Vögel müssen fliegen
Von Lina Zasepskaya
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Buchvorschau
Vögel müssen fliegen - Lina Zasepskaya
Lina Zasepskaya
Für Gila Wolf und meine Familie
Vögel müssen fliegen
Geschichten
Inhalt
In die Zeit der Perestrojka und danach
Geschichte einer Freundschaft ............................................... 3
Hallo- lebe wohl ............................................... 11
Der Glückspilz …...............................................18
Moskau 2012 …...............................................23
Ich kam zurück in meine Heimatstadt.........................................27
Jede Familie hat eine Geschichte
Vögel müssen fliegen …..............................................30
Mitten in Deutschland
Einwanderung ….............................................53
Eine gewöhnliche Arbeit …..............................................65
Mitten in Deutschland …..............................................67
Neues Leben .................................................71
Mein Führerschein ...................................................80
Leipziger Straße …...............................................84
Sieben Welten- sieben Leben
Die erste Begegnung mit Amerika …..........................................86
Thai, ein zärtliches Wort ….........................................91
Goa oder das Paradies auf Indisch.............................................94
In die Zeit der Perestrojka und danach
Geschichte einer Freundschaft
-1-
Was unterscheidet einen Menschen von einem anderen und ein Volk von einem anderen? Das war immer schon eine interessante Frage für mich. Neulich habe ich mit Eva, meiner deutschen Bekannten gesprochen, die von Russland und allem Russischem begeistert ist. Eva besuchte Russland, lernt Russisch in einem Kurs, sieht oft russische Filme und hat sogar einen russischen Lebensgefährten. „Was für Unterschiede gibt es zwischen einer Russin und einer Deutschen? fragte ich sie eines Tages. Sie hat ein bisschen nachgedacht und sagte dann: „ Die weichen Hände.Typische Russinnen sind in ihrer Art ganz weich
. Unterwegs dachte ich darüber nach und konnte bestätigen: viele Russinnen haben solch eine weiche Art. Das kann Herzen erobern. Und ich dachte sofort an meine alte Freundin Tanja.
Ich traf sie erst in der pädagogischen Fachschule. Tanja, damals 17-jährig, war ein bildschönes Mädchen mit langen blonden Haaren und einem Lächeln auf dem Gesicht. Das Lernen war nicht so wichtig für sie. Sie wollte zuerst eine Familie haben und sprach darüber, als ich sie zu Hause besuchte. Ihre Familie schien ideal zu sein. Sorgsame Eltern, eine gepflegte Wohnung. Tanja hatte sehr schöne Kleider, von allem viel zu viel. Außerdem schminkte sie sich gerne.
„Eine echte Frau soll andere für sich begeistern, davon war meine Freundin überzeugt. Sie guckte mich kritisch an: „Keine Angst, ich mache auch aus dir eine Prinzessin.
Ich war überrascht, als ich nachher in den Spiegel blickte. Ich sah schöner und attraktiver aus, als sonst, aber an mir war jetzt etwas Fremdes.Tanja wählte von ihren Kleidungsstücken einige für mich aus. Nachher gingen wir zusammen spazieren. Ich war beeindruckt von ihrer Art und Weise mit anderen Menschen umzugehen. Sie lächelte viele Männer an und versuchte ständig Kontakt aufzunehmen. Wir gingen den Newski Prospekt- die Hauptstraße Leningrads entlang.
„Für uns ist es das Wichtigste gute und reiche Männer kennen zu lernen. Möchtest du heute Abend in einem Luxusrestaurant gehen?"
„Wie denn das?" staunte ich. Damals, vor dreißig Jahren, waren russische Bürger es überhaupt nicht gewohnt, ein Restaurant zu besuchen. Meine Eltern z.B. konnten nur in eine Eisdiele oder billige Kantine gehen, es fehlten nette und gemütliche Lokale. Wo es richtig schön war, war es unglaublich teuer. Strenge Portiers standen am Eingang und wirkten abschreckend.
„Alles ganz einfach, redete Tanja weiter, „Wir lernen solide Männer kennen, und sie laden uns ins beste Lokal ein und bezahlen für alles.
„Nur für ein „Danke"?
„Sie werden hoffen, dass wir uns mit Ihnen weiter treffen werden."
„Und wir?"
„Keine Angst, ich erledige alles."
-2-
Schon nach 10 Minuten sahen wir zwei Männer Mitte 30. Sie waren beide aus dem Kaukasus und verkauften auf dem Markt Südfrüchte. Solche Verkäufer waren selbstständig und verdienten viel mehr als Einheimische. Deswegen mochten viele sie nicht und man nannte sie „Schwarze".
Beide waren ganz fremde Typen für uns. Außerdem sprachen sie Russisch mit einem starken Akzent. Allein würde ich mich auf keinen Fall mit solchen Männern einlassen. Aber Tanja kokettierte schon mit Beiden. Eine Stunde gingen wir zusammen spazieren und redeten über das Wetter, Leningrad und ihre Heimatstädte.
„Ich bin hier ganz allein", klagte der Ältere, der eine beginnende Glatze hatte.
„Ich bin geschieden, sagte der Andere. Er war ein bisschen jünger und schlanker. „Wir sind so glücklich, euch kennen zu lernen
sagten die Männer und grinsten.
„Wir auch", antworteten Tanja und ich.
„Wollen wir uns irgendwo hinsetzen?" schlug der ältere Mann vor.
„Ja, klar, ins Metropolis, sagte meine Freundin. Sie nannte das berühmteste und geschmackvollste Lokal der Stadt. In der ersten Sekunde waren beide Männer erschreckt. „Metropolis
war vielleicht auch für sie zu teuer. Dann sagte der Ältere, wir wollen das Beste.
Wir gingen hinein und fanden uns in einer Atmosphäre von Luxus und Schönheit. Alles war himmlisch: Blumen, Vorspeisen, lächelnde Gesichter, die Kellner. Wir aßen, tranken und tanzten. Der jüngere Mann küsste meine Hand und versuchte mich zu umarmen. Er war zart und geduldig. Sie sind echt nett, nicht so schlimm, wie ich es mir vorstellte, dachte ich.
Es war schon spät, wir hatten gut gegessen, aber auf dem Tisch standen noch so viele leckere Sachen. Ein junger Verkäufer kam an unseren Tisch und schlug den Männern vor, große Sträuße Rosen für uns zu kaufen. Sie kosteten zehnmal mehr als üblich, fast den Lohn zweier Wochen meines Vaters. Tanjas Begleiter bezahlte sofort. Tanja nahm die Blumen gern. Begeistert küsste sie den Mann auf den Mund. Mein Kavalier guckte mich bittend an. Es war zu teuer für ihn. „Ich mag Rosen nicht", sagte ich. Er war dankbar und wollte mich küssen. Es war schwierig, ihn abzuwehren.
Wir saßen noch eine Weile da, als Tanja auf die Uhr guckte und sagte: „Ich muss schnell nach Hause, mein Vater ist sehr streng." Tanjas Kavalier wollte sie so einfach nicht gehen lassen. Er küsste und umarmte sie und sagte, dass er nicht mehr ohne sie leben könne.
„Das ist meine Telefonnummer. Wir treffen uns bestimmt wieder," versicherte Tanja.
Zu Hause stellten wir ihren wunderschönen Strauß ins Wasser. „Du hättest nicht auf deine Blumen verzichten sollen, belehrte mich meine Freundin. „Männer schätzen Frauen, für die sie viel ausgeben müssen. Weißt du, sie werden sich auch an diesen Abend erinnern. Sie waren bestimmt zum ersten Mal in so einem Lokal. Für sie war dieser Abend bestimmt einmalig.
„Wieso einmalig? Wolltest du dich nicht mit ihnen wieder treffen?", wunderte ich mich.
„Natürlich nicht. Ich habe eine falsche Nummer angegeben".
„Mir tun sie Leid," erwiderte ich.
„Denk zuerst an dich selbst. Stellst du dir vor, mit denen zu schlafen?!"
Na ja...
„Wir können so viele Männer kennen lernen wie wir wollen."
Innerhalb der nächsten fünf Monate wiederholten wir das Ganze. Die Treffen mit Männern, oft viel älter als wir, machten unser Leben abenteuerlich. Es war ein geheimnisvolles Spiel, spannend und faszinierend. Und es war für mich immer interessant zu beobachten, wie Tanja mit Männern umging. Mit ihren weichen Gesten und begeisterndem Lächeln gab sie den Männern das Gefühl, wichtig zu sein.
-3-
Nach unserer Ausbildung fing Tanja an in einem Kindergarten zu arbeiten. Sie war jeden Tag perfekt geschminkt und schön angezogen, als würde sie zum Rendezvous gehen. Sogar im Winter bei Minus zwanzig Grad trug sie eine dünne Strumpfhose und Schnürstiefel mit hohen Absätzen. Fast immer war sie fröhlich und klagte niemals über ihren Hundelohn.
Sonntags gingen wir manchmal in einen Offiziersklub zum Tanzen. Tanja träumte über Liebe und einer Heirat mit einem Offizier. Sie dachte, dass alle Militärs sichere und zuverlässige Männer sind. Es war oft tatsächlich so. Außerdem verdienten sie mehr als andere Bürger und bekamen Wohnungen vom Staat. Ich hatte überhaupt keine Lust auf Militärs, ich fand sie stumpf und langweilig. Wie kann man freiwillig jahrelang in einer Kaserne bleiben und Befehle von anderen ausrichten? Wir haben doch nur ein einziges Leben, dachte ich damals.
Beim näheren Bekanntwerden mit einigen Offizieren wurde ich noch mehr enttäuscht. Viele von ihnen wollten einfach Sex mit Mädchen haben, waren jedoch schon verheiratet. Mit einem solchen Typen hatte Tanja eine lange Romanze. Sie erfuhr viel später, dass er nicht frei war. Er hat sie belogen, sie war jedoch in ihn echt verliebt.
Mein Kavalier war dagegen ehrlich.
„Ich bin leider nicht frei", gab er zu. Das war ein gepflegter junger Mann in prächtiger Uniform. Wir tanzten den ganzen Abend. Er war lustig und nett, dass ich mich wie im siebten Himmel fühlte. Seine Wörter waren wie ein Schlag für mich.
„Ich werde noch ein ganzes Jahr in Leningrad sein. Meine Frau und mein Sohn (er zeigte mir das Foto) wohnen in einer anderen Stadt. Ich brauche für diese Zeit eine Frau. Ich bin ein Mann, weißt du? Du hast mir sehr gefallen. Du bist so frisch und jung. Ich werde alles für dich tun, alle deine Wünsche erfüllen."
Ich wollte nichts hören. Wut stieg in mir hoch. Ich sagte nur, dass sein Angebot gemein sei und lief schnell weg. Auch Tanja litt sehr, als sie erfuhr, dass ihr Geliebter eine Familie hat. Er unterstützte sie materiell und half ihr eine Stelle als Sekretärin in einer Militärschule zu bekommen. Ihre Beziehung dauerte nicht so lange, bald musste ihr Freund dienstlich nach Moskau umziehen. Die erste Liebe war vorbei, und es war nicht schlimm, sie hatte sowieso keine Zukunft.
Jetzt arbeitete Tanja zwischen Männern und fühlte sich wie eine Schmetterling auf einer Wiese. Fast jeden Tag erzählte sie mir über ihre neuen Siege und neue Kavaliere. Hier verdiente sie auch wenig, bekam aber oft von Offizieren kleine Geschenke oder Blumen geschenkt.
„Heute treffe ich Alexej, er ist ganz nett und so verliebt. Er hat schon übers Heiraten gesprochen."
„Und du?"
„Ich weiß nicht, ob ich ihn wirklich liebe. Aber meine Eltern sprechen immer über meine Heirat. Das ist einfach unmöglich, dass sie sich immer einmischen. Und er ist nicht von hier,", sagte Tanja dazu.
Das war natürlich ein wichtiger Grund, denn es bedeutete: Er hat keine Wohnmöglichkeit. Wie viele Mädchen, wollten wir damals unabhängig von unseren Eltern werden, träumten von einem Bräutigam mit eigener Wohnung oder eigenem Zimmer. Viele wohnten jahrelang mit ihren Eltern und sogar Großeltern zusammen. Fast niemand konnte eine Wohnung mieten, fast alle Häuser gehörten dem Staat. Der Staat vergab die Wohnungen, aber beeilte sich nicht. Man konnte ein ganzes Leben lang warten. Eine Heirat konnte die Situation verbessern oder verschlechtern. Die Heirat mit einem Mann ohne Wohnmöglichkeit bedeutete, dass er in meine Wohnung ziehen müsste und dadurch ein Recht auf meine Wohnfläche bekäme. Es gab wirklich schreckliche Geschichten, wenn man nach der Scheidung seine winzige Wohnung noch teilen musste.
Trotzdem wollten fast alle Mädchen so schnell wie möglich heiraten. Mit 22 waren viele schon verheiratet, einige hatten schon Kinder. Mit 25 allein zu sein hieß ein Pechvogel zu sein. Mit 28 war man in den Augen vieler schon eine alte Jungfer. Arme russische Mädchen, ihnen fehlten einfach ordentliche Männer! Im allgemeinen gelten russische Frauen als schön und zuverlässig. Keiner auf der Welt kann sich vorstellen, was für Monster russische Männer sind. Total verwöhnt von den Frauen, trinken sie viel Wodka, arbeiten zu wenig und benutzen Schimpfwörter im Gespräch. Dabei glauben sie, sie seien die besten und die mutigsten Männer in der Welt.
-4-
Eines Tages lernte ich einen Mann kennen. Er kam auf mich zu, als ich den Newski Prospekt entlang flanierte. Jury war Ende 20, ein charmanter Mensch mit einer wunderschönen Stimme und guten Manieren. Er sprach über Demokratie, Menschenrechte und war sogar Mitglied einer winzigen antikommunistischen Gruppe. Er sprach so leidenschaftlich und überzeugend, dass ich unser System mehr und mehr kritisch sah. Früher dachte ich nicht darüber nach, warum wir alle so arm sind. Wir hörten überall, dass bei uns alles zum Besten sei. Jetzt stand vor mir ein Mann, der darüber ganz anders redete. Er hatte so viele Argumente, dass ich sprachlos war. Jury arbeitete nachts als Wachmann in einer Fabrik. Er sagte, dass er die Zeit tagsüber für wichtigere Dinge brauche, nämlich, für seinen Kampf gegen das Regime.
Eines Tages gingen wir den Newski Prospekt entlang und er erzählte aus seinem Leben.
„Ich bin allein, meine Frau hat mich verlassen, für sie war Geld wichtiger. Was wir tun - meine Freunde und ich - ist doch das Wichtigste: denn dieses Regime bringt Menschen Unglück und Unfreiheit".
„Perestrojka brachte uns doch Freiheit,
erwiderte ich, „ jetzt kann man viel mehr tun, als früher."
„Das ist nicht genug, das ist zu wenig. Wir kämpfen für echte Demokratie." Ich schaute in seine klaren blauen Augen. Er trug die Haare lang bis zur Schulter und einen Bart, sah aus wie ein Mensch aus dem 19. Jahrhundert. In seiner Figur und seinem Gesicht steckte etwas Mutiges.
Die nächsten Wochen lebte ich von einem Treffen zum anderen. Ich wartete auf seine Anrufe und wusste ganz genau: Ich bin verliebt. Ich möchte zu ihm gehören. Abends erzählte ich Tanja über meine Liebe. Sie war skeptisch. „Tagsüber zu Hause? Was für ein fauler Kerl! Gegen unser System? Er kann doch nichts ändern, das sind nur Wörter. Ohne Frau? Du weißt noch nicht alles!"
Bei unserem nächsten Treffen trug Jury ein Smoking und sah besonders elegant aus. Er wurde oft gegrüßt und ich merkte immer wieder, wie viele Bekannte er hatte. Dieses Mal saßen wir im literarischen Café auf dem Newski.
„Das ist etwas besonders", sagte Jury zu mir, aber mir gefiel es nicht. Alles war zu zeremoniell. Während des Essens spielten Musikanten traurige Melodien, der Saal war hell beleuchtet, alle Kellnerinnen (ziemlich alte Damen, in Perücken und altmodischen Kleidern) waren reserviert und kalt.
„Was willst du essen?" fragte Jury und gab mir die Speisekarte. Ich guckte schnell auf die Karte und wusste nicht, was ich wählen sollte. Er war nachdenklich und zerstreut. Letzte Nacht