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Das Tor nach Andoran
Das Tor nach Andoran
Das Tor nach Andoran
eBook663 Seiten9 Stunden

Das Tor nach Andoran

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Über dieses E-Book

Riana, die in ihrer Welt, welche Andoran genannt wird, als Einhorn lebt, gerät auf ihrer Flucht vor Kisho durch Magie nach Verden, die Welt in der Gandulf der Weltenwächter und Julian der Hirtenjunge leben. Jedoch hat sich ihre Erscheinungsform gewandelt, sie ist zum Menschen geworden.
Als ihre Verfolger Riana, sogar auf Verden finden, erkennt sie, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als nach Andoran zurückzukehren und den Kampf mit Kisho, dem schwarzen Magier aufzunehmen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Aug. 2012
ISBN9783847620204
Das Tor nach Andoran

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    Buchvorschau

    Das Tor nach Andoran - Hubert Mergili

    Kapitel 1

    Der Geschichtenerzähler

    Aufgeregtes und geschäftiges Treiben herrschten in Elveen, einem kleinen Dorf im Wolfstal an den Ufern des Duna. Dieser noch junge Fluss entspringt in den dicht bewaldeten Hügeln, die dem Varan Gebirge vorgelagert waren.

    Fest eingehüllt in seinen abgewetzten löchrigen Umhang, saß der alte Mann im Schatten der Veranda seines Hauses. Mit wachen Augen blickte er zu dem weitläufigen Dorfplatz hinüber. Dort waren die Männer und Frauen eifrig mit den Vorbereitungen für das Fest heute Abend beschäftigt.

    Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt seit Stunden überschritten und näherte sich unaufhaltsam dem Westen. Jetzt am späten Nachmittag strömten die Bauern mit ihren Familien aus den umliegenden Höfen herbei. Es galt einen der Höhepunkte im Jahr mit den Bewohnern des Dorfes, zu feiern. Heute begingen alle nach althergebrachten Brauch Mittsommer, den längsten Tag und die kürzeste Nacht.

    Jeder Einwohner, vom kleinen Jungen bis hin zu den Alten war damit beschäftigt, die dazu notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Jedermann wollte sein Bestes zum Gelingen des Festes beitragen. Die Männer stellten lange Tische auf, worauf die Frauen und Mädchen die leckersten Speisen, Kuchen und Süßigkeiten abstellten. Seit dem frühen Morgen standen sie an ihren Öfen, wo sie fleißig arbeiteten.

    An anderen Tagen im Jahr diente der Ortskern als Marktplatz, doch heute gehörte er den Feiernden. Einige Halbwüchsige waren damit beschäftigt in der Mitte des weitläufigen Dorfplatzes, einen gewaltigen Holzstapel zu errichten. Der sollte bei Einbruch der Dunkelheit, begleitet vom lauten Jubel der Anwesenden in Flammen aufgehen.

    Andere wiederum befeuchteten die mit Holzschindeln gedeckten Dächer der umliegenden Häuser mit Wasser aus dem nahen Fluss. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, schließlich wollte man ein Fest feiern und nicht das ganze Dorf anzünden. Zudem stellte man gefüllte Eimer bereit, um für alle Fälle gewappnet zu sein.

    Seit dem frühen Vormittag drehten sich die Spieße mit Schweinen, Schafen und Ziegen, deren verlockender Duft durch das ganze Dorf zog. Der leichte Südost Wind trug das Aroma bis hinauf zu dem alten Mann, dem in freudiger Erwartung das Wasser im Munde zusammenlief.

    Wie jedes Jahr drehten die jüngeren Kinder unter den Augen von Levin die eisernen Stangen, an denen die Braten befestigt waren. Levin, ein Bär von einem Mann bekleidete das Amt des Dorfvorstehers und seinen Anweisungen leistete man widerspruchslos Gehorsam.

    Die Sonne senkte sich langsam dem Horizont entgegen und die ersten kleineren Feuer und Fackeln wurden von den Dorfbewohnern entzündet.

    Der wache Blick Julians, wie die Dorfbewohner den alten Mann nannten, wandte sich von dem geschäftigen Treiben auf dem Dorfplatz ab. Er wanderte nach Norden zu den sanft ansteigenden Hügeln. Hinter ihnen erhob sich das mächtige Massiv des Varan-Gebirges, mit seinen das ganze Jahr über mit Schnee bedeckten Gipfeln. Dort in den Hügeln begann die Geschichte, die er heute Abend seinen Zuhörern anlässlich des Festes erzählen wollte.

    Julian musste lange mit sich ringen, den Einwohnern die Geschichte, die er als junger Bursche erlebte, zu erzählen. Am Ende siegte aber doch das Gefühl, mit der Vergangenheit endlich abschließen zu müssen. Lange Zeit galt Julian im Dorf als Eigenbrötler, als er sich vor vielen Jahren in Elveen niederließ. Die Einwohner mieden ihn, weil sie nicht wussten, was sie von dem Sonderling halten sollten.

    Erst im Laufe der Zeit gelang es ihm den Schmerz hinter sich zu lassen, und nach vorne zu schauen. Mit einem leisen Ächzen erhob sich der alte Mann, mit seinem langen bis auf die Brust herabfallenden weißen Bart.

    Seine schneeweißen Haare, die langsam dünner wurden, reichten ihm bis auf die Schultern herab. Auf seinem am oberen Ende gebogenen Stab gestützt ging Julian in das Haus zurück.

    Vor der langen Truhe, die unter dem Fenster neben dem Eingang in einer Ecke stand, blieb er stehen. Mit dem Stab angelte er sich einen der Hocker und ließ sich darauf nieder. Es bereitete ihm einige Mühe den schweren Deckel der Kiste anzuheben, doch als er den Inhalt erblickte, fingen seine Augen zu glänzen an.

    Mit einem Seufzer rückte er den Hocker näher an die Kiste, damit er besser deren Inhalt betrachten konnte. Nachdenklich strich Julian mit den vom Alter runzligen und fleckigen Händen über den oben liegenden verblichenen ausgewaschenen braunen Umhang.

    Seine Rückenmuskeln strafften sich und mit einem Ruck setzte sich Julian gerade hin. Sein Blick wanderte zu dem Rechteck des Fensters, in dem man schon ganz deutlich die Abenddämmerung erkennen konnte. Der Inhalt der Truhe mahnte Julian, seine vermutlich letzte große Aufgabe in seinem Leben in Angriff zu nehmen.

    „Die Suche nach einem Nachfolger"

    Viel zu lange schon schob er diese Pflicht vor sich her, obwohl ihn die mahnende Stimme in seinem Inneren dazu drängte. Aber es war keine leichte Aufgabe, die auf die Schnelle erledigt werden konnte, denn sein Nachfolger musste einige Eigenschaften mitbringen, die er unbedingt vorweisen sollte.

    Er musste eine gehörige Portion Mut, den Glauben an das Übernatürliche und absolute Verschwiegenheit mitbringen. Zudem benötigte sein Nachfolger einen wachen Verstand und körperliche Kraft, um die Aufgaben, die auf ihn warteten zu bewältigen.

    Julian nahm den alten Umhang aus der Truhe und legte ihn auf den aufgeklappten Deckel. Unter ihm kamen ein Jagdbogen aus Eschenholz und ein Jagdmesser zum Vorschein. Beides legte er behutsam neben die Truhe auf die Bretter des Fußbodens. Mit seinen Fingern tastete er weiter suchend zwischen der Kleidung und anderen Gegenständen nach dem dicken Buch.

    Seine Hände spürten unvermittelt weiches Leder, über das Julians Finger liebevoll und ehrfürchtig glitten. Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, bei denen auch nach so vielen Jahren eine oberflächlich verheilte Wunde aufgerissen wurde.

    Der Jagdanzug aus feinem Hirschleder fing bei der Berührung in seinen Händen zu vibrieren an. Er schien nach all den Jahren noch Reste der Magie zu beherbergen, mit denen er einst in Berührung kam.

    Doch Julian wusste, dass es nur die Erinnerungen waren, die seine Hände zitternd machten. Rasch schob er den Anzug beiseite und setzte seine Suche nach dem Buch fort. Julian fand es zuunterst in der Truhe zwischen Hosen und Hemden. Er nahm es heraus und legte es auf seine Oberschenkel. Dieses Buch erhielt Julian vor langer Zeit von seinem Lehrer, obgleich es ihm erschien, als wäre es erst gestern gewesen. Dieser weihte ihn in die Geheimnisse des Buches ein und bestimmte Julian zu seinem Nachfolger. Seine Augen schweiften zu dem Rechteck des Fensters und seine Gedanken glitten in weite Ferne.

    Er musste an den Tag denken, als Gandulf sein Lehrer in sein Leben trat. Gandulf und der Troll Granak hatten sein Dasein mit einem Schlag verändert. Und nicht zuletzt das Einhorn, das mit einem gewaltigen Knall in sein Leben trat. Dieses Ereignis gab seinem bisherigen Leben eine Richtung, an die er zu dieser Zeit nicht in seinen kühnsten Träumen gedachte hätte.  

    Seufzend packt Julian die Sachen, bis auf den Umhang wieder in die Kiste zurück. Dann schreckte ihn ein Klopfen an der Türe auf.

    »Meister Julian es wird Zeit. Die Sonne ist schon untergegangen und die Leute warten ungeduldig auf Euch. Sie wollen Eure Geschichten hören.«

    Julian klappte den Deckel zu und rief zur Tür hin. »Komm rein Junge, ich bin gleich so weit.«

    In der Tür erschien ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren mit einer Laterne in der Hand. Er hielt die Lampe hoch über den Kopf, um die Dunkelheit im Haus besser ausleuchten zu können. Als er den Raum betrat, sah er sich nach Julian um.

    »Gleich bin ich so weit Gerwin,« sagte Julian von der Truhe her.

    Er verschloss die Truhe und erhob sich von seinem Hocker, streifte seinen alten löchrigen Umhang ab und warf sich den aus der Truhe über.

    »Gerwin mein Junge, das Fest hat gerade erst begonnen. Meine Zuhörer laufen sicher nicht weg, weil ich mich ein bisschen verspäte.«

    Ein Lächeln huschte über Gerwins Jungengesicht.

    Gerwin hatte den Mann sofort ins Herz geschlossen, als der ihn bei sich aufnahm. Er klopfte vor über einem halben Jahr völlig abgerissen und zerlumpt an Julians Tür. Halb verhungert, in schmutzige verschlissene Kleidung gehüllt, bettelte er um ein Stück Brot.

    Julian gab dem hohlwangigen, abgemagerten Jungen mit dem krausen blonden Kopfhaar zu essen. Während dieser sein Essen heißhungrig in sich hinein schaufelte, fragte ihn Julian über das woher und wohin aus.

    Wie sich herausstellte, kam Gerwin aus Baud, einer Stadt, die zehn Tagesreisen im Süden lag. Er war vor den Schlägen und Misshandlungen seines Stiefvaters geflohen.

    »Lieber sterbe ich, als noch einmal zu diesem Sadisten zurückzugehen,« hatte ihm Gerwin beteuert und so nahm Julian den Jungen in sein Haus auf. Überall erzählte er den Dorfbewohnern, die es hören wollten, dass Gerwin von einer weit entfernten Verwandten stamme. Da der Junge keinen anderen Verwandten habe, kümmere er sich jetzt um Gerwin.

    Seither sorgte sich Gerwin um das Haus, hielt es sauber und half Julian, wo er nur konnte.

    »Dann lassen wir sie nicht länger warten,« sagte Julian mit leiser Erregung in der Stimme. Er nahm seinen Stab auf und folgte Gerwin, der mit der Laterne vorausging. Inzwischen war es dunkle Nacht geworden. Der Lärm des Festes drang bis zu ihnen herauf, als sie die kleine Anhöhe hinab ins Dorf gingen.

    Begleitet von begeisterten und anfeuernden Zurufen, trafen Julian und Gerwin auf dem Dorfplatz ein. Zurufe wie, „Julian setze Dich zu uns oder „welche Geschichte wirst Du heute zum Besten geben, begrüßten die Leute ihn.

    Levin der Dorfvorsteher kam auf sie zu und führte Julian zu seinem Platz am Tisch der Dorfältesten. Kaum hatte er an dem reichlich gedeckten Tisch Platz genommen, als sich die Dorfjugend vor dem Tisch versammelte. Mit Händeklatschen und aufmunternden Rufen forderten sie Julian auf, eine seiner zahlreichen Geschichten von sich zu geben.

    »Langsam Kinder,« rief ihnen Julian belustigt zu. »Gönnt einem alten Mann den Genuss eines saftigen Bratens und er wird euch mit einer unterhaltsamen Geschichte belohnen. Ich erzähle euch eine Geschichte, die sich vor langer Zeit zugetragen hat. In ihr spielen Einhörner Zwerge Trolle Mantikore und Harpyien mit, aber auch Menschen. Sie ist etwas traurig, ein bisschen lustig, und lehrreich zugleich.«

    Erwartungsvolle Spannung auf die kommende Erzählung legte sich über den Dorfplatz. Die jüngeren Kinder setzten sich in einem Halbkreis vor seinem Tisch. Geduldig warteten sie ab, bis Julian seinen Braten fertig gegessen hatte. Endlich war es dann so weit. Julian wischte sich den Mund mit einem Tuch ab, wobei sein Blick durch die Runde ging.

    »Seid Ihr nun bereit meine Geschichte zu hören,« fragte er laut, sodass es auch jeder verstand.

    Begeisterte Zustimmung schlug dem Alten entgegen und alle Bewohner forderten ihn durch den einstimmigen Zuruf, „Ja wir sind bereit" auf, mit der Erzählung zu beginnen.

    Julian erhob sich und wanderte wie jedes Mal, wenn er eine Geschichte zum Besten gab, durch die Reihen seiner Zuhörer. So bemühte er sich, seinen Erzählungen, durch Gebärden und Bewegungen noch mehr Leben einzuhauchen.

    »Vor langer, langer Zeit nicht weit von Elveen entfernt ……,«

    begann Julian seine Geschichte mit klarer fester Stimme zu erzählen. Seine Hand machte eine ausladende Bewegung in Richtung der Hügel, ehe er weiter sprach, »trug sich Folgendes zu …………

    Gebannt hingen die Zuhörer an den Lippen des alten Mannes. Sie tauchten in ihrer Fantasie in die Geschichte ein, die Julian nun zum Besten gab.

    Kapitel 2

    Riana

    Andoran

    Das donnernde Grollen der Hufe ließ die Erde erzittern und in einer Staubwolke tauchte eine Herde Einhörner auf, die im rasenden Galopp über den Hügel hinwegfegte. Die Herde hielt auf eine bewaldete Erhebung zu, die ihnen Schutz vor ihren Verfolgern versprach. Abgekämpft und erschöpft lief Riana, eine junge Stute neben ihrer Mutter Servina her.

    Servina machte sich Sorgen um ihre Tochter und die Gefährten der Herde, denn lange konnten sie dieses Tempo nicht mehr halten. Ihre Tochter und die anderen brauchten unbedingt eine Ruhepause, sonst würden sie alle vor Erschöpfung zusammenbrechen.

    Servinas Lungen brannten bei jedem Atemzug, den sie tat, und sie konnte sich vorstellen, was ihre Tochter durchmachte bei dem mörderischen Tempo, das sie seit fast zwei Tagen hielten. Servina geriet ins Straucheln, fing sich jedoch sofort wieder. Die Wunde, die ihr einer der Hunde bei dem Überfall beibrachte, schmerzte, beeinträchtigte und schwächte sie.

    An jenem Nachmittag vor zwei Tagen schlichen sich finstere Kreaturen unbemerkt von ihnen an die friedlich grasende Herde heran und fielen mit ihren furchterregenden Hunden über sie her. Nur mit Glück gelang es der Herde von Servina geführt, diesem Überfall zu entgehen.

    Die kleinen bärtigen, in schwarzes Leder gekleideten Kreaturen gaben aber nicht auf und verfolgten sie unerbittlich. Es grenzte an Magie, dass sie der Herde überhaupt folgen konnten. Ihre pockennarbigen Gesichter zu Fratzen verzerrt jagten sie die Herde, bis an den Rand der Erschöpfung. Einmal gelang es den Kreaturen nahe genug an die Herde heranzukommen, dass Servina ihren abstoßenden Gestank den sie verbreiteten wahrnehmen konnte. Sie rochen nach Verwesung, Leder und Fäulnis.

    Den meisten Schrecken unter der Herde verbreiteten die Hunde, welche die Kreaturen bei ihrer Jagd mit sich führten. Sie waren groß wie ein neugeborenes Fohlen und aus ihrem Maul, das mit einem furchterregenden Gebiss ausgestattet war, rann der Geifer über ihre Schnauzen.

    Das erstaunliche Tempo, welches die Hunde bei der Verfolgung der Herde halten konnten, hinderte die Jäger nicht im Geringsten. Spielend liefen sie mit ihren zu kurz geratenen Beinen hinter den Hunden her, ohne das geringste Zeichen der Erschöpfung zu zeigen.

    Die bewaldete Erhöhung tauchte vor ihnen auf und Servina verringerte ihre Geschwindigkeit, um ihre Herde vorbeizulassen. Mit argwöhnischen Blicken beobachtete sie die wellige Landschaft, um nach den Verfolgern Ausschau zu halten. Nur wenige Büsche und Bäume wuchsen in der weiten Savanne, die hinter ihr lag und so hatte sie einen freien Blick um die Verfolger rechtzeitig zu erspähen.

    Erst als Servina sich sicher war, dass keine der Kreaturen zu sehen war, tauchte sie in den lichten Wald ein und suchte nach ihrer Tochter.

    Servina lebte mit der Herde in einer parallelen Welt, die sie vor den Nachstellungen der anderen Bewohner Andorans schützte. Es gab nur einen der wusste, wie man das magische Tor in ihre Welt öffnete. „Kisho"

    *Machte er seine Drohung war?* Servina durchlief ein Zittern, das nicht von der Erschöpfung der tagelangen Flucht herrührte, sondern von dem eisigen Schauer hervorgerufen wurde, der ihr Herz zu lähmen drohte. Kisho einst selbst Mitglied der Herde wurde ausgeschlossen und vertrieben, nachdem er die abscheulichste Tat begangen hatte, die ein Einhorn tun konnte. Er tötete einen gleichaltrigen Hengst, der ihn wegen seines rabenschwarzen Fells gehänselt hatte. Daraufhin versammelte sich die Herde und beschloss einstimmig Kishos Verbannung.

    Vor seinem Abzug sprach Kisho jedoch eine Drohung aus, die sich nun zu erfüllen schien. »Das werdet ihr bereuen. Der Tag wird kommen, an dem ihr um euer Leben zittern müsst. Ich werde euch alle töten.«

    Kisho verließ die Welt der Einhörner durch das magische Tor und geriet in Vergessenheit, was Servina nachträglich für einen großen Fehler hielt.

    Die Bösartigkeit des Überfalls und die tagelange Verfolgung ließen nur diesen Schluss zu. Nur Kisho wusste, wie man einem Einhorn seine magische Kraft raubte, um es gefahrlos zu töten. Ihrer Verhaltungsweise nach wussten auch die kleinen Kreaturen, die sie jagten um diesen Umstand.

    Ein erschöpftes Einhorn verlor seine magischen Kräfte und Servina musste nicht ihre Fantasie bemühen, um zu wissen, dass ihnen nur eine kurze Atempause vergönnt war. Servinas Ziel lag in den Bergen, wo die Herde in der Grotte der tausend Lichter in Sicherheit vor den Kreaturen war. Diesen Ort kannte nur sie. Hier gab es Magie, die es ihr ermöglichte die Verfolger zu täuschen und in die Irre zu führen.

    Auf der Suche nach Riana sah Servina die anderen Mitglieder der Herde ausgepumpt und apathisch im Gras liegen. Servinas Herz krampfte sich zusammen und die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. *Wir werden alle sterben. Was wir dringend nötig haben, ist eine längere Rast, damit wir wieder zu Kräften kommen. Aber diese Gelegenheit werden wir nicht bekommen.*  

    So sehr es Servina auch schmerzte, aber es gab nur eine Möglichkeit, um wenigstens Riana vor dem unabwendbaren Schicksal zu bewahren.

    *Ich muss meine Tochter vor Kisho schützen und in Sicherheit bringen.*

    Servina fand Riana in einer kleinen Senke abseits der anderen erschöpft im Gras liegen. Rianas Atem ging keuchend und stoßartig und sie hatte ihre Augen geschlossen.

    »Du musst trinken meine Tochter,« gebot Servina und deutete auf das durch die Senke fließende Bächlein, aber Riana bewegte sich nicht.

    Servina stieß Riana mit ihren Nüstern aufmunternd an, doch Riana hatte nicht die Kraft aufzustehen. Servina legte sich neben Riana ins Gras. Sie wusste, sie musste sich schnell entscheiden, denn wenn die Kreaturen mit den Hunden sie erst fanden, blieb keine Zeit mehr zu überlegen. Noch zögerte sie, aber es musste sein.    

    »Höre mir gut zu Tochter, was ich dir zu sagen habe. Bald reichen meine Kräfte nicht mehr und ich will, dass du dir jedes meiner Worte einprägst,« hörte Riana die eindringliche Stimme ihre Mutter sagen.

    »Sie werden uns alle töten,« vernahm Riana die leise Stimme Servinas,« doch ich werde es nicht zulassen, dass die Kreaturen des Barons auch dich töten.« Servina schnaubte verhalten, als sie der gehetzte Blick ihre Tochter streifte, die sie ängstlich fragte. »Wer sind diese Männer warum tun sie das? Weshalb wollen sie uns alle töten, wir haben ihnen doch nichts getan.« Leise, fast unverständlich antwortete Servina. »Diese Kreaturen sind die Helfer des schwarzen Barons, welcher sich der uns innewohnenden Magie bemächtigen will. Er wird nicht eher ruhen, bis er auch das Letzte von uns getötet hat, oder was noch schlimmer ist, in seiner Festung gefangen gehalten wird. Warum glaubst du lässt er uns von seinen Leuten so hetzen? Ein erschöpftes Einhorn kann seine Magie nicht mehr einsetzen, weil es sie sonst umbringen würde.«

    Riana bebte am ganzen Körper bei der Vorstellung an das Schicksal, das ihrer Herde drohte. Währenddessen sprach Servina weiter, um Riana vom schwarzen Baron zu berichten.

    »Der Baron ist eine grausame machtbesessene Kreatur. Vor langer Zeit war er einer von uns, daher kennt er jede unserer Stärken, aber leider auch unsere Schwächen. Doch ich werde nicht zulassen, dass er dich in seine Fänge bekommt.«

    Servinas Stimme vibrierte, als sie fortfuhr.

    »Kisho wurde in unserer Herde geboren, doch sein pechschwarzes Fell machte ihn zu einem Außenseiter. Selbst sein Vater Alron brachte ihm keine Liebe entgegen, weil Welina seine Mutter bei seiner Geburt ins jenseitige Reich einging. Sein schwarzes Fell gab immer wieder Anlass zu Reibereien unter den Jungtieren, die ihn ständig deswegen hänselten. Eines Tages geriet Kisho so in Wut, dass er ein Mitglied der Herde tötete. Nach langer Beratung mit den Ältesten sprach der Anführer das Urteil über Kisho, der wegen seiner abscheulichen Tat aus der Herde ausgestoßen wurde. Bevor Kisho jedoch die Herde verließ, sprach er eine tödliche Drohung aus in der er ankündigte, alle Einhörner zu vernichten.« Servina machte eine kurze Pause um ihre Worte auf Riana wirken zu lassen, dann beschrieb sie die vergangenen Ereignisse weiter.

    »Kisho ging in die Welt der Menschen hinaus und nahm deren Gestalt an. Einhörner können für einen bestimmten Zeitraum jede beliebige Gestalt annehmen, je nach ihrer magischen Stärke. Doch irgendwann müssen sie wieder ihre wahre Form annehmen. Kishos Stärke scheint sehr groß zu sein, denn er nahm auf Dauer das Aussehen eines Menschen an.«  

    Servina stupste Riana sachte in die Flanke. »Steh auf Tochter uns bleibt nicht mehr viel Zeit,« befahl sie eindringlich und Riana erhob sich mit zitternden Beinen.

    Riana folgte Servina, die sich an den Rand der kleinen Senke begab. Dort stieß ihre Mutter einen lang gezogenen Pfiff aus, der die ruhenden Einhörner aufschreckte. Die Mitglieder der Herde hoben ihre Köpfe und sahen ihre Führerin an.   »Brüder, Schwestern bündeln wir die uns verbliebene Kraft, um Riana vor diesen Kreaturen zu retten,« rief sie ihnen zu.

    Mühsam erhoben sich die Einhörner und näherten sich Mutter und Tochter.

    »Was hast du vor Mutter,« fragte Riana ängstlich, die bemerkte, wie die Mitglieder der Herde einen Kreis um sie zu bilden begannen.

    »Ich bringe dich an einen Ort, wo du vor den Jägern des Barons sicher bist. An diesem Ort gibt es Menschen, in deren Legenden wir vorkommen. Sei vorsichtig im Umgang mit ihnen und halte dich nach Möglichkeit fern von ihnen. Auch unter ihnen gibt es welche, die nach magischem Wissen hecheln, wie die Hunde der Jäger nach ihrer Beute. Aber die größte Gefahr droht dir von den Suchern des Barons. Sie könnten dir dorthin folgen. Die Sucher sind Kishos beste Männer, was das Auffinden und Verfolgen betrifft. Sie werden nicht eher ruhen, bis sie dich aufgespürt und in Fesseln vor Kisho zerren können. Aber keine Angst meine kleine Riana, ich sorge dafür, dass dich nicht jeder gleich erkennt.«

    Über Riana bildete sich ein kuppelförmiger Lichtbogen, der sich auf das junge Einhorn herabzusenken begann. Riana von einer rätselhaften Beklemmnis befallen sträubte sich gegen die Entscheidung, die ihre Mutter zu treffen im Begriff war und Riana rief flehend Servina zu.

    »Mutter ich will bei dir bleiben.«

    Die Antwort Servinas kam als leises Flüstern durch die heller erstrahlende Erscheinung, die nun den Boden berührte.

    »Du bist alles was wir noch haben, unsere letzte Hoffnung, und ich sorge dafür, dass du überlebst. Selbst wenn ich sterbe, werde ich immer bei dir sein und über dich wachen. Kehre erst zurück, wenn der schwarze Baron dir nicht mehr schaden kann. Sei stark meine Tochter.«

    Verzweifelt versuchte Riana den Lichtbogen zu verlassen, doch ihre Beine ließen sich nicht bewegen. Sie schien auf der Stelle festzukleben. Riana erfasste ein ungeheuer Sog, der sie von ihrer Mutter wegzureißen drohte, obwohl sie sich mit aller Macht dagegenstemmte.

    Die Strömung nahm an Stärke zu, und um Riana begann sich schwarze Nacht, auszubreiten. Grell leuchtende Lichtpunkte, die in einem verwirrenden Muster umher tanzten, blendeten sie. Riana fühlte eine undeutliche Veränderung an sich vorgehen, die sie sich nicht erklären konnte und ehe sie in tiefe Bewusstlosigkeit stürzte, vernahm sie einen ohrenbetäubenden Knall.

    Riana sah nicht mehr den Speer, der die Flanke Servinas traf und sie sah auch nicht die grausamen Kreaturen, die mit ihren Hunden über ihre Herde herfiel. Ihr blieb auch der Sucher verborgen, der ihr mit einem gewaltigen Sprung in den magischen Wirbel zu folgen versuchte, fühlte aber auf unerklärliche Weise seine Anwesenheit.

    Als wäre der Sucher gegen eine undurchdringliche Wand gelaufen, prallte er von der wirbelnden Erscheinung ab und stürzte zu Boden. Benommen blieb er neben Servina minutenlang bewegungslos liegen und wartete darauf, dass die unbeschreiblichen Schmerzen in seinem Körper nachließen.

    »Du hast versagt Sucher, meine Tochter wirst du nicht bekommen. Sie ist vor dir und dem Baron sicher,« vernahm Gallan der Sucher die schwache Stimme Servinas. »Du wirst Riana nicht finden, denn sie befindet sich an einem sicheren Ort, den nur ich kenne, und ich sterbe lieber, als ihn preiszugeben.«

    Servinas Atem ging röchelnd und Gallan wusste, dass ihm keine Zeit blieb, dem tödlich verletzten Einhorn sein Geheimnis zu entreißen.

    Gallans Gedanken überschlugen sich. Mit letzter Kraft war es der Herde gelungen, ihr jüngstes Mitglied vor ihm in Sicherheit zu bringen, was die Sache erschwerte. Der Befehl des Barons ließ keinen Spielraum für Entschuldigungen und Gallan sah sich unvermittelt in der Rolle des Versagers.    

    Wütend sprang er auf die Beine, packte den Speer der Servina getroffen hatte. Mit einem Ruck riss er ihn aus ihrem Körper und schrie seine Wut hinaus.

    »Sag mir, wo du deine Tochter hingebracht hast.«

    Silbrig glänzend trat ein Schwall Blut aus der Wunde und ergoss sich ins Gras. Servina röchelte gequält, doch ihre letzten Worte, fraßen sich wie Feuer in Gallans Seele.

    »Kisho hat keine Verwendung für Versager und du weißt, wie er mit ihnen umgeht.«

    Servinas letzte Worte versetzten Gallan in Angst. Schwer atmend stand Gallan der Sucher auf seinen Speer gestützt da und überlegte fieberhaft. Dem Einhorn war es tatsächlich gelungen, ihn zu verunsichern.

    *Sicher er wusste nicht, wohin das Junge durch die Magie der Einhörner geschickt wurde, aber das schien ihm sein kleinstes Problem zu sein.* Die Stute traf mit ihren letzten Worten eine tief verwurzelte Angst vor der Grausamkeit seines Herrn.

    Dessen Befehl war bestimmt und klar. »Tötet die Herde, das Jüngste bringe mir aber lebend auf die Festung.«

    Gallan fröstelte bei dem Gedanken und in seiner Erinnerung zogen Bilder herauf, die er am liebsten vergessen hätte. Kisho ließ eines Tages die Sucher in dem weiten Hof der Festung antreten, um sie Zeuge werden zu lassen, wie er auf Versagen reagierte.

    Vor ihren Augen bestrafte er einen verdienten, dem Baron treu ergebenen Sucher aufs Grausamste. Ihm war es nicht gelungen das goldene Horn der wilden Reiternomaden, die weit im Westen Andorans umherzogen zu stehlen. Diesem Horn sagte man magische Kräfte nach, und es sollte jede Krankheit heilen und ewige Jugend schenken können.

    Kargon so hieß der Mann, stand vor Kisho und bettelte um eine erneute Chance, doch Kisho lächelte nur grausam. Was dann kam, verfolgte Gallan die folgenden Nächte und stürzte ihn in wilde Albträume. Kisho hob leicht seine Hand, aus der ein roter Lichtfaden auf Kargon zu glitt. Kargon schien fest mit dem Boden verwachsen zu sein, als sich sein Körper von den Beinen her zu verflüssigen begann. Seine Schreie um Gnade und die Beteuerung alles zu tun um seinen Herrn zufrieden zustellen halfen ihm nichts.

    Gallan schüttelte sich, wenn er nur daran dachte, wie er zusehen musste, als Kargon im Boden des Hofes zu versinken begann. Eine Pfütze Flüssigkeit breitete sich gemächlich um den Körper des Unglücklichen aus, dessen von Irrsinn gezeichneter Blick die Umstehenden Hilfe suchend ansah.

    Als Gallan sich von dem Schauspiel abwandte, sahen nur noch die Brust und der Kopf des Unglücklichen aus dem Boden, dessen Schreie inzwischen in Wimmern übergingen, bis sie ganz verstummten. Nur die nasse Kleidung und ein feuchter Fleck blieben von Kargon übrig.

    Noch ehe sich die versammelten Sucher von ihrem Schrecken erholen konnten, donnerte die Stimme Kishos über sie hinweg. »So ergeht es jedem der es wagt, mich mit billigen Ausreden zu vertrösten. Ich hoffe ihr habt verstanden, was mit denen geschieht, die versagen.«

    Noch Tage nach diesem Ereignis gelang es Gallan nicht seinen rebellierenden Magen zu beruhigen, der sich stets dann meldete, wenn die Bilder der Hinrichtung vor seinem geistigen Auge auftauchten. Sogar jetzt spürte er Übelkeit.

    »Hier sind die Hörner, wie ihr befohlen habt.« Die schnarrende Stimme riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.

    Ein Jäger trat in sein Blickfeld. Gallans Magen zog sich zusammen je näher die Gestalt kam. Sie stanken widerlich nach Verwesung, Exkrementen und Tod diese Kreaturen, von denen Gallan nicht wusste, wo sie herkamen. Im Auftrag des Barons hatte er schon fast ganz Andoran bereist, aber noch nie einen von ihnen gesehen oder davon gehört. Selbst auf seinen Reisen in ferne Welten, die er auf Kishos Anordnung hin unternahm, war er keinem wie ihnen begegnet.  

    Plötzlich und wie aus dem Nichts tauchten die gnomenhaften Wesen, die Kisho Wurrler nannte auf. Anfangs sah Gallan nur wenige von ihnen, doch mit jedem Tag wurden sie mehr, bis sich die Kreaturen in der ganzen Festung aufhielten.

    Sie besaßen eine dunkle fast schwarze Haut von denen sich ihr feuerrotes Haupt und Barthaar wie Flammenzeichen abhob. Ihre stechenden hellen Augen jagten jedem, der in sie sah, einen kalten Schauer des Entsetzens über den Rücken. Gekleidet waren die Wurrler ganz in schwarzes Leder, das stank, als hätten sie erst gestern einem erlegten Tier die Haut abgezogen.

    Die Wurrler bewegten sich flink, sodass ein normales Auge ihren Bewegungen kaum folgen konnte und sie waren unerschrocken und mutig. Sie besaßen noch eine Eigenschaft, die sie für Gallan bedrohlich erscheinen ließen. Die Wurrler waren unsagbar grausame Geschöpfe.

    Gallan beobachtete einmal, wie sie einen Troll aus dem hohen Norden, der gut und gerne drei Meter groß war und sicher fünfhundert Pfund wog langsam zu Tode quälten.  

    Den Troll hielt sich Kisho zur allgemeinen Belustigung und als Objekt für seine grausamen Späße. An die Grundmauern der Festung gekettet fristete er sein trauriges Leben bis Kisho eines Tages seiner überdrüssig war. Er ließ fünf von den Kreaturen gegen den von seinen Fesseln befreiten Troll antreten und versprach ihm sogar die Freiheit, wenn es ihm gelänge, die Wurrler zu besiegen. Es wurde ein ungleicher Kampf. Die fünf flinken wendigen Wurrler hatten Speere, die sie geschickt gegen den Troll einsetzten und ihm so unzählige Wunden zufügten.

    Der Troll dagegen konnte sich nach der langen Gefangenschaft und den Schmerzen, die sie ihm zufügten, kaum bewegen. Nach mehr als acht Stunden lag der Troll verblutet im Sand des Vorhofes und wurde von den Hunden der Wurrler zerfleischt.

    Der Wurrler reichte Gallan die abgeschlagenen mit silbernen blutverschmierten Hörner der Tiere, welche er mit angehaltenem Atem entgegen nahm. Wortlos steckte Gallan sie in seine Jagdtasche, die er um die Schulter hängen hatte.

    Der erste Teil des Auftrags verlief glatt und ohne Schwierigkeiten. Aber wie erklärte er seinem Herrn, sein Versagen bei der anscheinend wichtigsten Einzelheit, auf die der Baron unbedingt bestand?

    »Eure Aufgabe ist erledigt,« sagte er gepresst. »Ich brauche euch nicht mehr,« fügte er im barschen befehlsgewohnten Ton hinzu. Dabei machte er eine Handbewegung, die den Jäger verscheuchte. Kurz darauf hörte er wie die Jäger mit ihren Hundemonstern die Senke verließen und er alleine mit seinen Gedanken zurückblieb.

    Immer noch auf seinen Speer gestützt stand er da, wobei sein Blick zu der Stelle wanderte, an der die junge Stute verschwunden war. Gallan fiel es schwer angesichts der Umstände einen klaren Gedanken zu fassen, eines aber wusste er sicher: Ohne das junge Einhorn konnte er nicht in die Festung zurück.

    Er musste das Einhorn suchen und fangen danach erst konnte er es wagen dem Baron unter die Augen zutreten. Er wollte nicht wie Kargon bestraft werden, was sicherlich geschah, wenn er es nicht schaffte, das Einhorn zu finden. Dabei blieb ihm nicht viel Zeit.

    Kisho würde misstrauisch, wenn er nicht innerhalb der nächsten beiden Tage mit den Hörnern auf der schwarzen Festung erschien. Er würde glauben Gallan wolle die Hörner für sich behalten und er würde ihn als Verräter abstempeln, was keinen Unterschied zu einem Versager machte. Das Ende war das Gleiche.

    Alle Sucher des Barons, unterstützt von den Wurrler würden ihn jagen. Es gab dann in keiner der vielen Welten einen Ort, an dem er sich sicher vor den Nachstellungen und der Rache des Barons fühlen konnte. So oder so, der Baron würde ihn auf alle Fälle jagen, bis er sein vermeintliches Eigentum zurück bekam.

    Eine neue Frage drängte sich Gallan förmlich auf. *Was hatte der Baron mit den Hörnern vor?* Gallan wusste von der Machtgier seines Herrn und er verspürte bei dieser offenen Frage einen kalten Schauer zwischen seinen Schulterblättern.

    *Erhoffte sich der Baron durch die Hörner noch mehr magische Macht zu erlangen? Ja …, die Antwort lautete eindeutig ja.*

    Seit Gallan in Kishos Dienste trat, handelten sich die meisten Aufträge um magische Artefakte, die er unbedingt in seinen Besitz bringen wollte. Er schickte seine Sucher in die entlegensten Welten, um diese Gegenstände zu stehlen. Zu diesem Zweck trug jeder seiner Sucher einen goldenen Ring mit einem roten Rubin, der mit den richtigen Worten das Tor zu anderen Welten öffnete.

    Gallan wusste von einem Kristallschädel, den ein Volk in einer Welt die Jaselon hieß, als ihr Heiligtum verehrte. Kisho wählte zwei Sucher aus, die den Auftrag erhielten den Schädel zu stehlen egal wie. Viele Monate später kam einer der Sucher schwer verletzt und dem Tode nahe zurück.

    In einem Leinensack überreichte er unter Aufbietung seiner letzten Kräfte dem Baron den Schädel und brach tot zusammen.

    Weder eine würdige Bestattung oder ein Wort der Trauer, fand Kisho für nötig, nein er machte sich sogleich zu seiner Artenfaktenkammer auf und ließ sich vier Tage lang nicht sehen. Gallan und einige Sucher gaben ihrem Kameraden das letzte Geleit und beerdigten ihn außerhalb der Festungsmauern, nahe bei einem Hügel.

    Oder der reich verzierte Opferdolch eines Stammes im Westen von Andoran, dem man nachsagte, er hielte die Seelen der geopferten gefangen. Kisho nahm sich selbst der Angelegenheit an und beseitigte so nebenbei den ganzen Stamm, um in den Besitz des Dolches zu kommen.

    Es gab noch zahlreiche Beispiele von Kishos Gier nach solchen magischen Gegenständen und jeden, den er in seiner Kammer aufbewahrte, hatte eine Geschichte zu erzählen.    

    Gallan konzentrierte seine Gedanken wieder auf sein eigenes Dilemma. Selbst wenn er die abgeschlagenen Hörner an einem sicheren Ort versteckte, konnte er den Baron damit nicht unter Druck setzen. Kisho besaß perfide Mittel, um ihn zum Sprechen zu bringen und auch wenn Kisho ihn nicht sofort tötete, sondern in seine Kerker sperrte, kam es im Endeffekt auf dasselbe hinaus.

    Mit Schaudern dachte Gallan an die nassen, dreckigen und finsteren Verliese in der Festung des Barons. In sie kam man zwar schnell hinein, aber nicht mehr heraus, solange der Baron nicht damit einverstanden war.

    Keine seiner Überlegungen führte zu einem befriedigenden Ergebnis. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als herauszufinden, wo sich die Stute versteckte.

    Der Sucher zog seinen Speer aus der Erde und wandte sich um.

    Gallan stieß einen lang gezogenen Pfiff aus, dem ein leises Wiehern antwortete. Am Kamm des Hügels erschien ein nachtschwarzer Rappe, der sich im Schritt auf seinen Herrn zubewegte und dann regungslos neben ihm stehen blieb. Der Sucher befestigte seinen Speer mit den dafür vorgesehenen Riemen neben dem Sattel und bestieg mit einem eleganten Schwung sein Pferd.

    *Es bleibt dir nichts anderes übrig, als alle erreichbaren Welten nach der Stute abzusuchen,* dachte er sich beim Aufsteigen. »Jarduk alter Junge wir haben noch eine Menge zu erledigen,« sagte er mehr zu sich selbst als zu dem Rappen.

    Gallan streifte seinen linken Handschuh ab blickte kurz auf den Ring und sprach die Formel, die den Ring zum Leben erweckte. Der goldene Ring mit dem daumennagelgroßen Rubin glühte blutrot auf.

    Ein feiner roter Lichtstrahl verließ den Ring, wanderte über Jarduks Ohren hinweg immer weiter nach vorne, bis er zehn Schritte entfernt plötzlich verharrte. Ein kleiner Kreis entstand, der sich rasch vergrößerte. Die Ränder des Kreises gerieten in eine wirbelnde Bewegung, die schneller und schneller wurde, während sich das Gebilde langsam ausdehnte.

    Im Zentrum des wirbelnden Objekts herrschte tiefschwarze Dunkelheit, die allmählich bis auf einen schmalen Rand den Ring ausfüllte. Gallan wartete, bis ihm die Öffnung für Pferd und Reiter groß genug erschien, dann gab er seinem Rappen die Sporen.

    Mit einem bemerkenswerten Satz nach vorne verschwanden beide in der von Blitzen erleuchteten wirbelnden Luft. Wie Geister lösten sich Reiter und Pferd in der nebligen Luft auf, als sich der Übergang in die andere Welt schloss. Ein lauter Donner erschütterte die Erde und die Senke mit den verendeten Einhörnern erzitterte.      

    Gallan sah die kleine Gestalt mit dem grauen Gesicht nicht mehr. Mit tränenfeuchten Augen verfolgte die Gestalt verdeckt vom hohen Gras hinter einem Baum, wie Gallan sich daran machte Riana zu verfolgen.    

    Kapitel 3

    Der Weltenwächter

    Verden

    Irgendetwas hatte ihn geweckt. Gandulf schreckte von der strohgefüllten Unterlage seiner Schlafstatt hoch und versuchte sich in der Dunkelheit, die in seinem Zimmer herrschte zu orientieren. Sein Kopf dröhnte von dem Donnerhall, der sein Innerstes zum Schwingen gebracht hatte.

    Gandulf wusste, was dieses „Geräusch" bedeutete.

    Ein Wesen aus einer anderen Sphäre hatte die Grenze in diese Welt überschritten. Bei diesem Vorgang öffnete sich eine Membran, die sich mit lautem Knall wieder schloss. Der Donner entstand beim Schließen der Membrane und war für ihn das Zeichen sich auf die Suche nach diesem Wesen zu begeben.

    Nur ein „Wächter" vernahm diese Detonation.

    Sie glich keinem Donnerschlag, wie jener, der ein Gewitter begleitete. Vielmehr brachte die Erschütterung der Membrane sein Innerstes zum Vibrieren. Normalen Menschen blieb dieses Phänomen verborgen, denn ihnen fehlte das Wissen und das Gespür für einen solchen Vorgang.

    Diese unsichtbare Außenhaut, wenn man so wollte, hielt die unzähligen Welten, welche auf verschiedenen Ebenen nebeneinander existierten, davon ab sich zu überschneiden oder zu kollidieren.  

    Eine kleine Schar Weltenwächter, die diese Gabe besaßen, wachte darüber, dass kein Lebewesen aus einer anderen Welt das Gleichgewicht dieses Lebensbereichs gefährdete. Es geschah aber dennoch, dass sich Bewohner anderer Welten verirrten und nicht mehr zurück fanden, oder einfach nicht mehr in ihren Lebensraum wollten.

    Dann wurden die Weltenwächter aktiv.

    Es wäre zum Beispiel ein prekärer Umstand, für die Bewohner dieser Welt, wenn ein rot geschuppter Feuerdrache von Vulkan hier auftauchte.

    Er würde ohne lange zu zögern alles in Schutt und Asche legen. Glücklicherweise gab es nur wenige magische Wesen, die mit ihren Fähigkeiten dazu in der Lage waren. Viel öfter geschah es jedoch, dass sich irgendeins gerade zufällig an den Schnittpunkten zweier Welten befand und sie unbewusst überschritt.

    Gandulfs Aufgabe, oder die der anderen „Wächter" bestand dann darin diese Wesen in ihre Welt zurückzuführen, was freilich nicht immer eine leichte Angelegenheit darstellte.

    Mühsam, noch schlaftrunken schälte sich Gandulf aus der Decke, die ihn gegen die nächtliche Kälte schützte und schlüpfte in seine Stiefel. Durch das kleine Fenster seiner Schlafkammer fiel ein schmaler Streifen Mondlicht an sein Bett, der ihm half, sich zurechtzufinden.

    Gandulf stand vom Bett auf und ging zur Tür. Wenig später stützte er sich auf dem Geländer der Veranda ab, und blickte zu einem sternenklaren Himmel auf, an dem die volle Scheibe des Mondes sein Licht über die Wolfshügel ergoss.    

    Als schwarzer Schatten zeichnete sich die schlanke Gestalt des Wächters gegen den Mondschein ab, als er seine linke Hand hob und den Ring, den er trug betrachtete. Der Stärke der Schwingungen nach zu urteilen, musste der ungebetene Gast in der näheren Umgebung in diese Welt gekommen sein.

    Schwach glühte der Smaragd in der Fassung des Ringes auf, als ihn Gandulf anhob. Diesen Ring bekam Gandulf von seinem Lehrer Orwin, der ihn an ihn weitergab, nachdem er ihn zu seinem Nachfolger bestimmte.

    Dieser Ring, so berichtete Orwin, sei mit den ersten Wächtern, vor langer, sehr langer Zeit auf diese Welt gekommen und seither vom Lehrer auf den Schüler übertragen worden. Dieser Ring weise ihm stets die Richtung, in der er nach dem Eindringling zu suchen hatte.    

    Gandulf vollführte mit der Hand eine geschwungene Bewegung, indem er sie von Süd nach Nord schwenkte. Je weiter der Ring nach Norden zeigte, umso intensiver begann der Stein des Rings, zu glühen.

    *Nordost*, stellte Gandulf befriedigt fest. Nach einer letzten Überprüfung der Richtung, in der das Wesen aus der anderen Welt zu finden war, überlegte er, ob es sinnvoll war in dieser Nacht noch danach zu suchen. Nach einigem Abwägen kam er zu dem Schluss, es trotzdem zu versuchen. Je eher er sich aufmachte um so frischer war die Spur.

    Der Mond stand etwa eine Handbreit über den Ausläufern der Hügel im Osten und überschüttete die Landschaft mit silbrigem Licht. Die Sterne des schwarzen Nachthimmels glänzten wie Diamanten in den verschiedensten Größen, und funkelten in voller Pracht. Alles schien ruhig und friedlich, nur das gelegentliche Schnauben oder Scharren eines Pferdes auf der Koppel klang hin und wieder zu ihm herüber.

    Gandulf begab sich ins Haus zurück, nachdem er einen letzten prüfenden Blick in die Richtung warf, in die er reiten wollte. Er nahm vom Haken, der in der Wand neben der Türe steckte seinen Bogen mit dem Köcher, den er sich über die Schulter warf. Anschließend holte er die Satteltaschen und legte den Gürtel mit dem Jagdmesser um.

    Ohne Eile packte er in der Küche etwas Proviant in die Taschen und machte sich auf den Weg zum Stall. Dort suchte er sich ein weißbraun geflecktes Pony aus, sattelte es und führte es hinaus auf den Hof. Das Licht des Mondes reichte aus, um ohne Gefahr losreiten zu können. Wenn er Glück hatte, lag das Wesen noch in dem Schockzustand, der den Übertritt begleitete. Dies war eine der Nebenwirkungen, die dabei auftraten.

    Je nach der körperlichen Verfassung des Wesens, das hier eingedrungen war, konnten Stunden vergehen, bis es sich davon erholte.

    Gandulf blickte noch einmal zum Haus, das im dunklen Schatten der Scheune lag, dann saß er auf und ritt im Schritt vom Hof. An den Bienenstöcken bei den alten Eichen vorbei lenkte Gandulf seine Stute nach Nordosten, direkt auf die Hügel zu. Je weiter er sich von der Farm entfernte, um so deutlicher spürte er die Ausstrahlung des Wesens, das in diese Welt eingedrungen war. Mit halb geschlossenen Augen ritt er weiter, die Stute nur mit den Füßen lenkend.

    Nebenbei kreisten seine Gedanken um die Frage, welchem Lebewesen es diesmal gelungen sein mochte die Grenzen seiner Welt zu überschreiten, und hier zu landen. Handelte es sich dabei um ein intelligentes Wesen, welches Magie verwendete, oder um eines das die Grenze unabsichtlich überschritten hatte? Meistens kamen sie den Abgrenzungen, ohne es zu ahnen zu nahe und fanden sich unversehens in einer anderen Welt wieder.

    Dabei musste Gandulf unwillkürlich an die riesenhafte Raupe denken, mit der er es vor vielen Jahren zu tun bekam. Mit einem Donnerschlag, der Gandulf wochenlange Kopfschmerzen einbrachte, landete diese Kreatur nahe bei Panderan, einer großen Stadt in der Tiefebene nahe dem Meer. Kaum ließ der Schock des Übertritts bei der Raupe nach, machte sie sich über die Felder und Obstgärten der Bauern her. Eine breite Spur der Verwüstung begleitete die Spur dieses unersättlichen Monstrums, das eine Länge von zwei Wagengespannen und zehn Schritte im Durchmesser hatte.

    Nur gut, dass die Raupe sich nicht schnell fortbewegte, sonst wären auch Menschen zu Schaden gekommen. Dieses Wesen schützte ein Chitinpanzer, den selbst die schwersten Katapultspeere nicht durchdringen konnten und es so praktisch unverwundbar machte. Die lächerlichen Versuche einiger Ritter, der Raupe mit ihren Turnierlanzen und Schwertern beizukommen, störten die Raupe nicht im Geringsten.

    Bald setzten sie sich dem Gelächter der Zuschauer aus, die ihnen bei ihren verbissenen Bemühungen zusahen, dem Ungeheuer beizukommen. Binnen Kurzem jedoch machte sich Verzweiflung über die Plage breit, die wie einige Priester behaupteten, von den Göttern geschickt wurde, um die Menschen zu strafen.

    Gandulf, der sich die Bemühungen der Ritter und Bauern die Raupe zu töten oder zu vertreiben aus sicherer Entfernung ansah, wartete einen günstigen Augenblick ab.

    Eines Abends, als Gandulf keine Beobachter befürchten musste, beförderte er die Kreatur in seine Welt zurück. Es blieb den Menschen ein Rätsel, wohin das gefräßige Tier verschwunden war. Noch heute geisterte die Raupe als Lindwurm durch die Geschichten und Sagen dieser Gegend. Gandulf erledigte seine Aufgabe im Geheimen und jeder der ihn kannte hielt ihn für den harmlosen Pferdezüchter aus den Wolfshügeln. Aber es gab auch andere Zeitgenossen, die eine größere Gefahr für diese Welt und ihre Bewohner darstellten.

    Gandulf musste dabei an die beiden Blutsauger denken, die vor gar nicht so langer Zeit die Najim, ein Wüstenvolk terrorisierten und unzählige Leichen hinterließen. Gandulf traf eine Woche nach der Ankunft der Blutsauger in der Wüstenstadt Na-Talim ein.

    Diese unbedeutende Stadt lag am Rande der großen Salzwüste, deren Lehmgebäude sich unter der unerträglichen Hitze der alles versengenden Sonne dicht gedrängt zusammen quetschten. Argwöhnisch folgten Gandulf die Blicke der Bewohner, die sich Najim nannten, als er die einzige Straße die durch die Stadt führte ritt und vor einer kleinen Herberge abstieg. Nachdem Gandulf sein Pferd versorgt wusste, machte er sich vorsichtig daran die Wesen aus der anderen Welt zu suchen, stieß bei den Bewohnern aber auf eine Mauer des Schweigens.  

    Der Wirt der Herberge, ein mürrischer alter Mann, der keinen Hehl aus seiner Abneigung Gandulf gegenüber machte, knurrte auf jede Frage, die Gandulf ihm stellte, stets ein undeutliches, »keine Ahnung«.

    Gandulf wusste, dass sich das Wesen in der Nähe aufhalten musste, weil er ganz schwach seine Schwingungen empfing.

    Undeutlich und verschwommen so kamen sie bei ihm an, als wolle das Wesen nicht, dass es entdeckt werden konnte. Gandulf kam zu der Überzeugung, hier ein vernunftbegabtes Wesen zu suchen, das sich vor ihm verbarg.

    *Warum zeigte sich das Wesen nicht, oder besser gefragt, was führte es im Schilde?* Um das herauszufinden, benötigte er Hilfe, aber er wusste nicht, woher die kommen sollte, bis ihm eines Tages der Zufall zu Hilfe kam. Oft genug bekam Gandulf zu hören, er solle verschwinden und sich um seine Sachen kümmern und nicht die Nase in fremde Angelegenheiten stecken. Die Najim wollten niemanden der herumschnüffelte und Staub aufwirbelte.

    Eines Nachts, Gandulf lag im Bett seiner Herberge und versuchte zu schlafen, als ihn ein leises Geräusch aufmerksam werden ließ. Aus halb geöffneten Augen beobachtete er einen Schatten, der fast lautlos durch das Fenster gekrochen kam. Nur das leise schabende Geräusch seiner Kleidung hatte ihn verraten. Vorsichtig näherte sich der Schatten seinem Sattel in der Ecke des Raumes und machte sich an den Taschen zu schaffen.

    Dieser dreiste Dieb versuchte tatsächlich, ihn auszurauben. Unwillkürlich spannte Gandulf seine Muskeln und wartete auf einen günstigen Augenblick. Als sich der Dieb wieder zum Fenster begab und ihm den Rücken zudrehte, sprang Gandulf vom Bett auf und den Dieb an.

    »Hab ich dich du Halunke,« rief er aufgebracht und krallte sich mit festem Griff in dessen Kleidung fest. Zu seiner Verwunderung hatte Gandulf einen halb verhungerten hageren Jungen gepackt, der sofort zu schreien begann und sich loszureißen versuchte. »Loslassen … Hilfe … Hilfe.«

    Gandulf packte etwas härter zu und schüttelte den Dieb durch. Er hielt den Jungen mit eisernem Griff fest, und als der noch immer zappelte und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien sagte Gandulf ruhig. »Ich kann dich auch zu den Wachen schleppen, wenn dir das lieber ist.«

    Sofort verstummte der Junge. »So ist es schon besser,« stellte Gandulf zufrieden fest und lockerte seinen Griff, ohne loszulassen. Er drehte den Jungen herum, um sich dessen Gesicht im Mondschein, der durchs Fenster fiel, genauer zu betrachten. Gandulf blickte in ein schmales von Dreck verschmiertes Gesicht, aus dem ihn zwei dunkle glänzende Augen trotzig ansahen.

    Im fahlen Licht, das durchs Fenster fiel, erkannte Gandulf, dass der Dieb vielleicht zehn oder zwölf Jahre sein mochte und einen verwahrlosten Eindruck machte. Der Junge war spindeldürr und sicher hatte er in der letzten Zeit nichts Richtiges zu essen bekommen. Eine Idee nahm in Gandulf Gehirn Gestalt an und er sagte zu dem Jungen, der ihn mit bockigem Gesichtsausdruck musterte.

    »Hör zu junger Mann. Willst du für mich arbeiten? Du kannst dir bei mir etwas verdienen, damit du nicht mehr bei fremden Leuten durch die Fenster steigen musst, um sie zu bestehlen.«

    Plötzlich tat ihm der Junge leid der ihn sichtlich verwirrt und misstrauisch anblickte. Mit dieser Wendung hatte er bestimmt nicht gerechnet. Ungläubig sah der kleine Dieb Gandulf an und fragte mit verhaltener Stimme.

    »Was muss ich dafür tun?«

    Gandulf lachte gedämpft und meinte. »Nicht viel, du sollst nur Augen und Ohren für mich offenhalten. Berichte mir einfach von den ungewöhnlichen Vorgängen, die sich in letzter Zeit in eurer Stadt ereignet haben, oder noch geschehen werden.« Es dauerte nicht lange, bis der Junge mit dem Namen Harun zu ihm Vertrauen fasste. Die Aussicht auf geregelte Mahlzeiten und etwas Geld überzeugten Harun für Gandulf zu arbeiten. »Was wollt ihr wissen? Ich kenne Na-Talim wie meine Hosentasche.«

    Gandulf erklärte Harun, auf was er sein besonderes Augenmerk richten sollte, als Harun ihn unterbrach. »Vor einiger Zeit sind zwei Fremde aus dem Nichts aufgetaucht und über Nacht wieder verschwunden.« Gandulf hörte angespannt zu, was der Junge ihm zu berichten hatte.

    »Niemand hat gesehen, woher sie kamen oder wohin sie gingen. Am nächsten Tag fand man Kinderleichen völlig blutleer und schrecklich verstümmelt. Ihnen wurden die Kehlen aufgerissen und nirgends wurde ein Tropfen Blut gefunden. Die aufgebrachten Leute durchsuchten die ganze Stadt nach den merkwürdigen Fremden, denen man diese Untat zuschrieb. Jedes Haus wurde durchsucht, sogar die verfallenen die sich am Stadtrand befinden, aber die Suche blieb ergebnislos. Seither werden fast jeden Morgen Menschen mit aufgerissener Kehle und völlig blutleer aufgefunden. Es geht das Gerücht um die Fremden wären Geister und daher nicht zu fangen. Die Najim haben schreckliche Angst vor ihnen und bei Einbruch der Dunkelheit wagt es keine Menschenseele mehr sich auf der Straße, schon gar nicht in den dunklen und engen Gassen aufzuhalten.«  

    Jetzt begriff Gandulf das Misstrauen der Einwohner und verstand, weshalb sich die meisten der Bewohner, an die er Fragen stellte, in ihre Häuser flüchteten. Von Harun erfuhr Gandulf weiter, dass erwachsene Opfer entweder Bettler ohne Dach über dem Kopf, oder hilflose Betrunkene gewesen sind.

    Eines Tages, Gandulfs Hoffnung hinter den Aufenthaltsort der blutrünstigen Wesen zu kommen war gegen null gesunken, kam Harun außer sich geraten in seine Kammer.

    »Herr in der Taverne von Terek stellt ein Fremder dieselben Fragen wie ihr. Ich glaube es dauert nicht mehr lange, bis ihn Terek oder einer der anderen Betrunkenen aus der Stadt jagen will.«

    Gandulf wartete bis der Junge wieder zu Atem kam dann fragte er ihn. »Welche Fragen,« wollte Gandulf wissen, dessen Interesse geweckt war. Harun blickte Gandulf verschmitzt an. »Wie ihr fragt, er nach Fremden und ungewöhnlichen Ereignissen,« antwortete der Junge, »wenn ihr wollt, bringe ich euch zur Taverne.«

    Gandulf warf sich seinen Staubmantel über und folgte Harun. Durch enge schmutzige Gassen folgte Gandulf dem Jungen, der sich in diesem Gewirr von verwinkelten Durchgängen bestens auskannte in die Unterstadt. In den ansonsten vom Lärm der fliegenden Händler und geschäftigen Trubel erfüllten Gassen herrschte eine angespannte Stimmung und argwöhnische Blicke folgten seinem Weg. Bald stand Gandulf vor einem niedrigen Haus, über dessen Eingang ein Schild auf eine Taverne aufmerksam machte. Harun zeigte darauf und Gandulf betrat die Schenke.

    Das Innere des Wirtshauses lag im schummrigen Licht, welches durch die schmalen Fester ins Innere fiel. Gandulf nahm sofort die knisternde Spannung wahr, welche im Schankraum in der Luft lag.

    Die Einheimischen umringten den

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