Saft mit einer eleganten Geste in zwei Kelche. Jenny gönnte sich einen kleinen Freudenschrei. Die umstehende Meute in Anzügen und Business-Kostümen schaute amüsiert oder indigniert zu, wie sich die beiden verirrten jungen Frauen zuprosteten. Beide tranken einen Schluck und verzogen das Gesicht ab dem bittersauren Getränk.

    „Wusste gar nicht, dass reich sein so anstrengend ist, sagte Jenny. Sie blickte prüfend auf ihre abgekauten Nägel von denen der Lack abblätterte. „Aber Morgen gehen wir in den Spa und lassen uns so richtig aufpolieren!

    2

    Ein paar Flugstunden weiter westlich, auf der anderen Seite des Atlantiks, stand Oliver Schwab in der Sicherheitsschleuse und liess seinen biometrischen Ausweis vom Sicherheitsbeamten kontrollieren. Der Beamte trug eine paramilitärische Uniform mit Fantasieabzeichen, die ihn so aussehen liessen, als sei er soeben aus einem Kampfeinsatz im Irak zurückgekehrt. Er beherrschte diesen speziellen Blick: eine Mischung aus Langeweile, Aufmerksamkeit und Ungeduld. Zu alledem sass er einen Meter erhöht auf einem Podest, so dass er auf die Besucher hinunterschauen konnte. Oliver hasste das. Er hasste auch, dass sich der Beamte die Zeit nahm, die Sicherheitsprozedur Schritt für Schritt durchzuarbeiten, obschon sie sich schon seit Jahren kannten und obschon Oliver hier der oberste Chef war. Aber so war das nun mal. Der Beamte hatte sich in den Kopf gesetzt, Oliver immer wieder zu beweisen, dass er sich nicht von Rang und Namen beeindrucken liess. Die Vorschriften waren strikte einzuhalten. Schliesslich war das hier eines der grössten und wichtigsten Rechenzentren der Welt. Wenn hier die falschen Leute durchkämen, dann würde das für die ganze Welt böse Folgen haben. Peinlich berührt glaubte Oliver sich zu erinnern, dass er selbst exakt diese pompösen Worte benutzt hatte, als er am Tag der Eröffnung zum Sicherheitsteam gesprochen hatte. Die Botschaft war bei diesem Beamten wohl besser angekommen als erhofft.

    Plötzlich lächelte der Wachmann und drückte den Knopf, der die Schiebetür öffnete. Unter dem Schnauben des pneumatischen Mechanismus wünschten sie sich ein schönes Wochenende. Oliver schritt durch den endlos langen Gang, den der holländische Architekt in einem hypermodernen Stil angelegt hatte. Die silbrige Farbe an den Wänden und der Decke glänzten dermassen, dass der Eindruck entstand, man ginge durch ein verspiegeltes Rohr. Die optische Täuschung liess den Raum ins Unendliche wachsen. Man sollte spüren, wie gross die Anlage war, obschon man vom Gang aus die Rechner gar nicht sehen konnte. Nur an einer einzigen Stelle erlaubte ein Band getönter Glasscheiben den Blick auf eine riesige Halle in der Hunderte von Grossrechnern aufgereiht waren. Mit ihren schwarz-glänzenden Gehäusen sahen sie für Oliver aus wie lange Barren eines geheimnisvollen Edelmetalls, das Ausserirdische hier hatten liegen lassen. Die geniale Optik der Anlage war nötig, denn ausser den Experten, die hier arbeiteten, hatte niemand auch nur einen Schimmer davon, was hinter diesen Mauern eigentlich ablief. Da der Betrieb aber jedes Jahr Hunderte Millionen verschlang, mussten die Gäste aus der obersten Etage der Bank gebührend beeindruckt sein, wenn sie von Oliver hier durchgeführt wurden. Die gelungene Architektur erfüllte diesen Zweck ganz ausgezeichnet.

    Oliver war enorm stolz auf das, was sie hier erreicht hatten. Dadurch, dass es ihm und seinem Team gelungen war, die gesamte Rechenleistung der Bank an einem Ort zu zentralisieren, lief der Betrieb jetzt viel professioneller, sicherer und zuverlässiger ab als vorher. Zudem sparte die Bank jedes Jahr gegen achtzig Millionen an Ausgaben für Rechner und Personal. Vorher waren die Rechenzentren um den ganzen Globus verstreut gewesen: eines in London, eines in Luxemburg, eines nahe Genf. In Singapur und sogar in Sydney hatten sie eines gehabt, weit draussen, versteckt in einem Lagerhaus am Rande einer heruntergekommenen Hafenanlage, die von Immobilienspekulanten noch nicht entdeckt worden war. Die Folge dieser Nicht-Strategie – wie Oliver das nannte – waren unkoordinierte Investitionen und Doppelspurigkeiten zu Hauf. Singapur setzte auf Technologie A, London auf Technologie B. Drei Jahre später war‘s umgekehrt. Alles wurde ständig fortgeworfen und neu gebaut. Dann entwickelte Sydney ein System für den Handel von Währungsoptionen. Nur dumm, dass New York zur gleichen Zeit für viele Millionen ein Programm kaufte, das genau das Gleiche tat. Natürlich war diese Lösung viel besser als jene – oder war es umgekehrt? Je nachdem wem man zuhörte… Diese Streitereien hatten Oliver halb wahnsinnig gemacht. Kein Plan erkennbar! Kein Konzept! Man hätte das Geld auch gleich zum Fenster rauswerfen können!

    Und ständig mangelte es an Fachleuten. Von denen, die man hatte, wusste die Hälfte nicht, was sie tat. An den meisten Orten, wo sich die grossen Banken niedergelassen hatten, gab es so etwas wie IT-Nomaden – eine Gruppe von Pseudoexperten aus aller Herren Länder, die im Jahresrhythmus von einer Bank zur nächsten zogen. Immer schön nachdem sie den Bonus für das abgelaufene Jahr kassiert hatten. Die Banken heuerten sie wider besseren Wissens an, denn das Management in den Zentralen hatte Ziele vorgegeben, die es zu erreichen galt. Zwanzig neue Leute hier, fünfzehn zusätzliche da. Schliesslich wollten die Banken wachsen! Man stand im globalen Wettbewerb. Sollte das Feld etwa kampflos den anderen überlassen werden? Den Amerikanern, den Schweizern, den Briten oder – Gott behüte – gar den Chinesen?

    Wenn man so vorging, funktionierte natürlich nichts. Laufend gab es Pannen. Wenn man zu wenig gute Leute findet und die Technologie ständig wechselt, muss man sich nicht wundern, wenn’s immer mal wieder knallt. Oliver hatte schon lange genug davon. Und dann, vor ein paar Jahren, kam Oliver diese geniale Idee, wie er diese ständigen Ausfälle für seine Pläne nutzbar machen konnte: nämlich durch Visualisierung. Auf der internen Homepage der Bank liess er rechts oben eine kleine Weltkarte anbringen. Auf dieser Karte blinkte jeweils ein roter Punkt an dem Ort, wo gerade eines der lokalen IT-Systeme ausgefallen war. So konnte jeder einzelne Mitarbeiter der Bank jeden Tag live mitverfolgen, was in der IT gerade schief ging. Und bei einer solch komplexen Infrastruktur mit Tausenden von Systemen ging natürlich immer etwas daneben. Die allermeisten Störungen waren zwar unbedeutend und wurden rasch behoben. Aber durch die Visualisierung auf der Homepage entstand ein ganz anderer Eindruck: Die IT war ein verdammter Saftladen, der dringend aufgeräumt werden musste!

    Rückblickend betrachtet war diese einfache Massnahme entscheidend dafür, dass man Oliver endlich ernst nahm. Denn er hatte die Missstände schon lange angeprangert und vergeblich eine neue Strategie propagiert. Er hatte beim höheren Management bei jeder Gelegenheit dafür lobbyiert, die IT endlich zu zentralisieren. Konzentration der Kräfte. Vermeidung von Redundanzen. Synergien. Kurze Entscheidungswege. Klare Verantwortlichkeiten. Kosten senken. Er deponierte diese Schlagworte bei jedem, der in der Bank etwas zu sagen hatte. Aber lange passierte nichts. „Interessant und „ich werde darüber nachdenken war alles, was er zu hören bekam. Die meisten Banker verstanden nichts von IT und beschäftigten sich höchst ungern mit der Materie. Doch die rot leuchtenden Pannenmeldungen liessen sich nicht mehr so einfach ignorieren. Sie waren schlecht fürs Image – und endlich kam Bewegung in die Sache.

    Nicht ohne Widerstände und Kämpfe natürlich. Als Oliver seine Ideen lancierte, war er nur einer von vielen regionalen IT-Managern. Mit der Zeit bekamen seine Kollegen Wind von seinen Plänen, und die meisten von ihnen verstanden sofort, was das bedeutete: das Ende ihrer Karriere! Sie begannen sich lautstark zu wehren. Heftige Diskussionen folgten, die allerdings ganz anders wirkten, als erwünscht. Dass so intensiv gestritten wurde, bewies der obersten Führung, dass an der Sache definitiv was dran war. Nach einer Reihe peinlicher Auftritte regionaler IT-Manager, die sich nicht gewohnt waren, auf den oberen Hierarchiestufen zu argumentieren, setzte sich die Erkenntnis durch, dass man hier tatsächlich ein Problem hatte: nämlich mit Leuten, die ihrer Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen waren. Als dann Olivers Kollege in London umschwenkte und verkündete, die Idee sei im Prinzip ausgezeichnet, aber sie müsse selbstverständlich nicht unter Olivers Führung, sondern unter seiner eigenen umgesetzt werden, waren die Würfel gefallen. Jeder hatte nun verstanden, dass etwas geschehen musste. Olivers Konkurrent, ein magerer Glatzkopf, dessen Stimme gerne ins Weinerliche fiel, wenn er nicht sofort bekam, was er wollte, hatte zwar geholfen, die Bank zu einem Entscheid zu zwingen – den Job, auf den er aspirierte, bekam er allerdings nicht. Viel zu spät war er auf den Zug aufgesprungen. Niemand verband seinen Namen mit dem Projekt. Zwei Wochen später, an einem sonnigen Herbstmorgen, standen plötzlich zwei Sicherheitsbeamte in seinem Glasbüro und baten ihn freundlich aber bestimmt, ihnen zu folgen. Noch während sie ihn hinunter auf die Strasse begleiteten, sprach Oliver oben bereits zu seinen Leuten.

    Schliesslich hatte die Gegenwehr nachgelassen. Die Manager, die Techniker, die Systemprogrammierer, die Datenbankadministratoren – sie alle verliessen die Bank mit einem hübschen Package unter dem Arm. Die, die etwas konnten, fanden rasch wieder einen Job. Unter dem Strich eine win-win Situation für die Meisten. Zwar gab es Unbelehrbare. Aber Oliver liess sich von ihnen nicht aufhalten. Er hatte noch nie verstehen können, wieso es Menschen gab, die sich mit Zähnen und Klauen gegen etwas wehrten, dass sie sowieso nicht verhindern konnten und von dem sie in vielen Fällen sogar profitierten! Oliver setzte sich mitleidlos durch, und nun war EVEREST – so hatten sie das Projekt passenderweise getauft – fertig gebaut. Zwei Jahre harte, herausfordernde Arbeit, die in einem triumphalen Erfolg resultierten!

    Im Aufzug blickte Oliver in den Spiegel und betrachtete sich unter dem fahlen Licht zweier Leuchtstoffröhren: ein Mann, dem man den Erfolg und die Macht ansah! Sauber geschnittenes, grau-meliertes Haar, blaue Augen, die keine Brille benötigten und ein fast perfekter Mund – wenn da nur nicht die leicht hängenden Mundwinkel gewesen wären, die ihn unzufriedener aussehen liessen, als er hätte sein sollen. Sein Blick fuhr weiter nach unten, registrierte zufrieden das kräftige Kinn, übersprang den nicht mehr ganz so straffen Hals, und ruhte dann auf der handgenähten neapolitanischen Krawatte, die er sorgsam zurecht rückte. Auch sein grauer Massanzug sass perfekt. Die Ärmel hatten genau die richtige Länge, so dass am Ende zwei Zentimeter weisse Manschetten hervorschauten. Die Manschettenköpfe waren dezente Exemplare aus Silber, aber nichtsdestotrotz auffällig, da er weit und breit der Einzige war, der solche benutzte. Oliver sammelte Uhren und heute trug er ein besonders schönes Exemplar aus einer Schweizerischen Manufaktur. Weissgold, zwei Zeitzonen, dickes schwarzes Armband aus Echsenleder mit weissgoldener Schnalle. Die Manschette des linken Ärmels war absichtlich zwei Zentimeter weiter geschneidert, damit der Klotz darunter Platz hatte. Halb fünf zeigte die Uhr. Früh für ihn, aber schliesslich hatte er es sich verdient. Er liess die Uhr unter der Manschette verschwinden, während er sich peinlich berührt an eine Begegnung mit seinem Chef, dem Chief Operating Officer der Bank, erinnerte. Anlässlich eines grässlich langweiligen Dinners hatte Oliver ihm nämlich die Uhr und die extra weit geschneiderte Manschette vorgeführt. Er hätte es eigentlich besser wissen müssen, denn sein Vorgesetzter war ein gänzlich unprätentiöser Mann, der wenig Verständnis für solche Eitelkeiten zeigte. Aber Oliver hatte dem Drang nicht widerstehen können. Und so kam es zu dieser Peinlichkeit, die ihm noch immer schwer zu schaffen machte. Nach seiner stolzer Erklärung nämlich, blickte ihn sein Vorgesetzter lange an und sagte dann in einem Anflug tiefer Einsicht: „Jeder muss selber einen Weg finden, um mit seiner Midlife Crisis fertig zu werden. Aber sind Sie sicher, dass Sie noch die richtigen Ziele im Leben haben? Ich mein’s nicht böse. Aber sie haben die letzten zwei Jahre sehr, sehr viel gearbeitet. Vielleicht ist es Zeit, ein wenig Abstand zu gewinnen. Zeit für eine Pause. Gehen Sie in sich, und finden Sie heraus, was Sie im Leben wirklich wollen. Warten Sie damit nicht zu lange!"

    Oliver war wie geschlagen. Solche Rede war bei harmlosen Geschäftsessen nicht vorgesehen. Ausserdem: Woher wusste er es? Er fühlte sich durchschaut, denn trotz des riesigen Erfolgs seines Projekts, spürte er tatsächlich so etwas wie eine persönliche Krise und eine Niedergeschlagenheit, die er längst überwunden zu haben glaubte. Oliver hatte so etwas nicht mehr gespürt, seit er als hochbegabter, aber einsamer Teenager, an depressiven Verstimmungen gelitten hatte.

    Diesmal hatte es ihn nach einer Sitzung des EVEREST-Steuerungsausschusses erwischt. Zwei Jahre zuvor, als sie das Projekt gestartet hatten, war ihnen das Vorhaben gewaltig komplex und riskant erschienen. Entgegen dem, was sie nach aussen beteuerten, waren sie im Team keineswegs sicher, dass sie erfolgreich sein würden. Zeitweise sahen sie nur noch Probleme und unüberwindbare Schwierigkeiten. Aber am letzten Meeting des Steuerungsausschusses, nach über zwanzig Monaten Arbeit, wurde klar, dass sie alle ernsthaften Schwierigkeiten gemeistert hatten. Sie waren auf die Zielgerade eingebogen, wie sie das in ihrem Slang nannten. Man diskutierte zwar noch dieses und jenes Problem, aber plötzlich war allen Teilnehmern bewusst, dass sie nun nichts mehr würde aufhalten können. Sie würden das Ziel erreichen. Sie würden siegen! Für alle wesentlichen Probleme waren Lösungen gefunden. Gegen Ende der Sitzung begannen sich die Manager und Techniker zu entspannen, machten Witze und lachten leise. Man schüttelte Hände und Oliver hörte mehrmals das Wort „Gratulation."

    Nachdem sich die Versammlung spätabends aufgelöst hatte, schlich sich Oliver in eine verlassene Pausenzone, wo er sich am Automaten einen Kaffee rauslassen wollte. Doch er stand nur da und vergass sogar, die Münze einzuwerfen. Stattdessen starrte er durch ein grosses Fenster nach draussen in die Dunkelheit. Ein müdes Gesicht spiegelte sich im Glas. Er vergass die Zeit und wusste schliesslich nicht mehr, wie lange er dort gestanden hatte. Aus dem Nichts hatte ihn ein Gefühl tiefer Schwermut erfasst. Er versuchte das Gefühl zu verscheuchen, aber es verging viel Zeit bis er wieder klar denken konnte und bis er verstand, was die Ursache seines Anfalls war. Dabei war die Sache klar: Er hatte von jetzt an kein Ziel mehr. Keinen Grund mehr, jeden Morgen mit Energie aufzustehen und zwölf, vierzehn oder sechzehn Stunden hart zu arbeiten. Die Sache war gelaufen. Es brauchte ihn nicht mehr. Dieser Gedanke, den er bis jetzt immer verdrängt hatte, stieg diesmal unbezähmbar in ihm hoch. Er war auf dem Gipfel angekommen. Oder genauer: Er sah den Gipfel vor sich, das Wetter war gut, der Weg klar und nichts konnte ihn daran hindern oben anzukommen. Aber was kam danach? Er sah keinen Weg, der ihn noch weiter nach oben führen würde. Von nun an ginge es nur noch hinunter. Der Sinkflug seiner Karriere würde bald beginnen. Dafür war er jedoch in keiner Weise bereit! Er fühlte sich stark und voller Energie – sein Aufstieg konnte und durfte noch nicht zu Ende sein! Er versuchte an etwas anderes zu denken, aber es misslang. Oliver fluchte über sich selber. Er glaubte, der einzige Mensch auf der Erde zu sein, der in der Lage war, an einer Art antizipierter postkoitaler Depression zu leiden. Er hätte damit wenigstens warten können, bis das Ziel tatsächlich erreicht war und EVEREST den Betrieb aufgenommen hatte. Und das Allerschlimmste war, dass sein Chef seine Gefühlswallungen offenbar mitbekommen hatte. Es gab wenig, das er mehr hasste, als wenn andere Menschen seine Schwächen durchschauten!

    Endlich war der Aufzug oben angekommen. Mit raschen Schritten durchquerte Oliver die grosse Eingangshalle.

    Draussen blinzelte er in das grelle Licht der Abendsonne und ignorierte die eisige Kälte, die den kommenden Winter ankündigte. Als er zu seinem Auto lief, blickte er kurz zurück und sah wie sich die letzten Strahlen der Sonne in der spektakulären Glasfassade des Rechenzentrums reflektierten. Das Gebäude sah aus wie ein gewaltig grosser Bergkristall, den ein gigantischer Gletscher vor einer Million Jahren hier abgelegt hatte. Auch das ein Meisterstück des Architekten, das Sicherheit und Beständigkeit suggerierte. Wieder fühlte er sich stolz wie ein kleiner Junge – doch als er sich von der grossartigen Kulisse abwandte, kippte seine Stimmung zurück ins Negative. Auf der anderen Seite, am entfernten Ende des Parkfeldes, sah er ein schändlich verwahrlostes Auto stehen, dass sein Besitzer bestimmt nur zum Zweck dahin gestellt hatte, ihn zu ärgern. Die rostbraune Klapperkiste gehörte Moses Finkelstein. Ausgerechnet Moses, dachte Oliver. Vor dem Wochenende! Das Bild eines zornigen alten Mannes stieg vor ihm auf, eines Mannes, der aussah wie Gott Vater auf einem spanischen Barockgemälde. Silbrig-graue Löwenmähne, weisser Bart, kräftige Schultern und eine aufrechte Haltung, die sein Alter leugnete. Der Name Moses beschrieb ihn ziemlich treffend. In der Bank war er eine Legende, ein Mann, der ein Jahrzehnt lang die Gesetze der IT diktiert hatte. Er war der Architekt der Kernsysteme, auf denen die wichtigsten Geschäfte der Bank abgewickelt wurden. Moses hatte festgelegt, auf welchen Maschinen welche Programme liefen, wo die Schnittstellen lagen, welche Datenbanken zu verwenden waren und wie die Systeme miteinander zu kommunizieren hatten. Er wachte darüber, dass die Programmierer keine Abkürzungen wählten, die zwar schnell realisierbar waren, dafür aber später zu Problemen in der Wartung führen würden. Er wurde bewundert und gefürchtet. Seine Urteile waren von schneidender Präzision, und er fällte sie ohne Rücksicht auf die Befindlichkeit einzelner, wo auch immer diese auf der Hierarchieleiter stehen mochten. Doch Moses‘ beste Zeiten lagen weit hinter ihm. Als die Bank beschloss zu expandieren und damit begann, auf der ganzen Welt andere Banken aufzukaufen, verlor er immer mehr an Einfluss. Die IT-Systeme der gekauften Banken mussten übernommen werden – typischerweise unter grösstem Zeitdruck. Ob dabei alles bis ins letzte Detail durchdacht wurde, war dabei nebensächlich. Aber Moses wollte die geforderten Kompromisse nicht eingehen. Man machte es entweder richtig oder gar nicht. Er warnte, er verhinderte und er verzögerte. Man schätzte zwar die Qualität seiner Arbeit, aber wenn Moses das Sagen hatte, schien alles plötzlich in einem Morast von Details festzustecken. Nichts ging vorwärts. Und plötzlich hiess es überall: „Der Mann hat keine Visionen! Es fehlt die Perspektive!"

    Damit war er erledigt. Die Bank war ehrgeizig und wollte wachsen. Dabei waren Leute mit der falschen Perspektive nicht zu gebrauchen. Moses kam aufs Abstellgleis. Andere wurden befördert, zuerst auf die gleiche Stufe, dann überholten sie ihn. Moses hielt sich zurück, schaute nach seinem eigenen kleinen Reich und liess die anderen machen. Das Kämpfen lag ihm nicht besonders, obschon seine Löwenmähne und sein gelegentlich zorniger Blick etwas anderes suggerierten.

    Erst als Oliver damit begann, dafür zu werben, die ganze IT zu zentralisieren, stand Moses – für alle überraschend – plötzlich auf und protestierte. Er liess es nicht an Klarheit fehlen. Er sprach von Wahn und von einem Monster, das man hier bauen würde. Alles schön und gut, solange die Dinge liefen wie geplant, aber wehe, es ginge mal etwas schief! Kein Mensch würde mehr verstehen, was hier eigentlich ablief. Hunderttausende Programme würden sich die Hardware teilen und die Programme hätten Zehntausende von Abhängigkeiten untereinander. Wo sollte man eingreifen, falls es ein Problem gäbe? Man würde hier an einer Schraube drehen und drüben würde es krachen. Niemand würde das Gesamte verstehen, niemand würde die Bestie noch zähmen können.

    In zahllosen Sitzungen versuchte Oliver Moses geduldig zu bearbeiten und seinen Widerstand sanft zu brechen. Für ihn war Moses schlicht ein Ungläubiger, den es mit positiven Botschaften zu bekehren galt. Er hatte nur das Licht noch nicht gesehen! Denn Oliver sah nicht nur das finanzielle Potential und den Schub für die eigene Karriere, nein, er glaubte wirklich daran, dass das neue zentrale Rechenzentrum sicherer, besser und zuverlässiger sein würde, als alles was sie vorher hatten.

    „Moses, hör zu! Da wird nichts passieren! Alles ist doppelt und dreifach ausgelegt. Die neuste und beste Technologie. Die besten Leute. Genug Geld. Da kannst du eine Bombe drauf werfen und das Ding wird fröhlich weiter drehen!"

    Doch Moses blieb unbeeindruckt. Oliver begann zornig zu werden. Manchmal hatte er das Gefühl, Moses ginge es gar nicht mehr um die Sache. Der grosse, überlegene Moses bewies sich, indem er der Mode nicht folgte. Er wollte der ganzen Welt zeigen, dass er resistent gegen den Trend war. Und mit der Zeit setzte sich diese Sicht auf Moses Wesen durch. Kollegen in seinem direkten Umfeld rieten ihm, es auch einmal gut sein zu lassen. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold." Aber es nützte nichts. Also befahl man ihm die Klappe zu halten. Moses jedoch weigerte sich und mobilisierte seine Beziehungen aus den Tagen, als die Bank noch viel kleiner war und beinahe jeder jeden kannte. Seine Freunde versuchten zu vermitteln, einen Kompromiss zu finden. Aber den konnte es natürlich nicht geben. Entweder dezentral oder zentral. Eine Mischung war das schlechteste aus beiden

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