Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Rache der Wölfe
Die Rache der Wölfe
Die Rache der Wölfe
eBook1.180 Seiten16 Stunden

Die Rache der Wölfe

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im County Donegal, der nordwestlichsten Grafschaft Irlands bekommt es die Polizei mit einer mysteriösen und beispiellosen Mordserie, die durch erstaunliche Besonderheiten und Gemeinsamkeiten auffällt, zu tun. Die Garda des Co. Donegal steht vor einem Rätsel. Was war der Auslöser dieser Mordserie? Detective Chief Inspector Sean Scott aus Dublin wird vom jungen Staatsanwalt Julian McDermott, der in dem medienträchtigen Fall gute persönliche Aufstiegschancen sieht, beauftragt, die Polizisten vor Ort zu unterstützen.
Im Verlauf der polizeilichen Ermittlungen verquicken sich die Schicksale zweier Menschen, die sich niemals in ihrem Leben begegnen werden und deren Charaktere unterschiedlicher nicht sein könnten, auf grausame Art und Weise.
Conor McGinley wurde von der Regierung beauftragt, auf dem Gebiet des Glenveagh – Nationalparks, einer einsamen Region der Grafschaft Donegal eine Wolfszucht aufzubauen. Ziel des ehrgeizigen Projektes ist die Wiederansiedlung dieser edlen Tiere in freier Wildbahn. Aus Angst davor, dass die Wölfe ihre Schafe reißen könnten, begegnen Conor die heimischen Schaffarmer mit Misstrauen und Hass.
Victor Vaughan ist durch seine Mutter wohlbehütet aufgewachsen. Sein Vater hatte die Familie früh verlassen. Victor hat sich bei der Bank of Ireland zu einem renommierten Vermögensberater empor gearbeitet. Im Zuge seiner Arbeit lernt er die smarte Meggan Lynskey kennen und lieben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. März 2014
ISBN9783847680345
Die Rache der Wölfe

Ähnlich wie Die Rache der Wölfe

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Rache der Wölfe

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Rache der Wölfe - Gerd Albers

    Hinweis

    Glenveagh Nationalpark:

    Coverkonzept:

    gerd albers

    Graphische Umsetzung des Covers:

    Das WerbehausLtd.

    55606 Kirn

    daswerbehaus.de

    Der Autor: „Dia duit!" (Hallo!)

    By the way,

    my ever blooming heather

    Kapitel I Prolog

    Schon von weitem sah er das gelb-blau-weiße Absperrband mit der Aufschrift „Garda – Line", das vom morgendlichen Sturm in weitem Bogen von den Befestigungspfosten weggeweht wurde und mit lautem Getöse, das sich anhörte wie das Geschnatter von hundert Gänsen während der Fütterung, vor sich hin flatterte.

    Liam Hutton war Chief Inspector und Leiter der Garda Letterkenny, den aber alle Kollegen kurz und knapp „Chief Hutton oder nur „Chief nannten. Vor drei Jahren hatte er sich aus Tipperary nach hier oben in die nord-westlichste Grafschaft Irlands, dem County Donegal versetzen lassen, nachdem seine Frau Kathleen herausgefunden hatte, dass er seit einigen Monaten eine Beziehung zu seiner Kollegin Elaine Hynes unterhielt.

    Doch sie hatten sich ausgesprochen und suchten hier oben einen Neuanfang. Liam und Kathleen Hutton hatten zwei Kinder im Alter von nunmehr zehn und dreizehn Jahren, die natürlich nicht begeistert waren vom Umzug in den hohen Norden. Schließlich ließen sie alle Freunde, ja ihr ganzes altes Leben zurück. Außerdem scheuten sie die Umstellung in einer neuen Schule mit all ihren Problemen und Eingewöhnungsschwierigkeiten. Aber schließlich erklärten ihnen die Eltern den Umzug mit den besseren beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten ihres Vaters in Donegal. Die wahren Hintergründe für den Umzug in den Nordwesten Irlands hatten die Kinder gottlob nie mitbekommen.

    Liam war neununddreißig Jahre alt, 1,85 Meter groß und schlank und hatte einen durchtrainierten Körper. Dreimal die Woche joggte er immer die gleiche zehn Meilen-Strecke am Lough Swilly entlang. Darüber hinaus ging er wöchentlich einmal ins Gym. Für ihn war es wichtig, als Polizeibeamter fit zu sein. Er hielt es nicht nur für einen entscheidenden Vorteil, physisch fitter als die Kerle zu sein, die er gelegentlich zu jagen hatte, die körperliche Fitness gab ihm auch das Gefühl einer psychischen Überlegenheit.

    Die Ehe von Elaine Hynes hatte die Eskapade mit ihm nicht überstanden. Wie Liam Hutton später erfahren hatte, lebte Elaine heute mit einem drei Jahre jüngeren Mann als sie außerhalb von Tipperary. Sie arbeitete weiterhin an ihrer alten Dienststelle. Liam hatte aber keinerlei Kontakt mehr zu ihr. Das war ein Teil der Vereinbarung mit seiner Frau gewesen. Diese Zusage an seine Frau bereitete ihm aber auch keinerlei Probleme, schließlich war die Sache mit Elaine für ihn nur eine kurze Affäre gewesen, quasi aus dem Affekt heraus und ohne Tiefengrund.

    Eigentlich war er froh gewesen, als alles vorbei war. Er liebte seine Familie. Und so war er dankbar für die zweite Chance, die ihm seine Frau gegeben hatte.

    In den letzten drei Jahren hatten sie sich gut hier oben eingelebt. Letterkenny wurde von vielen als die heimliche Hauptstadt des County Donegal bezeichnet. Aus dem gälischen Namen der Stadt „Leitir Ceannain leitete sich die Bedeutung „Hillside of the O`Cannons, also „Hang der O`Cannons", den lokalen Clanführern in vornormannischer Zeit ab. Die eigentliche Hauptstadt des County war allerdings die gleichnamige Stadt Donegal-Town. Donegal-Town wiederum war eher die Verwaltungs- und Wohlfühlstadt, die begünstigt durch ihre Lage am Ende der Donegal Bay und durch ihre historischen Gebäude und geschichtsträchtige Vergangenheit einen hohen Wohnwert besaß. Donegal-Town war einfach die schönere Stadt.

    Aber Letterkenny war sowohl die Einkaufsstadt als auch das industrielle Zentrum des County Donegal.

    Darüber hinaus war Letterkenny die am schnellsten wachsende mittelgroße Stadt Irlands, was die industrielle Neuansiedlung aber auch die Entwicklung der Einwohnerzahlen anging. Und zu Zeiten eines derartigen Aufschwungs an verantwortlicher Stelle der Garda Station tätig zu sein, empfand Liam als durchaus reizvoll und mit großen beruflichen Perspektiven verbunden. Die Huttons hatten sich vor einem Jahr sogar ein kleines älteres Haus gekauft, das an der Ausfahrtstraße nach Ballybofey lag.

    Der Fundort der Leiche war, wie von weitem bereits sichtbar, weiträumig abgesichert, als Liam sich mit heulender Sirene dem Tatort näherte.

    An der Absperrung drängten sich schon einige Schaulustige. Das war eigentlich ungewöhnlich für einen Samstagmorgen um viertel nach sieben Uhr auf diesem eher verlassenen und einsamen Gelände. Chief Hutton fielen einige Jogger auf, die in dieser Grünzone häufiger anzutreffen waren. Einer davon war ihm schon einige Male bei seinen Läufen begegnet und sie hatten irgendwann angefangen, sich beim Entgegenkommen zu grüßen. Einige einzelne Rentner und Rentnerehepaare, die das Geschehen wohl eher als willkommene Abwechslung vom sonstigen tristen morgendlichen Spaziergang ansahen, zwängten sich ebenfalls mit ihren Hunden bis an das Absperrband, so dass dieses fast zu reißen drohte. Vor dem abgesperrten Areal waren bereits zwei Polizeiwagen abgestellt, bei denen die Türen weit offen standen und das Blaulicht noch eingeschaltet war. Dies alles gab der Szenerie eine Atmosphäre wie beim Dreh eines schlechten Kriminalfilmes.

    Aber das hier war kein Film. Das hier war die nackte Realität.

    Liam Hutton entdeckte als erstes Sergeant Wayne McNulty, der ihn kurz zuvor verständigt hatte. Dieser versuchte verzweifelt, die Schaulustigen vom Tatort fernzuhalten. In der Nähe der Leiche sah Chief Hutton Doc Susan Morley von der Gerichtsmedizin und seinen Kollegen Sergeant Frank Shaughnessy, die sich beide über die Leiche beugten.

    Was haben wir denn, Frank?"

    Das ist eine furchtbare Sauerei, Chief. Das muss ein Irrer gewesen sein. Aber sieh es dir selbst an!"

    Als Liam Hutton sich ebenfalls über die Leiche beugte, drehte sich sein noch nüchterner Magen einmal um die eigene Achse, so dass er erst einmal tief durchatmen und einen kräftigen Zug der frischen Morgenluft tanken musste.

    Morgen, Doc Morley, können Sie schon etwas sagen?"

    Morgen, Chief, schon ausgeschlafen?"

    Da war er wieder, dieser makabre Humor der Gerichtsmedizinerin, an den sich Chief Hutton immer noch gewöhnen musste.

    Wir haben hier eine Frauenleiche, höchstens 23 bis 25 Jahre alt. Der Fundort ist wohl nicht gleichzeitig der Tatort. Dieser ist einige Meter weiter in die Richtung. Vieles ist zwar schon im Boden versickert aber dort, wo auch die kaum noch erkennbaren Schleifspuren beginnen, haben wir eine Menge Blut gefunden. An der Leiche befinden sich diese markanten Verbrennungsspuren. Sehen Sie hier. Diese Merkmale sind typische Hinweise dafür, dass das Opfer mit einem Elektroschocker überwältigt worden ist. Der Täter scheint also das Mädchen an der Stelle dort drüben bewegungsunfähig gemacht und hierher transportiert zu haben.

    Wir haben die Stellung der Leiche noch nicht verändert. Wir haben sie so vorgefunden, wie Sie sie hier sehen.

    Der Täter hat die Leiche richtiggehend drapiert.

    Was ich hier sehe ist eine junge Frau, ihre schulterlangen rotblonden Haare sorgsam im Gras zu allen Seiten ausgebreitet, soweit der Sturm sie noch nicht wieder zerzaust hat. Die Leiche ist komplett entkleidet, wir haben sie vollkommen nackt vorgefunden. Die Arme und Beine sind vom Körper ausgestreckt gleichsam wie bei einem Engel, so wie er von Kindern in den Wintermonaten durch das Hin- und Herbewegen ihrer Arme und Beine in den Schnee gemalt wurde.

    Die Todesursache ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein einziger Schnitt durch die Kehle. Tatwaffe könnte ein großes scharfes Messer sein."

    Können Sie schon etwas über den Tathergang und den Todeszeitpunkt sagen?", wollte Chief Hutton wissen.

    Die Lebertemperatur lag bei einunddreißig Komma zwei acht Grad. Wenn wir bei diesen Außentemperaturen von etwa einem Grad Temperaturverlust pro Stunde ausgehen, liegt mit der üblichen Ungenauigkeit einer Vor-Ort-Bestimmung der Todeszeitpunkt etwa vier bis sechs Stunden zurück, also so zwischen ein und drei Uhr nachts. Sehen Sie die Einritzungen auf der nackten Brust? Ich würde sagen, beim ersten Betrachten könnte es sich dabei um Buchstaben handeln. Wenn Sie mich fragen, handelt es sich zwischen den beiden Brüsten, quasi als Einrahmung um ein W und bei dem Buchstaben auf der Bauchdecke darunter um ein geschwungenes R. Alle Einritzungen sind dem Opfer allerdings post mortem zugefügt worden, wahrscheinlich mit der Spitze des Messers. In ihrem Haar befindet sich dieses Schleifenband, gebunden in der Form eines Schmetterlings, das der Mörder offensichtlich aus der Bluse des Opfers herausgerissen hat.

    Die weiteren Kleidungsstücke liegen ein Stück weit entfernt, offensichtlich dort, wo er das Mädchen mit dem Elektroschocker bewegungsunfähig, anschließend ermordet und danach nach hierher geschleift hat. Ach ja, der Slip des Mädchens fehlt, oder wir haben ihn noch nicht gefunden. Vielleicht hat sie aber auch keinen getragen, wer weiß. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Täter es als eine Art Trophäe mitgenommen hat."

    Was glauben Sie, Doc, ist sie vergewaltigt worden?", wollte Chief Hutton wissen.

    Wie ich das auf den ersten Blick sehen kann, ist sie nicht vergewaltigt worden. Ich habe, so wie ich es bis jetzt feststellen konnte, keine Anzeichen von Geschlechtsverkehr entdeckt.

    Bei den drüben ausgezogenen Kleidungstücken finden Sie auch ihre Handtasche der Toten, die wir aber noch nicht untersucht haben. Ich kann Ihnen also noch nicht sagen, wie das Mädchen heißt."

    Danke, Doc, da kümmere ich mich sofort drum."

    Noch eins, Chief, mir kommt es fast so vor, als habe der Mörder diesen Ort speziell für seine Tat ausgewählt: Eine saftige grüne Wiese unter einer erhabenen Gruppe prachtvoller, Schutz bietender Laubbäume, die einen verwunschenen Teich umschließen. Das alles wirkt wie ein prächtiger, ruhiger Park. Schön und einsam. Der Täter konnte relativ sicher sein, dass er hier ungestört bleiben würde. Die weitere Spurensuche wird dadurch erschwert, dass der intensive Regen und der starke Wind nahezu alle Spuren verwischt haben. Wir haben bisher keine brauchbaren Fußspuren entdeckt, nur die Schleifspuren vom vermeintlichen Tatort dort drüben zum Fundort der Leiche hier. Der Täter beabsichtigte ganz offensichtlich, dass alle Details der Leiche und des Tatortes zu der engelhaften Inszenierung passen. So als habe er sich den Ablauf und die Inszenierung schon im Vorfeld genauso vorgestellt, ja erträumt."

    Das ist ja schon eine ganze Menge. Danke Doc. Aber sagen Sie mir, welcher Wahnsinnige macht denn so etwas und was bedeuten die Buchstaben auf der Brust des Mädchens?", wollte Liam wissen.

    „Ja, Chief, das ist dann wohl eher Ihr Job. Alle Einzelheiten bekommen Sie nach der Obduktion in spätestens zwei Tagen", war der knappe Kommentar von Susan Morley. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

    Kapitel II Wolfsrudel und Derivate

    Kapitel II.1 Wolfsblut

    Es war am Tag vor seinem 29. Geburtstag, als ihn der Brief der Regierung, genauer gesagt des „Dezernates für Renaturierung und Ansiedlung ausgestorbener Tierarten" erreichte.

    Doch zunächst alles der Reihe nach:

    Seine Schwester Deirdre, die 7 Jahre jünger war als er, foppte ihn schon gelegentlich wegen der ersten grauen Härchen, die sich an seiner Schläfe abzeichneten. Nicht dass das seinem Aussehen geschadet hätte, nein, es machte ihn im Gegenteil noch attraktiver und interessanter.

    Conor McGinley war 1,87 Meter groß, hatte schwarze, lockige fast bis zu den Schultern reichende Haare und grüne aufgeweckte Augen, die eine große Lebendigkeit und Lebensbejahung, ja Lebensfreude ausstrahlten. Dabei war er von schlanker Statur aber durchaus muskulös im Körperbau.

    Nein, er erfüllte so gar nicht das Klischee eines Farmersohnes aus der irischen Grafschaft Connemara.

    Durch seine gesamte Erscheinung, die noch veredelt wurde durch eine tiefe, sonore und eine in Streitsituationen auf alle Beteiligten beruhigende Stimme, erfüllte er alle Eigenschaften eines echten Frauenschwarms.

    Sein Vater Angus McGinley betrieb eine Schafsfarm und bewirtschaftete 280 Acres exzellenten Weidelandes, was einer Größe von 112 Hektar entsprach, das durchzogen war von großen Heide- oder Torfflächen und mehreren kleinen Seen. Der größte dieser Seen war sehr tief und gefüllt mit kristallklarem Wasser, und er war außerordentlich fischreich. Eigentlich hatte der See keinen offiziellen Namen. Angus hatte ihn allerdings schon in seinen Kindheitstagen Lough Ginley getauft. Und seitdem wusste jeder Bewohner der Gegend, welcher See damit gemeint war, auch wenn der Name in keiner offiziellen Flurkarte auftauchte.

    Am Ufer lag immer ein Ruderboot fest an einer Holzbohle vertäut. Diese war Teil eines kleinen Steges, den Angus vor Jahren als seine private Anlegestelle gebaut hatte. Mit diesem Boot ruderte er besonders gern an Sonntagvormittagen, nach dem Besuch des Gottesdienstes in Roundstone hinaus, um Forellen zu angeln. Keiner in der Connemara konnte fangfrischere Fische zum Mittag- oder Abendessen auf den Tisch bringen als Martha McGinley, Angus` Ehefrau.

    Wenn Angus so ganz allein mit seinem Boot auf dem See ankerte und auf den Biss der Fische wartete, träumte er häufig in den Tag hinein und geriet dabei nicht selten ins Schwärmen:

    „Wenn ich mein Land doch von oben sehen könnte, so wie ein Vogel, dann würde es bestimmt aussehen wie ein riesengroßer von den besten Gärtnern der Welt arrangierter Garten Eden".

    Es erfüllte Angus McGinley mit einigem Stolz aber auch mit viel Dankbarkeit, dieses wunderschöne Fleckchen Erde sein Eigen nennen zu dürfen. Dabei überwog bei ihm durchaus die Dankbarkeit, denn er nahm es absolut nicht als selbstverständlich hin, dieses Land bewirtschaften zu dürfen. Er hatte von jeher einen enormen Respekt vor dem Land und bei seinen fast schon philosophischen Überlegungen kamen

    ihm häufig weitschweifige Gedanken:

    „Mein Land? Was bedeutet das eigentlich konkret, mein Land? Eigentlich ist das Land für sich selbst da. Es war im Gegensatz zu mir schon immer da. Ich bin zwar der offizielle Eigentümer, aber das waren vor mir bereits abertausend Vorfahren. Eigentlich bin ich doch nur der momentane Bewirtschafter dieses Landes. Ich werde irgendwann gehen, das Land aber bleibt – es sucht sich nur einen anderen, der es dann pflegt und bewirtschaftet. Bis auch dieser wieder geht und der dann folgende zeitlich wiederum limitierte Besitzer die Pflege übernimmt. Also bin ich doch eigentlich nicht der Eigentümer des Landes sondern lediglich der temporäre Nutzer. Das Land gehört mir doch allenfalls während meiner Zeit, oder besser gesagt, ich gehöre dem Land, solange ich da bin, nicht umgekehrt."

    Je mehr und je häufiger er auf diese Weise philosophierte, verstörten ihn solche Gedanken zunächst vielleicht ein wenig, aber letztendlich wuchsen dadurch sein Respekt und seine Dankbarkeit vor dem Land an sich umso mehr. Ja, er war stolz darauf, ein Stück dieses wundervollen Landes zu besitzen, wenn es auch nur einen auf ganz Irland bezogenen verschwindend kleinen Teil ausmachte. Und dann lag es noch in der für ihn schönsten Grafschaft Irlands, in der Connemara.

    Connemara, ein Land, das für Angus aussah wie sein Name klang: Endlose farbenprächtige Heide- und Torflandschaften durchzogen von kristallklaren Seen, die sich in den Tälern der Bergketten ausbreiteten. Und dann diese Twelve Bens, eine Bergkette, die jedem Besucher schon von weitem signalisierte, hier ist die Connemara, das gelobte Land. Ganz anders als der angrenzende Burren, der als eine einzige karge Stein- und Felswüste daher kam. Der Unterschied hätte nicht größer sein können, hier ein farbenfrohes Gemälde aus Frühlingsblumen und bunten Luftballons, dort ein mausgraues Blatt Zeichenpapier, das keiner für würdig empfunden hatte, mit Farben auszumalen.

    Früher hatte Angus seinen Sohn Conor regelmäßig mitgenommen, wenn er zum Angeln auf seinen See hinausgefahren war. Allerdings hatte dieser ihn dann so mit Fragen überhäuft, dass er kaum zum Angeln gekommen war. Außerdem versuchte der kleine Kerl, der zu der Zeit kaum über die Reling gucken konnte, ständig die Ruder zu bewegen, mit der Folge, dass sich das Boot ständig im Kreis drehte. Angus genoss dann jede Sekunde mit seinem kleinen Sohn, saugte jeden einzelnen Moment in sich auf und versuchte die Geschehnisse für immer in eine Mindmap seines Gehirns zu brennen. Auf diese Weise hoffte Conors Vater, später, wenn er mal alt und grau sein würde, sich an diese schönen Momente des Lebens zurück erinnern zu können und jeden dieser wundervollen Augenblicke wieder und wieder aus der Mindmap hervorholen und gedanklich nochmals erleben zu dürfen.

    Außerdem hatte Angus neben der enormen Arbeit auf der Farm ansonsten kaum Zeit, sich mit seinem Sohn intensiv zu beschäftigen. Ohne je etwas daran ändern zu können registrierte er bald, wie schnell Conor heranwuchs. „Time goes by so quickly", dachte er dann bei sich.

    „Wenn man die Zeit schon nicht anhalten kann, so wäre es doch vorteilhaft, ihren Lauf beeinflussen zu können. Dann würde ich die Zeit jetzt, da wir so glücklich sind, langsamer laufen lassen. Als Ausgleich könnte sich die Lebensuhr im Alter meinetwegen schneller drehen. Das wäre doch ein guter Deal. Aber was würde das wohl für Konsequenzen haben? Würde mein Sohn dann auch halb so schnell heranwachsen? Ja würde sich vielleicht sogar die ganze Welt langsamer drehen? Bräuchte die Erde dann zwei Jahre für eine Sonnenumrundung?"

    Wohl wissend, dass solche Wünsche nicht erfüllbar waren, träumte er dennoch davon, dass die Zeit doch manchmal einfach stehen bliebe. Aber letztendlich war er doch froh, dass kein Mensch den Lauf der Zeit beeinflussen konnte. Welches Chaos das wohl verursachen würde, mochte er sich gar nicht ausmalen. Und er kam als frommer Christ dann immer zu dem gleichen Schluss:

    „Es ist schon gut so, wie es ist. Der Herrgott wird es schon richten. Er hat in diesen Dingen mehr Erfahrungen als jeder Mensch. Schließlich macht er es schon seit Anbeginn der Zeit."

    Da er also den Lauf der Dinge eh nicht beeinflussen konnte, versuchte er umso mehr jede Sekunde seines Glücks zu genießen. In solchen Augenblicken war Angus mit sich und seinem Leben rundum zufrieden.

    Auf Angus` Land weideten mehr als 600 Schafe, die er sein eigen nannte. Um seine von den Schafen der benachbarten Schaffarmer unterscheiden zu können, kennzeichnete er sie auf dem Rücken mit einem blauen und einem roten Querstreifen aus wetterfester Farbe. Denn Zäune kannten die Schaffarmer in der Connemara nicht. Erstens wären diese zu teuer und zweitens wäre das Aufstellen von Zäunen bei den großen Entfernungen und dem unwegsamen Gelände zu aufwändig gewesen. Doch was noch entscheidender war, kein Farmer kannte die Grenzen seines Landes wirklich so präzise, als dass er sie durch das Aufstellen von Zäunen hätte markieren können.

    Was die etablierten Schaffarmer allerdings in Rage bringen konnte war, dass einige Schafshalter überhaupt kein eigenes Land besaßen. Diese ließen ihre Schafe frei an öffentlichen und privaten Wegrändern und damit auch auf den Ländereien der ansässigen Farmer weiden. Im Volksmund nannte man dieses imaginäre Land The long green mile.

    Wie Angus` Großvater seinem Neffen schon in dessen frühesten Kindertagen erzählt hatte, konnte zu den Zeiten der Besatzung Irlands durch die Briten kein irischer Farmer mehr auch nur einen Quadratmeter Land sein eigen nennen. Damals halfen sich die irischen Bauern mit Durchhalteparolen wie:

    Uns gehört zwar nicht unser Land und was auf ihm wächst und uns gehört nicht die Luft, die es umgibt, aber uns gehört das Reich unter der Erde. Und so entstanden vornehmlich zu dieser Zeit die irischen Mythen und Sagen über Feen und Gnome, wie den Leprachons, die noch heute die Menschen, wenn die Geschichten an einem verregneten Tag an einem offenen Torffeuer erzählt werden, in ihren Bann ziehen. Diese Zwerge und Gnome waren in den Geschichten, die erzählt wurden, für so manchen Klamauk verantwortlich. Und so kam es, dass ein Ire, wenn er denn mal ausgesprochen ausgelassen war und selbst einen Schabernack machte es beispielsweise mit folgendem Ausspruch erklärte:

    The Leprachons made me do it!"

    Es war ein ungeschriebenes Gesetz und deshalb gab es für Angus McGinley auch keinerlei Zweifel daran, dass sein Sohn Conor einmal die Schafszucht übernehmen und die Farm weiter führen würde. Das zeichnete sich auch in den ganzen Jahren des Heranwachsens seines Sohnes sehr deutlich ab. Denn Conor hatte sich schon als Kind sehr geschickt im Umgang mit den Schafen angestellt, so als wäre es die einfachste Sache der Welt.

    Doch Conors noch größere Begabung und Leidenschaft waren die Zucht, die Ausbildung und das Arbeiten mit Hütehunden. Angus hatte vor Jahren einen Bordercollie-Rüden und zwei Weibchen von einem anerkannten Züchter in Schottland gekauft, mit denen er eine eigene Zucht aufgebaut hatte. Den Rüden hatte Angus nach dem Urvater aller Bordercollies benannt, Hump.

    Die beiden weiblichen Tiere bekamen die Namen Lesley und Lara. Bei der Zucht achtete Angus peinlich genau darauf, dass die Collieweibchen niemals mehr als einmal im Jahr schwanger wurden. Damit wollte er eine Überzüchtung seiner Welpen verhindern und für eine höchstmögliche Qualität und vor allem Gesundheit und Widerstandskraft der jungen Tiere sorgen.

    Schon wenige Jahre später war Angus McGinley in der gesamten Connemara bekannt für seine ausgezeichnete Bordercollie-Zucht. Die Nachkommen seiner Zuchttiere waren allesamt hervorragende Arbeitstiere und bei den Schäfern und Schaffarmern äußerst begehrte Hütehunde.

    Und in den letzten Jahren hatte Conor die Tiere allesamt allein ausgebildet. Denn seitdem sein Vater gesehen hatte, wie geschickt Conor sich bei der Ausbildung der Tiere verhielt, hatte er sich nicht mehr in das Training eingeschaltet. Conor verbrachte für die Ausbildung der Collies mehr Zeit als für irgendeine andere Tätigkeit. Selbst die Schule drohte dadurch manchmal vernachlässigt zu werden. Aber Conors Mutter Margret sorgte dann schnell und resolut dafür, dass er die Rückstände in der Schule schnell wieder aufholte. Schließlich wusste sie, dass nur herausragende Abschlussergebnisse der letzten Schulklasse dazu berechtigten, ein College zu besuchen.

    Conors Mutter hatte zwar mit Angus nie konkret über eine derartige Möglichkeit gesprochen, Conor auf ein College zu schicken, für sie war aber gar nicht so selbstverständlich, dass ihr Sohn einmal die Schafszucht und damit die Farm übernehmen würde. Woher Margret das ahnte oder gar wusste, konnte sie ebenfalls nicht sagen. Es war einfach nur so ein Gefühl, der mütterliche Instinkt.

    Mütter und Söhne, eine einmalige, unerklärbare, gar mysteriöse Beziehung. Keine Bindung konnte für Margret McGinley intensiver, stärker, nachhaltiger, eindringlicher, selbstverständlicher, natürlicher und klarer sein.

    Ohne Worte. Alles klar.

    Auch Conor hatte nie mit seiner Mutter darüber gesprochen. Sie wusste es einfach.

    Angus wäre selbst im Traum nicht eingefallen, jemals einen Gedanken daran zu verschwenden, seinen Sohn auf ein College zu entsenden. Und somit war eine derartige Eventualität auch gar nicht auf seinem Radarschirm. Denn in der Connemara war es schon immer so gewesen, dass der älteste Sohn einmal die Farm des Vaters übernahm. Warum sollte er also darüber großartig nachdenken?

    Große Teile der Connemara gehörten zur sogenannten An Ghaeltacht. So nannte man die Bezirke, in denen noch die alte irische Sprache, also gälisch, die allgemeine Umgangssprache war.

    Das war letztlich auch der Grund, warum Conor bis zur Einschulung in der kleinen Dorfschule fast noch kein Wort englisch sprach. Er verstand zwar ein paar Brocken, aber eigentlich war Englisch die erste Fremdsprache, die er erlernen musste. Aber in dieser Beziehung war Conor in bester Gesellschaft mit all` seinen Freunden. Insofern hatten weder er noch einer seiner Freunde einen großartigen Vorteil oder gar Nachteil in der Schule. Nur die Lehrer hatten demzufolge einen erheblichen Mehraufwand, den Kindern zunächst einmal die allgemeine Landessprache beizubringen.

    Die ersten sechs Jahre besuchte Conor die Primary School in Roundstone. Schon während dieser Zeit fiel ihm das Lernen leicht, und er gehörte in jedem Schuljahr zu den Klassenbesten.

    Da es die nach fünf Schuljahren auf die Primary School aufbauende Secondary School in Roundstone nicht gab, musste Conor ab der siebten Klasse täglich mit dem Schulbus nach Clifden, der Hauptstadt der Connemara fahren.

    Aber das empfanden er und seine Klassenkameraden nicht so sehr als besonderen Aufwand sondern mehr als ein großes Erlebnis. Endlich für einige Stunden außerhalb des Kindheitsäquators, das war für Conor McGinley gleichbedeutend mit einem Meilenstein in der Evolution. Bis dahin war er nie aus Roundstone heraus gekommen. Er hatte aber auch gar nichts vermisst. Conor kannte einfach nichts anderes. Und was man nicht kannte, vermisste man auch nicht. So einfach war das. Er hatte viele Freunde, mit denen er sich nach Schulschluss treffen konnte. Und das war mehr, als manch Anderer in seinem gesamten Leben erfuhr.

    Außerdem hatte Conor ja noch seine Hunde. Auf die freute er sich schon sehnsüchtig in der Schule. Täglich hatte er bereits im Voraus einen festen Plan, was er seinen Bordercolliewelpen am Nachmittag beibringen wollte.

    Jeder Farmer in der näheren Umgebung kannte inzwischen Conor, den Sohn des Angus, der ein magisches Händchen zu haben schien für die Ausbildung der Collies. Das brachte ihm schon in diesen jungen Jahren eine enorme Hochachtung ein, die jedoch gepaart war mit der Skepsis einiger Farmer. War es ihnen doch teilweise suspekt, wie ein so junger Bursche bereits eine solche Empathie für die Hunde entwickeln konnte, so dass diese ihm quasi blind vertrauten. Denn Conor verstand es, seinen Hunden die umfangreichen Aufgaben eines Hütehundes und die hohe Anzahl an Befehlen und Kommandos vollkommen ohne Gewaltanwendung beizubringen. Die komplette Ausbildung verlief vollkommen spielerisch. Ja, es war für Conor ein Spiel, schöner als alle anderen Spiele, die er kannte.

    Nun sagte man Bordercollies ja nach, dass sie die intelligenteste Hunderasse der Welt sei. Vielleicht trafen aber Adjektive wissbegierig, neugierig, nervös und eifrig eher den Charakter der Tiere. Und bei ihren umfangreichen Übungen ließen sie auch keinen Deut nach. Stundenlang konnten, ja besser wollten die kleinen Racker gefordert werden. Ohne eine Aufgabe zu haben, wären die Collies niemals glücklich geworden, sie wären sogar psychisch erkrankt, das wusste Conor. Und so legten die jungen Hütehunde eine Ausdauer an den Tag, dass es sogar Conor schon manchmal zu viel wurde.

    Vor allem das Hüten lag in ihren Genen. Dabei war es für sie vollkommen nebensächlich, was oder wen sie hüten sollten. Conor verglich den Wissensdurst der Collies häufig mit dem junger i-Männchen an ihrem ersten Schultag. Und diese Erkenntnis machte er sich zunutze.

    Conor McGinley trainierte mit dem Collie-Nachwuchs bereits im Welpenalter, nach dem Motto: Früh übt sich, wer ein Meister werden will. Dabei ließ er die Ausführung der Kommandos statt an Schafen zunächst an Enten ausführen. Er steckte dann einen Parcours aus aufeinanderfolgenden Holzpfählen ab, um die herum seine Colliewelpen die Entengruppe lotsen musste. Das sah nicht nur lustig aus, das machte auch einen Heidenspaß, sowohl ihm als auch den kleinen Collies. Das war spielendes Lernen. Und Conor registrierte mit Wohlwollen, dass den kleinen Welpen diese Art des Trainings nicht als Ausbildung oder gar Arbeit vorkam, nein, die kleinen Hunde waren heiß darauf, mit ihm zu spielen. Kaum konnten sie sein Kommen aus der Schule erwarten. Wenn er in den Feldweg zur Farm einbog, begrüßten ihn die Hunde schon von weitem mit lautem Gebell und freudigen, erwartungsfrohen Sprüngen. Dabei drehten sich die Collies häufig mehrfach um ihre eigene Achse als Ausdruck ihrer Freude und Erwartung dessen, was sie jetzt gemeinsam mit Conor Neues einstudieren würden.

    Nach Abschluss der Ausbildung reichten bereits Flötkommandos aus, um die Collies anzuweisen, bestimmte Befehle und Aktionen auszuführen.

    An den ausgewachsenen Bordercollies faszinierte Conor am meisten diese charakteristische geduckte Gangart der Hunde, wenn sie im Hüteeinsatz waren. Dann waren sie in ihrem Element und voll konzentriert auf ihre Aufgabe. Nichts auf der Welt konnte sie in diesen Situationen in ihrer Konzentration auf den Schäfer und Fixiertheit auf die Schafe stören oder aus der Ruhe bringen. Und Conor erkannte schon recht früh, dass ein Collie der Spitzenklasse eines haben musste und das bezeichnete der Kenner mit: The Eye. Er musste Das Auge haben, mit dem er quasi ein zu hütendes Schaf minutenlang fixieren konnte, manche behaupteten sogar hypnotisieren konnte.

    Und wer einmal einen von Conor ausgebildeten Bordercollie-Alpharüden bei seiner Arbeit gesehen hatte, wie er mit eleganten und geschmeidigen Bewegungen nur mit auf den Schafen fixiertem Blick in seiner geduckten Hütehaltung durch feuchte Wiesen und durch Tümpel streifte, der erkannte sofort die enorme Ähnlichkeit dieser Tiere mit ihren wilden Vorfahren, den Wölfen.

    Conor liebte seine Bordercollies, aber die Wölfe in ihrer Wildheit hatten ihn von jeher fasziniert. Die Vorfahren aller Hunde, deren Sozialverhalten und Instinkte er als übersinnlich, rätselhaft, geheimnisvoll, ja esoterisch und transzendent bezeichnete, zogen ihn seit jeher in seinen Bann.

    Einmal mit Wölfen, den Hunden aller Hunde zu arbeiten und ihre Lebens- und Verhaltensweisen im Rudel näher erforschen zu können, das entwickelte sich für Conor zu einem Traum, ja fast zu einer Sucht.

    Und so verwunderte es nicht, dass die benachbarten Farmer von ihm behaupteten:

    „In seinen Adern fließt Wolfsblut!"

    Und wenn man in Conors funkelnde Augen sah, grün wie leuchtende Smaragde, hätte das auch kaum jemand angezweifelt.

    Neben der Zucht und der Ausbildung der Hütehunde hatte Conor ein weiteres Hobby, die Musik. Wenn er stundenlang mit seinen Hunden draußen bei den Schafen war, nahm er immer eine Tin-Whistle, diese markante irische Flöte mit und übte fleißig. Da er äußerst begabt war, erreichte er schnell eine enorme Motorik und Spielqualität. Später spielte er auch auf weiteren Flöten wie Querflöte oder Low-Whistle. Wenn er selbst musizierte, spielte er ausschließlich traditionelle irische Musik. Die Reels, Jigs, Slip-Jigs oder Slow Air ertönten überall, wo er sich gerade aufhielt.

    Genauso gern wie er selbst Musik spielte konsumierte er auch die Musik. Und niemals ging er ohne seine Kopfhörer und MP3-Player aus dem Haus. Doch wenn er Musik hörte, dann bevorzugte er kurioserweise Rockmusik – hard and heavy. Das bedeutete für Conor jedoch keinen Gegensatz. Ganz im Gegenteil, für ihn ergänzten sich die beiden Stilrichtungen eher als dass sie sich gegeneinander ausschlossen. Und in vielen Rockstücken waren ja auch Elemente aus der traditionellen irischen Musik verarbeitet.

    Die aktuellen Musikrichtungen interessierten ihn dabei weniger, niemals würde er sich einen Rap oder Popsong anhören. Er bevorzugte gute, handgemachte, ehrliche Rockmusik, vor allem den progressive Rock.

    Und es gab gleich mehrere Bands, die er gut fand. Dazu gehörten beispielsweise Marillion, Yes, Rush, Arena, Steven Wilson, Pink Floyd und viele weitere Bands dieser Stilrichtung. Und natürlich Deep Purple und alles, was daraus hervorgegangen war wie Whitesnake, Rainbow oder Dio. Also war es auch nicht weiter verwunderlich, dass einer seiner Lieblingssänger für eine ganze Zeit Ronnie James Dio war. Vor allem der Song Lock up the Wolves ging ihm lange Zeit nicht mehr aus dem Ohr. Den hörte er so oft, dass es die anderen Familienmitglieder schon fast nervte. Außer seiner Schwester Deirdre,. die teilte die Liebe zur Rockmusik und zu Dio.

    Deirdre erfüllte im Gegensatz zu Conor alle Klischees eines irischen Mädchens. Sie war 9 Jahre jünger als Conor und hatte langes, rotes Haar, das in glockenförmigen Locken auf ihre wohlgeformten Schultern herunter fiel. Sie war ebenfalls groß und schlank mit einer ausgesprochen weiblichen Figur. Ihre Beine waren prädestiniert für das Tanzen. Und das war auch Deirdres liebstes Hobby, der traditionelle irische Stepptanz. Ja, man konnte durchaus sagen, dass sie der Star der örtlichen Tanzgruppe war. Sie hatte schon viele Preise gewonnen bei den Dance-Competitions der näheren Umgebung.

    Zweimal in der Woche trainierte die Connemara Dance Company, wie sich Deirdres Tanzgruppe nannte, in der Lounge von McCarrys Bar in Roundstone.

    Um jedoch noch vollkommener zu werden und die diffizilen und mit unglaublicher Schnelligkeit aufeinanderfolgenden Tanzschritte perfekt zu beherrschen, hatte sich Deirdre in einem der in der Nähe des Farmhauses gelegenen Ställe einen eigenen Übungsraum eingerichtet.

    Dazu hatte sie gemeinsam mit ihrem Bruder einen Teil des Stalles komplett leer geräumt. Der Steinboden, der aus ungeschliffenen Granitsteinen bestand, war mit Holzbohlen begradigt und komplett mit großen Holzplanken ausgelegt worden. Die Stirnwand hatten beide mit einem wandfüllenden Spiegel verkleidet, der Deirdre ermöglichte, sich bei ihren Trainingseinheiten zu beobachten und falsche Schritte besser zu erkennen und korrigieren zu können.

    Eine gute Musikanlage mit Verstärker, CD-Player und großen Lautsprecherboxen komplettierte ihren Übungsraum.

    Dieser Raum war ihre eigene Welt, ihr Refugium, in das sie sich auch gern zurückziehen konnte, wenn sie mal für sich allein sein wollte. Die freien Wände hatte sie dekoriert mit großflächigen Plakaten von Tanz-Wettbewerben, an denen sie im Laufe der Jahre teilgenommen hatte.

    In Momenten, in denen sie gern allein sein wollte, setzte sie sich einfach auf den Holzfußboden, legte eine CD in den Player und lauschte der melancholischen irischen Musik. Besonders der Klang der Uilleann Pipes versetzte sie in eine andere Welt und ließ sie den Bezug zur Gegenwart verlieren.

    Neben dem Tanz spielte sie auch ein Instrument, die Fiddle. Auf der spielte sie genau wie Conor gern die traditionelle irische Musik.

    Oft musizierten beide auch gemeinsam in ihrem Übungsraum. Oder sie setzten sich einfach auf den Holzboden und hörten sich eine aktuelle CD irgendeiner Rockband an. So kam es, dass häufig auch aus diesem Raum der Dio-Song Lock Up The Wolves zu hören war.

    Hier waren die beiden Geschwister vor allem vor den Kommentaren ihrer Eltern sicher, die man nicht gerade als Fans von Rockmusik bezeichnen konnte.

    Trotz, oder sollte man sagen gerade wegen des Altersunterschiedes, verstanden sich Conor und Deirdre ausgezeichnet. Die gemeinsame Liebe zur Musik, das gemeinsame Musizieren, aber auch der Mangel an Alternativen in dieser einsamen Gegend schweißten beide zusammen, so dass sie in allen misslichen Situationen wie Pech und Schwefel zusammen hielten.

    Das war auch der Grund, dass Deirdre zunächst sehr traurig war, als sie erfuhr, dass Conor nach Dublin gehen würde.

    Denn nach seinem Schulabschluss sollte Conor McGinley am Trinity College in Dublin Biologie und Zoologie studieren.

    Und das hatte er zum großen Teil seinem damaligen Klassenlehrer Anthony Farrell zu verdanken.

    Diesem war Conors Liebe und Neigung zu der Natur und den Tieren, vor allem den Hunden nicht entgangen. Und so war Conors Klassenlehrer eines Abends zu Angus McGinley ins Haus gekommen und hatte gesagt:

    „Angus, ich weiß, dass dein Sohn Conor einmal deine Farm übernehmen soll. Das kann er ja auch. Aber meines Erachtens ist die Zeit dazu noch nicht reif. Nicht deine Zeit, sondern Conors Zeit. Ich bitte dich, lass ihn zunächst Biologie und Zoologie studieren. Er ist in naturwissenschaftlichen Fächern äußerst begabt, vor allem, wenn es um die Lehre der Pflanzen und Tiere geht. Ich weiß, dass deine Pläne anders aussehen, aber handle bitte zunächst im Interesse deines Sohnes. Ignoriere nicht einfach seine ungeheure Begabung. Du siehst es doch selbst am besten, welchen Erfolg er durch seine Leidenschaft, Hartnäckigkeit und Fleiß mit der Zucht und Ausbildung der Hütehunde erzielt. Du weißt, er kann sich in die Tiere hineinversetzen. Diese Empathie ist es, die ihn bei den Hunden so beliebt macht. Er versteht ihre Sprache. Er spricht ihre Sprache. Es wird euch allen zugute kommen. Am Trinity College in Dublin würde er ausgezeichnete Studienbedingungen vorfinden. Ich würde mich dort gern für ihn einsetzen."

    „Ich bin kein Krösus, sondern ein einfacher Schaffarmer im Westen Irlands. Ich weiß nicht, ob es fair gegenüber der Familie wäre, unsere Ersparnisse für das Studium eines unserer Kinder aufs Spiel zu setzen. Was ist, wenn plötzlich ein paar schlechte Jahre kommen? Schließlich sind wir zu sehr abhängig vom Wetter und den sonstigen Launen der Natur. Wovon sollen wir dann leben?"

    „Riskiere es, Angus. Ansonsten würdest du es irgendwann sowieso bereuen, wenn du deinem einzigen Sohn nicht diese Chance ermöglicht hättest. Alles wird gut gehen. Er wird dich und deine Familie stolz machen, dessen bin ich mir sicher."

    Dem hatte Angus nicht viel entgegen zu setzen gehabt. Auch seine Frau Martha hatte keine Einwände, ganz im Gegenteil. Fast hatte es den Eindruck, als hätte sie bereits vorher mit Anthony Farrell einen Komplott geschlossen und sein Besuch bei Angus wäre eine abgekartete Sache gewesen. Wie dem auch war, der Erfolg hatte wieder einmal die Mittel geheiligt.

    Und so kam es, dass Conor tatsächlich nach seinem Schulabschluss zum Trinity College nach Dublin wechselte und Biologie und Zoologie studierte.

    Er war damit der einzige seiner Schulklasse, der nach Abschluss der Secondary School überhaupt aus der Connemara herauskam.

    Nun war natürlich vieles vorzubereiten für das große Abenteuer Dublin. Die größte Stadt, die Conor bis dahin je gesehen hatte, war Galway gewesen. Dort war er einige Male mit seinem Vater zum Markt gefahren, um Schafe zu verkaufen oder neue Muttertiere zur Auffrischung einzukaufen. Die Fahrten nach Galway hatte Conor immer genossen. Der Schafsmarkt wurde nämlich abgerundet und komplettiert durch alle möglichen Stände und Attraktionen. Die Galway-Fair war weit über die Grenzen hinaus bekannt. Es war ein richtiger Jahrmarkt und Anziehungspunkt für Jung und Alt. Sogar ein paar kleinere Karussells waren aufgebaut und erfreuten die Kleinsten. Alles wurde hier angeboten von Kleintieren wie Schafen über Schnürsenkel und Kochtöpfen bis hin zu Obst und Gemüse. Noch nie hatte Conor eine solche Menschenmasse auf einer solch` kleinen Fläche gesehen. Damals konnte er sich gar nicht vorstellen, wo diese Leute überhaupt alle hergekommen waren.

    Und dann hatte er immer gedacht: Kann es noch eine größere und schönere Stadt geben als Galway?

    Und nun würde er in Dublin studieren. Er hatte keine Vorstellungskraft, was ihn dort erwarten würde.

    „Wir werden morgen gemeinsam mit dem Bus Eirann nach Galway fahren, um dich einzukleiden, Conor. Mit dem, was in deinem Kleiderschrank hängt, kannst du nicht nach Dublin fahren. Ich möchte nicht, dass gesagt wird: Da kommt der Bauernsohn aus der wilden Connemara, auch wenn das ja eigentlich der Wahrheit entspricht", sagte seine Mutter zu ihm.

    Deirdre, die in der Nähe war, schaltete sich sofort ein:

    „Toll, kann ich mit euch fahren? Ich war noch nie in Galway und habe schon soviel davon gehört."

    „OK, kann ja nicht schaden, wenn wir die Meinung einer jungen Dame dabei haben. Aber was sagt dein Bruder dazu? Er wird dann wohl kaum seinen Geschmack durchsetzen können. Gegen die Argumente zweier Frauen hat er keine Chance."

    „Damit kann ich leben, Mutter. Mir ist das eh egal, was ihr für mich aussucht. Ich kann eben alles tragen", konterte Conor.

    „Ha, ha, noch nicht einmal in Dublin angekommen und schon hochnäsig und großspurig."

    Conor wusste, dass der Kommentar seiner Mutter humorvoll gemeint war.

    Das Kleiderthema war für ihn ohnehin nur ein Nebenkriegsschauplatz. Er war in seinem bisherigen Leben auch mit zwei Jeans und drei Sweatshirts klar gekommen. Er hatte eh nie verstanden, warum Frauen einen ganzen Kleiderschrank voll benötigten, wo man doch jeweils nur eine Garnitur anziehen konnte.

    Für ihn musste Kleidung nur eines, nämlich zweckmäßig sein. Und zweckmäßig interpretierte er als bequem. Das war sein Hauptanspruch an seine Kleidung.

    Seine Gedanken kreisten eher um die zu erwartenden persönlichen Veränderungen, die sich für ihn in ganz anderen Dimensionen abspielten.

    War das Studium die richtige Entscheidung? Was würde ihn in Dublin erwarten? Würde er sich mit den Studienkollegen verstehen? Wie käme er ohne seine Familie klar in der großen Stadt? Würde er die Herausforderungen des Studiums schaffen? Würde er mit seinem Geld klar kommen? Würde er seinen Vater nicht enttäuschen? Wie würde das Studium seine gesamte Lebensplanung beeinflussen? Würde er jemals in die geliebte Connemara zurückkehren?

    Fragen über Fragen, auf die er keine Antworten hatte und deren Lösungen wohl erst die Zukunft ergeben würde.

    Kapitel II.2 Kindheit

    „Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung", sagte Bankdirektor Arthur òToole und schüttelte dabei seinem erfolgreichen Mitarbeiter so überschwänglich die Hand, dass dieser das Gefühl hatte, dass ihm fast sein Arm ausgerissen würde.

    Der Grund für die außerordentliche Gratulation war, dass Victor Vaughan einen speziellen Anlageberater-Lehrgang für vermögende Kunden mit grandiosem Erfolg als Lehrgangsbester abgeschlossen hatte. Und diesen Erfolg seines Mitarbeiters vereinnahmte, ja beanspruchte Arthur òToole auch ein wenig für sich, denn schließlich hatte er ihn ausgebildet.

    Nun durfte Victor endlich auch vermögende Privatkunden kompetent und selbständig beraten. Schon immer war es sein berufliches Ziel und gleichzeitig eine Herausforderung gewesen, das große Geld seiner Kunden gewinnbringend und interessant anzulegen, zumal er in der Vergangenheit in seinem persönlichen Umfeld immer nur mit geringen Summen hantieren konnte. Seine Leidenschaft galt jedoch immer schon, den Mechanismen und Geheimnissen des Börsengeschäftes näher zu kommen. Seine Verbindungen und die Abhängigkeiten zu und von wirtschaftlichen Faktoren und den Informationen zu verstehen. Ja, er hatte sich im Laufe der Jahre intensiv mit der gesamten Komplexität des Börsengeschäftes beschäftigt. Keiner in der Filiale der Bank of Ireland in Letterkenny konnte die aktuellen Wirtschaftsnachrichten so eindeutig interpretieren und die Auswirkungen auf die Börsenkurse vorhersagen wie Victor Vaughan. Ihm selbst war es in den vergangenen Jahren trotz seines relativ überschaubaren Einkommens gelungen, ein bescheidenes Depotguthaben anzuhäufen. Nicht dass es sich um ein großes Vermögen handeln würde, aber es gab Victor schon das Gefühl einer gewissen finanziellen Unabhängigkeit und eines gewissen Stolzes, fast bei allen Geschäften die richtigen Rückschlüsse gezogen zu haben und das richtige Gespür und die richtige Nase gehabt zu haben.

    Arthur òToole war ein Mann, dem man seinen stattlichen Lebenswandel durchaus ansehen konnte. Er war nun 59 Jahre alt, in drei Monaten würde er seinen 60.ten Geburtstag feiern Er hatte bereits schütteres graues Haar mit tiefen Geheimratsecken, das er nach hinten kämmte und einen beträchtlichen Bauchansatz. Dabei war er eher von kleiner und stämmiger Statur. Zu seiner äußeren Konstitution passten allerdings sein Gemüt und sein Charakter. Arthur war seinen Mitarbeitern gegenüber korrekt und fair, und dabei eher väterlicher Freund als harter Vorgesetzter. Allerdings hatte auch er die Verkaufsvorgaben seiner Dubliner Zentrale zu erfüllen. Lag er mit den Abschlusszahlen seiner Filiale im vorgegeben Soll, war Arthur der Letzte, der seine Mitarbeiter unter Druck setzte. Im Gegenteil, dann war er eher ihr humaner, ausgleichender und beratender Begleiter. Denn Harmoniebedürfnis war Arthurs wichtigste Eigenschaft, wichtiger als die Erfüllung aller Verkaufsvorgaben irgendeines Vorgesetzten.

    Dass er noch bei seiner Mutter Barbara wohnte, sah Victor bisher nur als vorteilhaft an. Nicht nur, dass er die monatliche Miete einsparte, nein, seine Mutter umsorgte ihn auch mit einer vorbildlichen Leidenschaft, wusch seine Wäsche und organisierte immer noch seinen Tagesablauf vom Aufstehen bis zum Schlafengehen.

    Barbara Vaughan hatte vor Jahren nach dem Tod ihrer Eltern deren kleines Haus geerbt.

    Immer schon war Victor Barbaras einziger Sonnenschein gewesen. Viel hatte das Leben ihr nicht gegeben, nur diesen Sohn, ihr einziges Kind. Und dementsprechend umsorgte sie ihn auch, er wurde von ihr geradezu in Watte eingehüllt, denn zuviel Angst hatte sie, dass ihrem kleinen Liebling etwas zustoßen könnte. In gleichem Maße wie sich die Liebe zu ihrem Ehemann verringerte, erhöhte sie die Anstrengungen um ihren Sohn. Auf ihn allein konzentrierte sich nun ihre Liebe und ihre Sorge. So wuchs Victor auf wie in einem Glaskasten. Alles wurde von ihm ferngehalten, was Barbara für bedrohend oder gar gefährlich hielt. Das betraf sowohl Krankheiten als auch und vor allem Beziehungen zu anderen Kindern. Kaum ein Nachbarkind konnte die hohen Ansprüche, die Barbara als interne Messlatte festgelegt hatte, erfüllen, als dass es in soziale Kontakte zu Victor treten durfte. Dabei übertraf sie sich in der Erfindung von plausiblen Begründungen für die Ablehnung ihren Nachbarn gegenüber. Für sie zählte nur, was aus ihrer Sicht gut war für Victor. Und sie glaubte, gut für Victor sei es eher, keine Kontakte zu haben, als minderwertige. Er sollte es doch einmal besser haben als sie, das war ihr erklärtes Lebensziel für Victor. Und für diese Bestimmung tat sie alles, was in ihren Kräften und Möglichkeiten stand. Sie wollte ihn nur gut auf das Leben vorbereiten. Schnell merkte sie beispielsweise, dass ihr Sohn alles mit der linken Hand bewerkstelligte. Das Spielen mit Bauklötzen, das Malen mit Buntstiften. Um ihm das spätere Mitkommen in der Schule zu vereinfachen, tat sie, sobald ihr das aufgefallen war, alles, damit er zumindest mit der rechten Hand schrieb. Alle anderen Tätigkeiten erlaubte sie Victor zwar weiterhin mit Links zu erledigen, nur das Schreiben sollte er mit dem „feinen Händchen, wie Barbara die rechte Hand immer nannte, ausführen. Ebenso musste er die wenigen Gäste, die sich in ihr Haus verirrten, immer mit dem „feinen Händchen begrüßen. Nahm er versehentlich mal wieder seine starke linke Hand, dann bekam er einen kleinen Klaps mit dem Hinweis: „Gib der Tante nicht das fiese Händchen. Nimm das feine Händchen, das hab ich dir doch schon so oft gesagt, Victor!"

    Barbaras Mann würde man landläufig wohl als Luftikus bezeichnen. Er selbst hielt sich eher für einen Lebenskünstler, einen, der alles und nichts konnte, und zwar alles, was Spaß machte und nichts, was mit dauerhafter Arbeit zu tun hatte. Kaum dass er mal eine feste Anstellung über einen längeren Zeitraum hatte.

    „Dazu bin ich nicht geboren, sagte er dann immer, wenn die Diskussion auf dieses Thema kam. „Ich bin nicht der Sklave der Herrenrasse. Ich bin mein eigener Herr und entscheide selbst, wann ich wie lange und für wen arbeite.

    Das war weniger eine Erklärung oder gar Entschuldigung gegenüber anderen als mehr die Beruhigung seines eigenen schlechten Gewissens und der Skrupel seiner Familie gegenüber, sofern ihn der Begriff und die Bedeutung des Wortes Skrupel überhaupt tangierte.

    Aber die Einstellung ihres Mannes beeinträchtigte Barbara schon lange nicht mehr. Sie ging mehr und mehr in der Aufgabe auf, sich um ihr einziges Kind zu kümmern, es heranzubilden und zu disziplinieren. Und das tat sie nach ihrer Ordnung, einer aus der Tradition begründeten, erzkonservativen Grundhaltung heraus entstandenen Methode. So, wie auch sie schon von ihren Eltern erzogen worden war. Wie auch Barbara, waren schon deren Eltern Margret und Tom sehr religiös gewesen. Denn auch Victors Großeltern waren von deren Eltern traditionsbewusst und streng katholisch erzogen worden, so dass diese Denkweise bereits tief in der Familienvergangenheit verwurzelt war. Und so verstand es sich beinahe von allein, dass Margret und Tom diese Religiosität und Dienstbarkeit auch an ihre Tochter Barbara weiter gegeben hatten. Glaube an die katholische Kirche und Gehorsam oder besser Hörigkeit gegenüber den Eltern und Erwachsenen im allgemeinen und vor allem gegenüber der regierenden Obrigkeit in Person ihrer Vertreter, das waren die Attribute, nach denen irische Kinder zu der Zeit erzogen worden waren. Und welchen Grund hätten die Großeltern haben sollen, mit dieser Tradition zu brechen und Barbara gegenüber eine andere als diese bewährte Erziehungsmethode anzuwenden?

    Barbara empfand ihre Erziehung auch niemals als autoritär, sie war normal. Sie übernahm ohne großartig darüber nachzudenken ihrerseits eigentlich nur diese traditionellen Werte und gab sie an Victor weiter.

    Barbaras Haus betrat man durch einen kleinen Windfang, dessen Tür sich durch die Feuchtigkeit bereits verzogen hatte und inzwischen schwer zu öffnen war. Über einen kleinen Flur erreichte man links ein kleines Wohnzimmer, das Barbaras Eltern aber kaum benutzt hatten. Barbara selbst hatte es nie erlebt, dass jemals ein Feuer in dem dortigen durchaus apart aussehenden offenen Kamin gebrannt hätte. Über eine weitere Tür erreichte man den eigentlichen Wohnraum. Dieser für die Größe des Hauses großzügig geschnittene Raum diente gleichzeitig als Küche, Esszimmer und Wohnraum. So fand man hier auch alle zu diesen Zwecken notwendigen Einrichtungsgegenstände. Eine kleine Einbauküche mit Waschmaschine, ein Herd, der zum Heizen und gleichzeitig zum Kochen eingesetzt wurde, einen kleinen Esstisch mit drei Stühlen inmitten des Raumes sowie im Anschluss in der Nähe des großen Fensters eine Couch mit zwei Sesseln. Dem gegenüber stand der Fernseher, inzwischen schon ein Flachfernseher mit Satelliten -Empfangsschüssel. Die Sessel passten weder farblich noch formtechnisch zur Couch. Aber das hat hier niemals wirklich jemanden gestört. Dieser Raum war der Lebensmittelpunkt der Familie, und das seit jeher. Hier wurde gekocht, gewaschen, gegessen, geredet oder das RTE-Fernsehprogramm gesehen.

    Dieser Raum war, wie auch alle anderen Räume übersäht mit Heiligenbildern und Kreuzen. Jede freie Stelle an den Wänden wurde genutzt, irgendeinem Heiligen einen Platz zu bieten.

    Vor allem fiel die große Zahl an St. Bridget- Kreuzen auf. Diese Kreuze erinnerten an die aus einigen Strohhalmen geformten Kruzifixe, wie sie die heilige St. Bridget in ihrer Arrestzelle aus dem Stroh ihrer Schlafmatratze geformt hatte. Die St. Bridget Kreuze wurden jedes Jahr am letzten Tag im Januar von den Frauen der Nachbarschaft aus frischem Binsengras nach einer komplizierten Flechttechnik erstellt und noch am gleichen Abend vom Priester geweiht.

    Im hinteren Teil des Hauses befanden sich das Badezimmer und ein kleines Schlafzimmer. Zwei weitere kleine Schlafzimmer befanden sich im Dachgeschoß des Hauses.

    Hinter dem Haus hatten sich schon Barbaras Eltern Margret und Tom einen kleinen Gemüsegarten angelegt, in dem sie einige Kartoffelreihen, Petersilie, Schnittlauch, Karotten und weitere Gemüse und Kräuterarten für den Eigenbedarf anbauten. Viel wuchs hier eh nicht in dieser torfhaltigen Erde. Guter Mutterboden war teuer und kaum zu bekommen. Diesen Garten hatte Barbara nach dem Tod ihrer Eltern noch ausgeweitet und um herrlich blühende Stauden und Einjahresblumen komplettiert. Ein buschartiger Apfelbaum bildete nun den Mittelpunkt des Gartens. Dadurch wirkte dieser fast wie ein britischer Bilderbuch-Vorgarten. Vor dem Haus hatte sie eine größere Fläche geteert, die sie als Parkraum nutzte. Darüber hinaus half ihr diese Maßnahme, den Vorplatz ohne großen Aufwand sauber zu halten, zumal sich ihr Mann an der Instandhaltung und Pflege des Hauses in keiner Weise beteiligte.

    Barbaras Haus stand in der Nähe des kleinen Ortes Doochary. Es lag an der Strasse, die sich entlang des rechten Ufers des Gweebarra-River an dem Bergrücken schmiegte, der das Gweebarra -Tal vom angrenzenden hohen Bogland, also dem Moorgebiet, trennte. Die Strasse führte dann im weiteren Verlauf zur N56, die von Donegal Town kommend über Killybegs, Ardara und Glenties nach Dungloe führte, um dann weiter durch die Rosses, vorbei an Bloody Foreland und im weiteren Verlauf an der Nordküste entlang wieder hinunter nach Letterkenny alle wichtigen Orte Nordwestirlands miteinander zu verbinden.

    An Duchoraidh, wie Doochary in irischer oder gälischer Sprache hieß, phonetisch so etwa wie Dùherie klang, und soviel wie „Furt aus schwarzer Eiche" -früher war wohl an der Stelle der heutigen Brücke über den Gweebarra-River eine Furt aus Eiche gebaut- bedeutete, lag an der R252 von Fintown kommend Richtung Dungloe. Das R in der Straßenbezeichnung stand für Regionalstrasse, nach den M-Strassen, den Motorways oder Autobahnen und den N-Strassen, den Nationalstrassen die Strassen der dritten Ordnung. Die Qualität von Regionalstrassen ließ häufig zu Wünschen übrig. Schlechter waren nur noch die Strassen der vierten Kategorie, die L-Strassen, also die lokalen Strassen. Diese würde man landläufig eher als Wirtschaftswege bezeichnen.

    Erreichte man den Ortseingang von Doochary, hatte man wenig später den Ort auch schon wieder verlassen.

    Vorbei an dem einzigen Pub und dem Grocery Store, einem Tante Emma ­ Laden, der gleichzeitig als Postoffice diente, und einigen Wohnhäusern ging es über eine Rechts-Links-Kurvenkombination wieder aus dem Ort hinaus, hoch in die kahlen, mit Heide bewachsenen Berge Richtung Dungloe.

    Diese von den Einheimischen corkscrew genannte Kurvenkombination bezeichnete die Straße, die sich korkenziehergleich in mehreren Serpentinen um eine gedachte Seele vom Gweebarra-Tal in das hoch gelegene Bogland schlängelte, in dem noch immer, zumindest in den wärmeren Monaten, fast täglich Torf gestochen wurde, um Häuser und Menschen in den nasskalten Wintermonaten trocken und warm zu halten. Denn Torf war in dieser Gegend immer noch das wichtigste Brennmaterial.

    Vor der ersten haarnadelscharfen Linkskurve befand sich die Primary School, also die Grundschule von Doochary. In dieser Kurve zweigte eine schmale Nebenstrasse ab, die sich durch den wilden Teil des Glenveagh-Nationalparks schlängelte. Folgte man einige Meilen dieser kleinen Schotterstraße, dann führte sie kurz vor Churchhill in einer 90-Grat- Rechtskurve weiter nach Letterkenny.

    Kurz hinter dem Ortseingang von Doochary überquerte man die denkmalgeschützte Brücke über den Gweebarra River, der an dieser Stelle noch recht schmal war. Bei Anglern war diese Stelle jedoch äußerst beliebt. Bei Gott, war doch der Gweebarra für sie hier ein echtes Angler-Eldorado. Denn zur richtigen Jahreszeit war an dieser Stelle der Fluss prallgefüllt mit Lachsen. Denn mit dem Meerwasser des Atlantiks, das bei jeder Flut in den Gweebarra gepresst wurde und das spärliche Süßwasser des Flusses zu einem salzigen Mischwasser machte, kamen auch die Lachse weit ins Landesinnere.

    Auch Victors Vater angelte, sobald die Saison eröffnet war, regelmäßig im Gweebarra River. Mit den Fängen trug er zumindest ein wenig zum Lebensunterhalt seiner Familie bei. Häufig nahm er seinen Sohn mit, der dann ebenso begeistert wie sein Vater mit seiner kleinen Angel die großen Lachse zu fangen versuchte, was ihm jedoch nur selten gelang. Allerdings lehrte sein Vater ihm schon recht früh, wie man mit den großen scharfen Messern umzugehen hatte, um die Fische fachgerecht auszunehmen und zu zerlegen.

    „Sei vorsichtig, wenn du die Fische ausnimmst. Die Messer sind so scharf, dass du einem Schaf mit einem Schnitt den Kopf abtrennen könntest", hatte sein Vater ihn immer wieder darauf hingewiesen, wie nützlich aber auch wie gefährlich der Umgang mit den scharfen Messern war.

    Eines Tages hatte sein Vater ihm das Geheimnis der Lachse erklärt:

    „Weißt du eigentlich, Victor, warum die Lachse immer wieder aus dem Wasser springen, wenn sie in unseren Gweebarra River schwimmen?"

    „Nein, Vater, aber erklär es mir bitte!", war Victor immer lernbegierig nach Anglerweisheiten.

    „Also, dass die Lachse zum Laichen in die Süßwasserflüsse kommen, das weißt du ja bereits. Aber, warum sie dabei immer aus dem Wasser springen, das hat eine besondere Ursache."

    „Erzähl schon, Dad, spann mich nicht so sehr auf die Folter. Ich möchte es jetzt wissen."

    „Wenn die Lachse aus dem Atlantik in den Gweebarra schwimmen, sind ihre gesamten Körper über und über mit Meeresläusen versehen. Das ist ganz normal. Diese Parasiten findet man an vielen Fischarten. Um ihre ebenfalls befallenen Kiemen von diesen lästigen Plagegeistern zu säubern, springen die Lachse aus dem Wasser, damit der „Fahrtwind sie von den Läusen reinigt.

    „Und wie lange müssen die Lachse aus dem Wasser springen, bis die Läuse endlich verschwunden sind?", wollte Victor von seinem Vater wissen.

    „Maximal bis zu 24 Stunden können diese Meeresläuse im Süßwasser überleben. Und daran kannst du sehr gut erkennen, wie lange sich die Lachse schon im Süßwasser befinden, um zu laichen. Also einen kompletten Tag nach Verlassen des Meersalzwassers schimmern die Meeresläuse noch silbrig glänzend an den Körpern der Lachse. Sobald diese nach dieser Zeitspanne abgestorben sind, leuchtet die Lachshaut dann eher gold-bräunlich glänzend. Und das ist das Zeichen für alle Angler, diese Lachse nicht mehr zu fangen, da sie bereits reif fürs Laichen sind. Und es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass nur die frisch aus dem Meer herein geschwommenen, silberfarbenen Lachse gefangen werden dürfen. Und dieses Gesetz wirst auch du immer beachten, Victor."

    „Natürlich, Vater, niemals würde ich ein Gesetz missachten."

    „Das weiß ich, mein Sohn."

    „Verhalten sich eigentlich alle Lachse auf der Welt gleich?", wollte Victor wissen.

    „Grundsätzlich ja. Alle Lachse müssen zum Laichen aus dem Meer teilweise weit in die Süßwasserflüsse hinein schwimmen. Aber es gibt da beispielsweise einen gewaltigen Unterschied zwischen den amerikanischen und europäischen Lachsen. Die amerikanischen Lachse kommen nur einmal in ihrem Leben zum Laichen in die Flüsse. Danach sterben sie. Ihre europäischen Verwandten können mehrmals in ihrem Leben zum Laichen in die Süßwasserflüsse kommen. Das heißt, einige von den Lachsen, die du hier sehen kannst, kommen schon einige Jahre in den Gweebarra."

    „Das ist eine schöne Geschichte, Dad. Stimmt sie auch?"

    „Natürlich stimmt sie. Und morgen bekommst du deine eigene Angel. Aber ab sofort wirst du die von dir gefangenen Fische auch selbst ausnehmen. Ist das ein Angebot?"

    „Toll, Dad, danke."

    „ Aber nun komm, für heute ist es spät genug geworden."

    Die Straße, an der Victor mit seiner Familie ihr kleines Haus bewohnten bog im rechten Winkel etwa in der Ortsmitte hinter dem Pub nach links Richtung Lettermacaward (Leitir Mhic an Bhaird) ab, das von den Einwohnern wegen der Namenslänge nur kurz Leitir (phonetisch: Letscher) genannt wurde. An ihr lag auch die einzige Kirche von Doochary. Da man sich in Irland befand, verstand es sich fast von selbst, dass es sich um eine katholische Kirche handelte.

    Jeden Sonntagmorgen vollzog sich im Hause Vaughan nach dem Frühstück das gleiche Ritual:

    „Bist du fertig zum Kirchgang, mein lieber Junge?" fragte Barbara dann ihren Sohn Victor.

    „Warum soll ich schon wieder zur Kirche gehen?", dachte Victor immer häufiger in solchen Situationen. Aber niemals würde er es aussprechen, niemals würde er seiner Mutter widersprechen. Also antwortete er aus seinem Zimmer:

    „Nur noch eine Sekunde Mum, ich ziehe mir noch schnell meine Jacke über".

    Danach gingen beide gemeinsam zur einzigen Sonntagsmesse, die um zehn Uhr begann. In der Kirche nahmen sie immer an derselben Stelle ihre Plätze ein, dritte Reihe rechts unmittelbar am Mittelgang des Kirchenschiffes. Niemand im Ort wäre jemals auf die Idee gekommen, diese Plätze für sich in Anspruch zu nehmen. Sie waren zwar nie fest zugeteilt worden, es hatte sich aber einfach so entwickelt, dass jeder Kirchgänger im Laufe der Zeit seinen ihm angestammten Platz einnahm. Und kein anderer Kirchenbesucher wäre jemals auf die Idee gekommen, einem anderen dessen Sitzplatz streitig zu machen. Häufig wurden diese Stammplätze sogar innerhalb einer Familie über Generationen weiter vererbt, ohne dass sich daraus ein Streitpotential entwickelte. Schließlich gab es ja genügend Sitzplätze in der Kirche, deren Proportionen bei ihrer Erbauung wohl auf einen enormen Wachstumsboom in Doochary in der näheren Zukunft ausgerichtet worden war. Leider, aus gebäudeästhetischer Sicht, hatte die Kirche keinen Glockenturm. Dieser Missstand ließ den gelb gestrichenen massigen Baukörper noch etwas plumper wirken als er eh schon war.

    Nicht einmal eine Grippeerkrankung mit 39 Grad Fieber hätte Barbara als Entschuldigung dafür gelten lassen, nicht mit Victor die Messe zu besuchen. Das war einfach eine heilige Pflicht, deren Versäumnis durch nichts aber auch gar nichts entschuldbar gewesen wäre. Und das galt ebenso für sie als auch für ihren Sohn. Schließlich hatte Jesus seinen Leidensweg vor über 2000 Jahren auch durch nichts abwenden können.

    In den Nachbargemeinden wurde Doochary scherzhaft, aber auch spitzfindig und ironisch als Sleeping Village bezeichnet. Und daran war mehr als nur ein Stückchen Wirklichkeit, es traf haargenau den wahren Kern. Ganz gleich zu welcher Tageszeit man durch den Ort fuhr, man traf fast nie einen Menschen auf der Straße an.

    Deserted Town. Geisterstadt. Verlassen von frustrierten Einheimischen, vergessen von der Kartoffelpest, vergessen von den Auswanderungsschiffen nach Amerika und dem Rest der Welt.

    Fucking Forgotten Sleeping Village!

    Nicht einmal die Hauptstrasse hieß Main Street, wie sonst in allen kleinen irischen Orten. Hier brauchte es keine Straßennamen.

    Barbara Vaughan, Doochary, County Donegal reichte als Anschrift auf Briefen vollkommen aus, um den Adressaten zu erreichen. Dem zuständigen Postman hätte allein schon der Name des Empfängers ohne irgendwelche ergänzenden postalischen Zusatzangaben ausgereicht, um die Post korrekt zuzustellen.

    Gelegentlich ergänzten die in aller Regel gälischen Flurbezeichnungen die Anschrift des Empfängers.

    Schließlich war man hier inmitten der An Ghaeltacht Area, also ebenfalls ein Teil Irlands, in dem noch Gälisch gesprochen wurde.

    Auf vielen Hinweisschildern waren hier die Ortsbezeichnungen ausschließlich in gälischer Sprache ausgewiesen, was fremden Besuchern die Orientierung nicht gerade leicht machte.

    Wenn man zum Beispiel nach Dungloe wollte, hätte man diesen Ortsnamen auf den Verkehrsschildern vergeblich gesucht. Hier in der An Ghaeltacht Area fand man fast ausschließlich den gälischen Namen An Clochàn Lìath vor.

    Im Gegensatz zu den meisten heute verwendeten Namen waren die gälischen Bezeichnungen wesentlich ausdrucksstärker und vielsagender, man könnte sogar sagen poetischer.

    An Clochàn Liath zum Beispiel stand für At the grey rocks (An den grauen Felsen) und beschrieb doch zumindest rudimentär den so bezeichneten Ort auch für jemanden, der noch niemals dort gewesen war.

    Allerdings hätten die Kelten für eine einigermaßen treffende Charakteristik des Ortes An Clochàn Lìath ein ganzes Buch füllen müssen, um auch nur annähernd die Schönheit, seine sie einschließende und umgebende traumhafte Meeresbucht, die in Richtung Maghery (An Màchaire) aufragenden Berge und Klippen, die steil ins Meer fallen und von oben den Augen des Betrachters atemberaubende Ausblicke (Breathtaking Views) boten, zu beschreiben.

    Jeder Schriftsteller würde doch die Bezeichnung Daona Fàsta erfinden, wenn er die Fantasie dafür hätte, um das Wort Adult (Erwachsener) ersetzen zu können. Klang nicht Dhùn na nGall im Vergleich zu Donegal wie die Ouvertüre einer italienischen Oper?

    In Victors Heimatdorf Doochary kannte man sich, und zwar jeder jeden. Kein Geheimnis hätte so geheim sein können, als dass es nicht in kürzester Zeit zu Allgemeinwissen mutiert wäre. Einsteins Relativitätstheorie basiert ja bekanntlich auf der Tatsache oder Annahme, dass sich nichts, aber auch gar nichts schneller ausbreitet als das Licht. Aber hier irrte der gute alte Albert Einstein. Eine Ausnahme bildeten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Neuigkeiten und Gerüchte in und um Doochary. Demzufolge müssten eigentlich alle physikalischen Gesetze neu definiert werden.

    Die Formel E=mc2, die die scheinbar unendliche Energie der Sterne durch Spaltung der Atome bezeichnete, müsste ersetzt werden durch D=gn2, gleichbedeutend für:

    D(Doochary) = G(Gerücht) * N(Neuigkeit)2

    Aber das war Victor nie so sehr aufgefallen, zumindest hatte es ihn nicht weiter gestört. Schließlich hatte er keine Geheimnisse, insbesondere nicht gegenüber seiner Mutter. Genauer betrachtet konnte er gar keine Geheimnisse haben, oder besser ausgedrückt, seine Mutter gestand ihm keine Geheimnisse zu.

    Und in diesem ach so behüteten Umfeld wuchs Victor Vaughan auf.

    Aber Doochary bot durchaus auch Einrichtungen der Grundversorgung. Es gab neben der Grundschule zum Beispiel eine Arztpraxis. Nicht dass diese täglich geöffnet gewesen wäre, nein, das wäre auch gar nicht erforderlich gewesen. Probleme gab es nur damit, dass die Sprechstunden von Dr. Tanner, der die Praxis betrieb, nicht eindeutig geregelt waren. Geöffnet war, wenn es zeitlich betrachtet nach seinem Behandlungsplan möglich war. Das konnte theoretisch zu irgendwelchen Zeiten an irgendwelchen Wochentagen sein. Und damit seine potentiellen Patienten auch wussten, dass er anwesend war, hisste er die orange-weiß-grüne Nationalflagge der Republik Irlands an seinem Haus. Die Fahne konnte man von weitem erkennen und so ersparte es den Patienten unnötige Telefonkosten und Zeit. Daher konnte man dieses Beispiel als ein funktionierendes Kommunikationswesen irischer Prägung bezeichnen, ohne dazu elektrische Energie oder Übertragungskabel zu benötigen. Ein vielversprechendes Hinweisschild im Fenster seiner Praxis weckte jedoch einige Qualitäts-Erwartungen bei den Patienten: Health Center An Duchoraidh.

    Victors Mutter liebte den Blick aus ihrem Wohnzimmerfenster auf die gegenüberliegende Uferseite des Gweebarra, die noch wesentlich wilder, rauer, bewaldeter und weniger bebaut war als die rechte Flussseite, an der sie mit ihrer Familie wohnte.

    Barbaras Blick ruhte dann zunächst auf der glitzernden Wasserfläche des Flusses, um dann auf die dahinterliegenden hoch aufragenden Berge zu wandern. Diese Berge, deren untere seichtere Hügelketten nach dem Ankauf durch die staatliche Försterei wieder mit Kiefern, Tannen und Fichten bewachsen waren und somit mit ihrem satten Immergrün einen willkommenen Kontrast bildeten zu dem Blau des Wassers und den beigefarbenen, violetten und rostbraunen Farbtönen der

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1