Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Dem Leben dienen: Die neue Menschheitskultur
Dem Leben dienen: Die neue Menschheitskultur
Dem Leben dienen: Die neue Menschheitskultur
eBook316 Seiten3 Stunden

Dem Leben dienen: Die neue Menschheitskultur

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die globale Lebenskrise unserer Zeit hat alle Lebensbereiche erfasst und markiert einen epochalen Wandel der Menschheitsgeschichte. Es genügt heute nicht mehr, Appelle an die Mächtigen in Politik und Wirtschaft zu richten, um Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung anzumahnen. Als arbeitende und konsumierende Mitglieder in der heutigen Wirtschaft und Gesellschaft sind wir selbst betroffen von der Krise und Krankheit unserer Zeit des materialistischen Fortschritts.
Die elementare Mystik und Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben", die Albert Schweitzer formuliert und praktisch vorgelebt hat, eröffnet uns eine neue geistige Richtung und praktische Wege, wie wir dem Leben von Mensch und Schöpfung zur Gesundung dienen können.
Eine neue, fruchtbare Menschheitskultur wird nur aus diesem allseitigen Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung hervorgehen können. Auf diesem Weg wird die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Kultur ihre gegenwärtige Pubertätskrise überwinden und sich zur Vollgestalt menschlicher Reife im Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung entwickeln können.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Nov. 2015
ISBN9783738049060
Dem Leben dienen: Die neue Menschheitskultur

Ähnlich wie Dem Leben dienen

Ähnliche E-Books

Religiöse Essays & Ethik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Dem Leben dienen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Dem Leben dienen - Peter Spönlein

    Vorwort

    Dem Andenken an

    Brunhilde Borchers

    gewidmet, die das Werden dieses Buches

    mit warmherziger Anteilnahme

    begleitet hat

    Der Rowohlt-Verlag hat mir empfohlen,

    mein Buch bei Neobooks ins Internet zu stellen.

    Dipl. Theol. Peter Spönlein

    Bürgerwehrstraße 1

    79183 Waldkirch

    07681 490749

    Gedicht

    Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken

    und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen

    missbrauchen. Aber bei euch soll es nicht so sein,

    sondern wer bei euch groß sein will,

    der soll euer Diener sein.

    Jesus (Markus, 10.42f)

    Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf,

    sondern zum Leben!

    Dietrich Bonhoeffer

    Was ist die Alternative zu Krieg und automatisiertem Leben?

    Der Mensch muß die Entfremdung überwinden,

    er muß sein Selbstgefühl zurückgewinnen,

    er muß zur Liebe fähig werden

    und seine Arbeit zu einer sinnvollen,

    konkreten Tätigkeit machen.

    Erich Fromm

    Die Gewaltlosigkeit kann man nicht

    auf eine Industriezivilisation gründen,

    wohl aber auf selbst verwaltete Dörfer.

    Mahatma Gandhi

    Nur das Denken, das die Gesinnung der Ehrfurcht

    vor dem Leben zur Macht bringt, ist fähig,

    den ewigen Frieden heraufzuführen.

    Albert Schweitzer

    Die globale Lebenskrise unserer Zeit umfaßt weltweit alle Lebensbereiche und markiert einen epochalen Wandel der Menschheitsgeschichte. Es genügt darum nicht, daß wir lediglich Appelle an die Mächtigen in Politik und Wirtschaft richten, um Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung anzumahnen. Es wird heute notwendig, die absolute Problemlösungsfähigkeit der Institutionen unserer modernen Zivilisation in Frage zu stellen und konkrete Alternativen zu benennen, die wir aus eigener Initiative selbst verwirklichen können und die der Heilung von Mensch und Schöpfung dienen.

    Seit Jahrzehnten wird von weitsichtigen Menschen aus unterschiedlichen geistigen Richtungen eine kopernikanische Wende in Ökonomie und Politik angemahnt. Aber sie findet nicht statt, weil die notwendige Korrektur mit den Machtinteressen von Technologie, Ökonomie und Politik nicht vereinbar ist. Die Macht des Kapitalismus und seiner Finanzmärkte sowie der Klimawandel lassen sich nur im globalen Einverständnis aller Nationen unter Kontrolle bringen. Für die soziale Gerechtigkeit und für den Frieden gilt dasselbe wie für die Ökologie: Derartige Ziele können nicht aus dem Kalkül politischer oder ökonomischer Interessen, sondern nur aus einer ethischen Gesinnung verwirklicht werden.

    Aber diese sucht man überall dort vergebens, wo Machtinteressen im Spiele sind. Der christliche Theologe und Tropenarzt Albert Schweitzer (1875 – 1965) beschließt sein Werk Kultur und Ethik (1923) mit den Worten: „Regeln über Friedensschlüsse, mögen sie noch so gut gemeint und noch so gut formuliert sein, vermögen nichts. Nur das Denken, das die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben zur Macht bringt, ist fähig, den ewigen Frieden heraufzuführen. Die Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben enthält die beiden Pole christlicher Spiritualität, die Hingabe an das göttliche Geheimnis allen Lebens und die Liebe zum Nächsten, die Albert Schweitzer auf alle Geschöpfe ausdehnt und die im praktischen Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung verwirklicht wird. Ohne die Aktualisierung dieses elementaren religiösen Geistes, so Albert Schweitzer, ist in unserer Zeit kein Frieden möglich, weder im sozialen, noch im politischen Bereich, noch im Verhältnis der Menschen zur Natur.

    Aus dieser Aktualisierung der Mystik und Ethik erwächst ein unerschöpfliches Potential für eine aktive und kreative Neugestaltung aller Lebensbereiche zu einer neuen globalen Kultur aus der Spiritualität der „Ehrfurcht vor dem Leben. Für diese Erneuerung erlebt der einzelne Mensch, der wach geworden ist für die Geschehnisse unserer Zeit, einen unmittelbaren Gestaltungswillen und eine Verantwortung, die nicht an Politiker delegiert werden kann. Denn die Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben drängt uns bereits jetzt, zu einem Zeitpunkt, da es noch keine politischen Lösungen für die gegenwärtige globale Lebenskrise gibt, uns in den Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung zu stellen. Aber welcher praktische Weg der Erneuerung eröffnet sich, und was können wir aus eigener Initiative konkret tun? Das ist die Frage, der ich in diesem Buch nachgehen möchte. Ich sehe vor allem drei Schritte, mit denen wir, Menschen wie du und ich, einen Weg der Erneuerung aus dem Geist der „Ehrfurcht vor dem Leben" beginnen können:

     Die Zeichen der Zeit

    Zunächst geht es darum, die besondere Eigenart der Krise zu erkennen, in der sich die Menschheitsentwicklung gegenwärtig befindet und an der wir als einzelne Menschen mit beteiligt sind. Erst wenn wir verstehen, welcher epochale Wandel sich in unserer Zeit vollziehen will, können wir auch die besondere Aufgabe, Herausforderung und Chance wahrnehmen, die dieser Wandel für die Entwicklung der Menschheit und für uns als einzelne Menschen bedeutet. Daraus lassen sich dann auch die Wesenszüge des neuen Geistes erkennen, von dem eine Erneuerung aller Lebensbereiche ausgehen kann.

     Gesund werden

    Unsere gesamte technokratische Zivilisation leidet an einer fortschreitenden Entfremdung vom Leben, von der wir als einzelne Menschen zwangsläufig mit betroffen sind. Der Weg der Heilung besteht darin, den Anschluß ans Leben neu zu finden, indem wir uns bewußt einüben in die vier elementaren Beziehungen menschlichen Lebens: In die Beziehung zur Schöpfung, zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen als Brüder und Schwestern und zum göttlichen Geheimnis allen Lebens. Darin besteht zugleich die Einübung in den neuen Geist der „Ehrfurcht vor dem Leben, den Albert Schweitzer formuliert hat. Nur die Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben erfüllt den ganzheitlichen, ökumenischen und interreligiösen, den sozialen, ökonomischen und politischen Anspruch, aus dem eine neue menschliche Kultur geboren werden kann.

     In Gemeinschaft leben

    Aus dieser Einübung in den neuen Geist einer neuen Epoche kann die Initiative entstehen, neuartige gemeinschaftliche Lebensformen zu bilden, selbst verwaltete Gemeinwesen als Werkstätten, in denen die Kunst des Lebens und des Friedens gelernt werden kann, während heute noch überall auf dieser Erde in Kasernen und auf Schlachtfeldern der Haß, die Feindschaft, das Töten und der Krieg geübt wird. Die tiefe soziale, ökologische, ökonomische und politische Krise der alten Nationalstaaten und die weltweite Flüchtlingsproblematik sind Phänomene eines umfassenden globalen Zerfalls der alten nationalen Völkerschaften und ihrer traditionellen Lebensformen. Nur in kleinen, selbständigen und selbst verwalteten Gemeinwesen wird es möglich sein, daß gleichberechtigte Mitglieder in gemeinsamer Verantwortung alle Bereiche des Lebens, das Arbeiten und Wirtschaften ebenso wie die Erziehung und Bildung und das soziale und kulturelle Leben aus dem Geist der „Ehrfurcht vor dem Leben" neu gestalten können. Solche neuen Lebensformen können zur sozialen Grundlage werden für die Entstehung einer neuen Ordnung der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung.

    Die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung der umfassenden globalen Lebenskrise der Gegenwart und die Frage nach der Aufgabe, die uns darin zukommt, werden wir erst dann recht beantworten können, wenn wir diese Krise als Geburtswehen einer neuen Zeit und einer neuen Menschheitskultur verstehen und durchstehen: Heute ist die Zeit, in der etwas Altes zu Ende geht und etwas Neues geboren werden will. Durch bloße Reformen am Alten wird es jedoch nicht zum Leben kommen können. Die gegenwärtige globale Lebenskrise hat darum den Sinn, auf allen Gebieten des Lebens unsere persönlichen kreativen, geistigen und ethischen Kräfte, unseren Glauben und unseren Mut herauszufordern, um soweit es uns möglich ist in ersten Schritten die Vision von einer neuen Kultur aus der Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben" zu verwirklichen.

    Ich würde mich freuen, wenn diese Schrift einen Anstoß geben könnte, um zum Gespräch zu ermuntern über das Neue, das heute und künftig von uns getan werden kann. –

    Peter Spönlein

    Waldkirch, Juni 2015

    Teil I

    Die Zeichen der Zeit

    Krise und Erneuerung

    Im vergangenen Jahrhundert ereigneten sich zwei epochale Entdeckungen, die in ihrer Gegensätzlichkeit sehr genau die geistige Krise unserer modernen Zivilisation kennzeichnen und zugleich ihre Lösung andeuten und einen Weg der Erneuerung eröffnen: Es ist einerseits die Entdeckung der Atomenergie und die Erfindung der Atombombe und andererseits die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Ökologie. Einerseits werden wir mit der Tatsache konfrontiert, daß die technische Autonomie des Menschen und seine Beherrschung der Natur imstande ist und darauf abzielt, alles Leben auf dieser Erde zu vernichten. Andererseits eröffnet die Einsicht in die ökologischen Gesetzmäßigkeiten, Beziehungen und Zusammenhänge in der Natur uns Menschen die reale Möglichkeit, diese Erde in ein Paradies zu verwandeln und eine globale Lebensordnung des Friedens und der Freundschaft zu verwirklichen mit allem, was lebt.

    Im Jahr 1972 ist die denkwürdige Studie des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums" der Weltöffentlichkeit vorgestellt worden. Das Erscheinen dieser Studie markiert ein entscheidendes Datum in der Geistesentwicklung der Moderne. Zum ersten Mal werden Grenzen des techno-ökonomischen Fortschrittes sichtbar, jenseits derer dieser bisher so stolze Fortschritt in eine Katastrophe globalen Ausmaßes umzukippen droht. Was die Thesen dieser Studie so provokant macht, ist nicht so sehr der Appell an die Betreiber des Fortschrittes, ihre ehrgeizigen Programme herunterzufahren oder gar zu stoppen. Die Provokation und das Ärgernis der Grenzen des Wachstums liegt vielmehr in der Tatsache, daß nun der materialistische Fortschritt, der ja die Natur überwinden, besiegen und beherrschen wollte, offensichtlich eben gerade in dieser Natur einem völlig andersartigen geistigen System begegnet, das nun allen technischen und wirtschaftlichen Berechnungen zuwider läuft, ihnen die Stirn bietet, sie grundsätzlich in Frage stellt und ihnen überlegen ist.

    Die Besonderheit des geistigen Systems der Natur besteht gerade darin, daß es das Wachstum der einzelnen Lebewesen durch die allseitige gegenseitige Ergänzung aller Organismen überwindet, und sich auf diesem Wege zu einem hoch komplexen System entwickelt, in dem jedem Organismus und jedem Element gleiche Bedeutung zukommt: Der Regenwurm ist ebenso wichtig wie der Elefant, das Gras genauso wichtig wie die Vögel, und das Wasser ist so wichtig wie die Erde. Durch diese Merkmale der sozialen Gleichheit und der Überwindung des Wachstums durch allseitige Ergänzung erwirbt die Natur die Fähigkeit, allen Lebewesen gerecht zu werden, sich stets zu erneuern und unsterblich zu bleiben.

    Im modernen techno-ökonomischen System der Menschheit ist stetiges Wachstum von Wettbewerb, Produktion und Gewinn das oberste Ziel. Allseitige Ergänzung wird auf diesem Wege ausgeschaltet und unmöglich gemacht. Es gibt nur noch Gewinner und Verlierer. Der Arbeitsmarkt und der Verkauf von Gütern schafft nur eine scheinbare soziale Ergänzung; denn es wird nicht produziert, was zum Leben notwendig ist, sondern was sich verkaufen läßt. Sowohl die arbeitenden Menschen als auch der Handel dienen letztlich nicht dem Wohle aller, sondern begünstigen nur die wachsende Bereicherung und Macht der Reichen und den Nebeneffekt, die Natur zu zerstören, von und mit der wir leben. Die weltweite soziale Ungleichheit zwischen arm und reich ist geradezu das auffallendste Merkmal unserer menschlichen Gesellschaft, die in dem Maße ihrem eigenen Untergang zusteuert, wie sie auf ihren tödlichen Prinzipien weiterhin unbeirrt beharrt. Die Menschheit wird heute mit der schwer erträglichen Tatsache konfrontiert, daß das biologische, ökonomische und soziale System der Natur offensichtlich weitaus genialer ist als das menschliche System der modernen Zivilisation. In der Evolution des Lebens herrscht auch, wie wir heute wissen, keineswegs primär und ausschließlich ein „Kampf ums Dasein, den Charles Darwin (1809-1882) noch als Antriebsenergie in der Entwicklung der Natur angenommen hat und den sich die moderne Zivilisation offenbar zu ihrem Leitmotiv erwählt hat. Joachim Bauer, Professor für Medizin und Psychiatrie in Freiburg, hat dargelegt, daß der Mensch aufgrund seiner genetischen, neurobiologischen und psychischen Konstitution von Natur aus auf Kooperation angelegt ist und eben gerade nicht auf einen „Kampf ums Dasein.

    Durch die Einsichten in die globalen Reaktionen der Natur auf den ehrgeizigen menschlichen Plan unbegrenzten materiellen Fortschrittes ist dieses gesamte Projekt nun innerhalb weniger Jahrzehnte fragwürdig geworden. Wie schwer seinen wirtschaftlichen und politischen Betreibern die Konfrontation mit dieser Tatsache fällt, zeigt die Zähigkeit der Verhandlungen etwa im Prozeß der Weltklima-Konferenzen oder der Hilfe für die armen Länder der Erde. Man kann heute schon sagen: Der ehrgeizige Traum vom endlosen materiellen Fortschritt ist ausgeträumt. Er ist bereits gescheitert durch die globalen Probleme, die er ausgelöst hat: Die noch immer zunehmende Gefährdung des Friedens, die immer schärfere soziale Spaltung der Menschheit in arm und reich und die massive Störung des globalen ökologischen Gleichgewichtes.

    Bei uns im Abendland war der christliche Theologe und Tropenarzt Albert Schweitzer (1875-1965) im vergangenen Jahrhundert wohl die durch ihre Glaubwürdigkeit prominenteste Persönlichkeit, welche die umfassende geistige, moralische und existentielle Gefährdung der Menschheit am deutlichsten wahrgenommen und zur Sprache gebracht hat. Für ihn fand diese Gefährdung ihren mächtigsten Ausdruck im militärischen Einsatz der Atomenergie. Albert Schweitzer nahm öffentlich Stellung gegen die Anwendung der Atombombe und gegen die Kernwaffenversuche Den einzig möglichen Ausweg aus der Gefahr sieht er in der Praxis der „Ehrfurcht vor dem Leben. Auch wenn ihm die Erkenntnisse über die ökologische Struktur allen Lebens damals noch nicht zugänglich waren, so hat er doch die ganze Spannung der beiden extremen geistigen Pole des 20. Jahrhunderts wahrgenommen und in sich ausgetragen: Auf der einen Seite die reale technische Möglichkeit der Vernichtung allen Lebens auf dieser Erde und auf der anderen Seite der einzig mögliche Ausweg aus dieser Gefahr durch das geistig-ethische Prinzip der Anteilnahme, der Einfühlung in anderes Leben, das Prinzip der Solidarität, der allseitigen Ergänzung und Mitverantwortung und der tätigen Hilfe aus praktizierter Ehrfurcht gegenüber allem Leben: „Die unmittelbarste und umfassendste Tatsache des Bewußtseins lautet: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. ... Ethik besteht also darin, daß ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. ... Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen. „In der Hauptsache gebietet die Ehrfurcht vor dem Leben dasselbe wie der ethische Grundsatz der Liebe. Nur trägt die Ehrfurcht vor dem Leben die Begründung des Gebotes der Liebe in sich und verlangt Mitleid mit aller Kreatur. „Dem wahrhaft ethischen Menschen ist alles Leben heilig. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe, sie ist die als denknotwendig erkannte Ethik Jesu.

    In der „Ehrfurcht vor dem Leben aktualisiert Albert Schweitzer den zentralen Inhalt christlicher Spiritualität, die Gottes- und Nächstenliebe, für unsere Zeit. Diese beiden christlichen Gebote waren zwar bereits in den Zehn Geboten des Mose enthalten, wurden aber von Jesus als die beiden höchsten und wichtigsten Gebote in die Mitte menschlichen Lebens gestellt. So wie die christliche Spiritualität die beiden Pole der Mystik und Ethik, der Hingabe an Gott und der tätigen Liebe zum Mitmenschen enthält, so auch die „Ehrfurcht vor dem Leben. Albert Schweitzer sieht allerdings die Nächstenliebe nicht auf den Menschen beschränkt, sondern weitet sie aus auf alle Geschöpfe dieser Erde, auch auf die Tiere und Pflanzen, mit denen wir Menschen eine große Lebensgemeinschaft bilden. Albert Schweitzer ist zutiefst davon überzeugt, daß eine neue globale Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit nur auf dieser geistigen Grundlage der Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben" verwirklicht werden kann.

    Ein nüchterner Blick auf den humanen, sozialen und ökologischen Notstand unserer modernen Zivilisation und auf die politischen Spannungen und Krisen in der Welt läßt begründete Zweifel aufkommen, ob sich der ethische Anspruch der „Ehrfurcht vor dem Leben innerhalb der gegebenen Lebensverhältnisse verwirklichen läßt. Außerdem ist die Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit bis heute noch nicht aus der Welt geschafft. Wir müssen uns deshalb heute eine entscheidende Frage stellen, – und wenn ich „wir sage, so meine ich damit keine anonyme Instanz wie Ökonomie, Politik oder Gesellschaft, sondern ich meine Menschen wie du und ich. Die Frage lautet: Auf welchem Weg können wir die religiöse Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben" zum praktischen Anfang einer neuen menschlichen Kultur werden lassen, die künftig allem Leben dieser Erde eine Heimat bieten kann?

    Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, werfen wir zunächst einen Blick auf die Problematik unserer Zeit, um den geistigen und historischen Standort auszumachen, an dem wir heute stehen. Erst von hier aus läßt sich dann die neue Richtung und schließlich auch der Weg erkennen, den wir künftig einschlagen können, um uns auf dieser Erde einer praktischen Lebensform der „Ehrfurcht vor dem Leben, des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung schrittweise anzunähern. Die beiden folgenden Abschnitte über die sogenannte „Globalisierung und die „Risikogesellschaft" erheben nicht den Anspruch einer vollständigen Analyse. Sie wollen lediglich einige Fakten in Erinnerung rufen, welche die Tatsache beleuchten, daß die gegenwärtige Entwicklung der Menschheit, die von Vertretern der Wissenschaft, Technologie, Ökonomie und Politik als segensreicher Fortschritt gepriesen wird, in Wirklichkeit hinter ihrer glänzenden Fassade einen rasanten Fortschritt der Not, des Elends, des Zerfalls und der Zerstörung in allen Bereichen des Lebens auf dieser Erde erzeugt.

    Die heutige Epoche der sogenannten „Globalisierung"

    Wenden wir uns zunächst dem Phänomen der sogenannten „Globalisierung" zu. Die historischen Wurzeln der Globalisierung reichen zurück bis in die Zeit der Kolonialisierung im 19. Jh. In gewissem Sinne ist das, was wir heute Globalisierung nennen, lediglich eine Weiterentwicklung der Kolonialisierung: Denn selbst wenn die Entwicklungsländer inzwischen politische Unabhängigkeit erreicht haben, so werden sie durch die großen Industrienationen und die Mechanismen des Welthandels doch immer noch ausgebeutet und in ihrer eigenen wirtschaftlichen Selbständigkeit behindert. Gleichzeitig wächst aber auch in den Industrienationen die soziale Not durch eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft zwischen arm und reich.

    Die rasante wirtschaftliche Expansion hat seit dem zweiten Weltkrieg dazu geführt, daß die großen Industrienationen ihre Märkte über den ganzen Globus ausgeweitet haben. Immer mehr Firmen gehen dazu über, Teile ihrer Produktion in sogenannte Billiglohnländer zu verlegen, was einen wachsenden Druck auf das Lohnniveau im Mutterland zur Folge hat. Dadurch wird der internationale Wettbewerb gewaltig angeheizt. Dieser verschärfte Wettbewerb hat wiederum zur Folge, daß Unternehmen zunehmend große Zusammenschlüsse bilden, um auf dem Weltmarkt besser bestehen zu können.

    Dadurch erhalten derartige Zusammenschlüsse eine enorme Wirtschaftsmacht, die nicht nur den Markt beherrscht, sondern auch zunehmend die Politik und die sozialen Verhältnisse. Verstärkte Rationalisierung und Automatisierung erlauben es, Arbeitsplätze zu streichen, um billiger produzieren zu können. Einen entscheidenden Schub erhielt diese Entwicklung durch die stürmischen Innovationen auf dem Gebiet der Informationstechnologie.

    Mit ihrer Hilfe ist es nun möglich geworden, ein internationales Netz von assoziierten Firmen von einem Zentrum aus spielend leicht zu dirigieren. Die großen Firmenzusammenschlüsse wurden schließlich mit ihren Riesengewinnen zu Wertmaßstäben an den Börsen. Der Einzug der Informationstechnologie an den internationalen Börsen und Finanzmärkten hat es ermöglicht, daß nun ein global vernetztes ökonomisches Machtimperium entstanden ist, das in der Lage ist, die ganze Welt zu regieren und in ein einziges globales Dorf zu verwandeln.

    Damit einher geht nun auch der Anspruch der Wirtschaft, alle Lebensbereiche dem ökonomischen Prinzip zu unterwerfen und damit das traditionelle Verständnis von Demokratie zu untergraben. In seinem Buch Die Machtwirtschaft schreibt Christian Nürnberger: „Den Sinn allen Wirtschaftens in höheren Dividenden und Aktienkursen aufgehen zu lassen, schon das allein ist inakzeptabel für eine Gesellschaft, die sich laut Verfassung als soziale Demokratie versteht. Vollends unzumutbar für demokratische Gesellschaften ist das Bestreben der Shareholder-value-Verfechter, ihre ökonomische Sichtweise auf andere gesellschaftliche Bereiche auszuweiten und zu verlangen, die Politik, das Bildungswesen, die Wissenschaft, der Sport, die Medien und sogar die Kultur hätten sich um der internationalen Wettbewerbsfähigkeit willen ökonomischen Prinzipien zu unterwerfen. Das wird zwar so von

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1