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Dorpamarsch: Das skurrile Leben der Emma Heldenreich
Dorpamarsch: Das skurrile Leben der Emma Heldenreich
Dorpamarsch: Das skurrile Leben der Emma Heldenreich
eBook427 Seiten5 Stunden

Dorpamarsch: Das skurrile Leben der Emma Heldenreich

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Über dieses E-Book

Als Emma Heldenreich im Jahre 2014 starb, war sie vermutlich die älteste Frau Deutschlands. Im Roman verbindet sich ihr Leben mit zahlreichen historischen Ereignissen, die von ihr und ihrer Familie teilweise auf skurrile Weise beeinflusst werden.
Emma Heldenreich wird am 1. Januar 1900 als erstes Kind des 20. Jahrhunderts im Kaiserreich Deutschland in dem kleinen norddeutschen Dorf Dorpamarsch als Tochter eines Kaufmanns geboren. 1906 kommt ihre Schwester Berta und 1914 ihre Schwester Dora zur Welt. Die drei Mädchen wachsen in behüteter familiärer Umgebung auf, während der erste Weltkrieg und die Inflation über Deutschland hinwegziehen. Der Vater August Heldenreich entwickelt ein eigenes listenreiches System zum Überleben. Er stirbt mit dem Ende der Inflation beim Verzehr eines Hechtes.
Die Geschichte der Familie ist auf verschiedene Weise mit einigen historischen Ereignissen verwickelt. Der "Hauptmann von Köpenick" ist daran ebenso beteiligt, wie der Untergang der Titanic und der Großbrand des Passagierschiffes "Europa" im Hamburger Hafen.
Nachdem die Mutter auf dramatische Weise den Tod findet, stehen die Mädchen als Vollwaisen da, was allerdings nur für die 14-jährige Dora von Bedeutung ist. Sie soll von der Jugendbehörde in ein Waisenhaus eingewiesen werden. Um das zu verhindern, heiratet Emma und übernimmt die Vormundschaft für ihre Schwester.
Die drei Schwestern Emma, Berta und Dora beschließen, ihr ganzes Leben lang zusammenzubleiben und bekräftigen das mit dem Schwur der drei Musketiere: "Eine für alle – alle für Eine!". Dieses halten sie auch bis zu ihrem Tode durch.
In den folgenden Jahrzehnten erleben sie das Dritte Reich und wehren sich auf eigene Weise gegen die Auswüchse der Hitlerdiktatur, verstecken zwei Jahre lang drei jüdische Familien in ihrem Haus und erleben den Einmarsch der Russen. Es gelingt ihnen mit List, sich selbst und alle Frauen des Dorfes vor den gefürchteten Vergewaltigungen zu retten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. März 2015
ISBN9783738017229
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    Buchvorschau

    Dorpamarsch - Wulf Köhn

    Prolog

    Es war ihr Wunsch gewesen, in ihrem Heimatdorf beerdigt zu werden, und so kehrte Emma Heldenreich im Jahre 2014 nach einem langen Leben wieder zurück.

    Als sie nach Hause kam, folgte ihr der längste Trauerzug, den Dorpamarsch jemals gesehen hatte. Die halbe Schiffsbesatzung war von Bremerhaven aus angereist, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Die kleine Kapelle des Fried­hofs reichte bei Weitem nicht aus, die vielen Trauergäste aufzunehmen, doch der Chief hatte die technischen Voraussetzungen geschaffen, die Feier per Lautsprecher nach außen zu übertragen.

    Neben dem Pastor verabschiedete sich der Kapitän und bedankte sich im Namen der ganzen Mannschaft für die Wärme, die sie allen entgegengebracht hatte.

    Die Matrosen bildeten ein Spalier von der Kapelle bis zur ausgehobenen Grube. Sechs Offiziere trugen den Sarg auf ihren Schultern, während ein Trompeter der Bordkapelle „Il Silenzio" spielte. Der Arzt sprach leise den Abschiedstext:

    Buona notte, amore

    Ti vedrò nei miei sogni

    Buona notte a te che sei lontana

    Gute Nacht, Liebste,

    Ich sehe dich in meinen Träumen,

    Gute Nacht dir, die du so fern bist.

    Als der Sarg in die Grube gesenkt wurde, pfiff der Maschinenwart Seite nach alter Marinetradition.

    Es war ein würdiges Begräbnis für die älteste Frau Deutschlands, die ihre letzten zwölf Jahre auf dem Schiff gelebt hatte.

    1900 - Es hat Zwölf geschlagen

    Natürlich war Emma nicht von Anfang an die älteste Frau in Deutschland. Das ergab sich naturgemäß erst in späteren Jahren, nachdem alle vor ihr geborenen Frauen verstorben waren. Doch dazu kommen wir später.

    Um aber etwas mehr über diese bemerkenswerte Frau zu erfahren, müssen wir bereits bei ihrer Geburt anfangen. Und das war auch schon aufregend genug.

    Es begann am Silvesterabend 1899 in dem kleinen Dorpamarsch, einem unbedeutenden Dorf im Norden Deutschlands, irgendwo im Marschland an dem kleinen Flüsschen Dörpe. Es war so unbedeutend, dass die Einwohner es auch manchmal als Dorp am Arsch aussprachen. Vielleicht war das ja auch der Ursprung des Namens. Niemand hatte das bisher so richtig erkundet. Doch es besaß immerhin einen Kaufmannsladen und ein Dorfgasthaus, das interessanterweise den Namen „Zum Roten Hahn" trug, wahrscheinlich, weil sich dort immer die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr trafen – und das waren praktisch alle männlichen Einwohner Dorpamarschs, die bereits laufen konnten.

    Natürlich gab es auch eine Kirche in der Mitte des Dorfes, gleich neben dem Roten Hahn, mit einem trutzigen viereckigen Turm, der weit über das flache Land hinwegschaute. Das Beste aber waren die vier großen Uhren an jeder Seite des Turmes. Eigentlich war es nur eine einzige Uhr im Innern des Turmgemäuers mit vier gewaltigen Zifferblättern nach allen Himmelsrichtun­gen. Das war für die meisten Bewohner die einzige Uhr, die ihnen zur Verfü­gung stand. Die Bauern auf dem Felde, die Schulkinder, der Briefträger, der Dorfgendarm – alle hatten die Uhr ständig im Blickfeld. Sie war sozusagen die Normzeit des Dorfes und die wenigen Standuhren oder seltenen Taschen­uhren wurden nach ihr gestellt.

    Dass die Turmuhr auch immer richtig ging, dafür sorgte Küster Schaapmann, der einmal wöchentlich in das Turmuhrenstübchen kletterte, um mit einer Handkurbel den schweren Stein nach oben zu ziehen, der das gewaltige Uhr­werk antrieb, und gleichzeitig nach seiner eigenen Taschenuhr zu stellen. War er dann wieder unten, verglich er seine eigene Uhr mit der Turmuhr. Wenn beide exakt die gleiche Zeit anzeigten, konnte er befriedigt feststellen, dass die Zeit wieder einmal stimmte.

    Sie würde in dieser Silvesternacht noch eine bedeutende Rolle spielen, auch wenn die Zeiger in der Dunkelheit gar nicht zu erkennen waren. Dafür schlu­gen die Uhrglocken umso lauter. Zu jeder vollen Stunde war die Stundenzeit zu hören und zu jeder Viertelstunde ein einzelner Schlag. Da der Rote Hahn direkt daneben lag, lauschten alle Anwesenden jeden Abend auf die zwölf Schläge, denn um Mitternacht machte der Wirt dicht. „Feierabend!", verkün­dete er dann formell und wartete, bis die Gäste in aller Ruhe noch ihr Glas ausgetrunken hatten. Das konnte noch mal ein Viertelstündchen dauern, doch Nachschub gab es nicht mehr. Meist tranken die Gäste aber ihr Glas zügig aus und machten sich auf den Heimweg, denn ihre Frauen hatten die mitternächt­lichen Glockenschläge ebenfalls gehört und warteten. Wo sollten die Männer auch sonst hin um diese Stunde?

    An diesem Silvesterabend war aber alles etwas anders. Heute gab es keine Sperrstunde! Man wollte ja in das neue Jahr hineinfeiern. Es stand sogar ein neues Jahrhundert bevor! Dachte man jedenfalls, denn genau genommen, begann das neue Jahrhundert ja nicht am 1. Januar 1900, sondern erst ein Jahr später. Das hatte der alte Dorfschullehrer Nils Hempelmann versucht, den Dörflern am Stammtisch einmal klarzumachen. Doch so richtig begriffen hatte das keiner, genauso wenig, warum 1901 das Zwanzigste Jahrhundert anfangen sollte, obwohl doch jeder sehen konnte, dass das Jahr mit einer „19 begann. „Der Lehrer spinnt!, dachten die Bauern, nur der Pastor Leverenz meinte, der Lehrer könnte wohl recht haben.

    Der Kaufmann August Heldenreich gab ihm ebenfalls recht, denn der kannte sich schon von Berufs wegen mit der Rechnerei aus. Aber an diesem Silves­terabend 1899 spielte das alles keine Rolle. Man feierte in das neue Jahrhun­dert hinein, weil man das überall so machte.

    Zu diesem Anlass waren ausnahmsweise auch die Damen des Ortes, die sonst zu Hause geduldig auf ihre Männer warteten, im Roten Hahn versammelt. Der Wirt hatte die Gaststube mit einigen Girlanden geschmückt, ein frisches Fass Bier angestochen und für die Damen einige Flaschen Aprikosenlikör bereitgestellt. Sicherheitshalber hielt er für Mitternacht auch noch einen Kas­ten Schaumwein, den er großzügig als „Schampus" bezeichnete, bereit.

    Bier und Schnaps flossen reichlicher als an gewöhnlichen Tagen durch die Kehlen, die Damen hielten sich etwas zurück, doch wurde die Stimmung immer fröhlicher und vor allem immer lauter.

    Nur einer konnte sich nicht so richtig auf die Feier konzentrieren. Es war August Heldenreich, der ohne Frau gekommen war.

    August Heldenreich hieß eigentlich Karl Heinrich Hermann, genannt August, Heldenreich. Ja, das „genannt August gehörte wirklich zu seinem behördlich eingetragenen Vornamen. Das hatte auch seinen Grund: Er war der Sohn des Landwirtes Hinz Heldenreich, der seinem Namen viel Ehre machte und innerhalb von sechs Jahren gleich vier Helden zeugte. Was tat man nicht alles für Kaiser und Vaterland! August war der jüngste Sohn, der wie seine Brüder die gleichen Taufpaten hatte. Das waren die drei Brüder seines Vaters Karl, Heinrich und Hermann Heldenreich. Alle drei gaben ihre Namen an die jun­gen Helden weiter. So kam es, dass alle vier Knaben die Vornamen Karl Heinrich Hermann bekamen. Das war bei den ersten drei kein Problem, denn sie wurden Karl Heldenreich, Heinrich Heldenreich und Hermann Helden­reich genannt. Nur bei dem Jüngsten wurde es problematischer. Es blieb kein Rufname für ihn übrig. So nannte man ihn einfach „August, obwohl er Karl Heinrich Hermann hieß. Das ganze Dorf nannte ihn so, und er selbst hörte von Kindesbeinen an auch nur auf den Namen August, bis er seine Frau Wil­helmine ehelichen wollte und dem Bürgermeister Brödermann, der zugleich Standesbeamter war, seinen Taufschein vorlegte. Der fand sofort das Haar in der Suppe, aber nicht den Vornamen August. „So geht das aber nicht, August!, entschied er. „Du kannst nicht unter dem Namen August heiraten, wenn du ganz anders heißt!

    Da war guter Rat teuer. Jeder der drei anderen Namen hätte in dem kleinen Dorf unweigerlich zu Verwechslungen und Missverständnissen mit seinen Brüdern geführt. Da entschied Brödermann, den Zusatz „genannt August" offiziell in seine Papiere einzufügen. Damit konnten alle Beteiligten leben.

    Das war vor gut einem Jahr gewesen, und heute war Wilhelmines und August Heldenreichs großer Tag. Ein neuer Held wollte das Licht des Tages erbli­cken, auch wenn das in diesem Fall das Licht einer Petroleumlampe war.

    Um Mittag hatten die Wehen begonnen, und die Nachbarin Emma Hibbel hatte Lisbeth gerufen. Die alte Hebamme war herbeigeeilt und hatte zunächst einmal August hinausgeworfen. „Mannsleute haben hier nichts zu suchen! Ihr habt euer Vergnügen gehabt, nun sind die Weiber dran!", verkündete sie resolut und forderte heißes Wasser, saubere Tücher und eine Kanne Kaffee. Das konnte beim ersten Kind lange dauern!

    August überließ das Feld also den drei Frauen, verzog sich in den Roten Hahn und freute sich schon auf seinen Helden. Ein bisschen Sorge hatte er natürlich auch um Wilhelmine, denn eine Geburt war immer mit einer gewissen Gefahr verbunden.

    „Eine Runde auf Wilhelmine und meinen Sohn!", verkündete er lauthals am Stammtisch.

    „Und wenn es doch eine Deern wird?", wandte Pastor Leverenz ein.

    „Das wird kein Mädchen! In meiner Familie sind bisher immer nur Helden gezeugt worden. Das hängt mit meinen Erbanlagen zusammen!", erwiderte August. Davon war er überzeugt.

    Inzwischen widmete sich Lisbeth zu Hause dem Kaffee, während Wilhelmine in immer kürzeren Abständen ihre Wehen spürte. Lisbeth kramte unter ihren vielen Unterröcken eine Taschenuhr hervor und legte sie demonstrativ auf den Nachtschrank. „Das wird heute noch!, stellte sie fest. „Das letzte Baby in diesem Jahrhundert! Die Uhr zeigte kurz nach 11 Uhr. Noch fast eine Stunde bis zum Jahreswechsel. Der Lehrer Hempelmann hätte sicherlich wegen des neuen Jahrhunderts protestiert, wenn er denn da gewesen wäre, doch er befand sich gerade in einem Streitgespräch im Roten Hahn und bekam deshalb nichts von Lisbeths Bemerkung mit.

    Diese hatte nicht ohne Grund ihre Uhr aus den Unterröcken hervorgekramt, denn bei der heutigen Geburt war die Uhrzeit besonders wichtig. Kaiser Wil­helm der Zweite hatte schon vor einem Monat im ganzen Reich verkünden lassen, dass er für das erste im neuen Jahrhundert geborene Kind persönlich die Patenschaft übernehmen wolle, sofern es ein Knabe wäre. Sollte es aber ein Mädchen werden, würde er ein Goldstück spendieren, immerhin im Werte von 20 Mark.

    Nun hoffte August, dass sich sein kleiner Held noch bis ins neue Jahr Zeit las­sen würde. Dann hätte er Chancen auf die kaiserliche Patenschaft. Das wäre ein guter Start ins Leben.

    In diesem Moment ging es im Hause des Kaufmanns aber richtig los. Die Wehen folgten jetzt in immer kürzeren Abständen, und Lisbeth schaute erneut auf die Uhr. Bis Mitternacht war jetzt nicht mehr viel Zeit. Doch gerade als Emma Hibbel mit einem neuen Stapel Tücher herbeieilte, hörte sie die Turmglocke läuten. Erschrocken blieb sie stehen und zählte die Schläge mit. „Es ist Mitternacht!", stellte sie fest.

    „Unsinn!, widersprach Lisbeth mit einem Blick auf ihre Taschenuhr. „Noch fünf Minuten! Nun komm schon! Das Kind will raus!

    Doch die Nachbarin blieb erstarrt stehen und zählte mit: „Zehn, elf, zwölf!" – Wilhelmine stieß einen schrillen Schrei aus, der in einem langen Aufatmen endete. Mit beherztem Griff hatte Lisbeth zugepackt, und im nächsten Moment meldete der kleine Erdenbürger sein Dasein an. Es war geschafft!

    Emma Hibbel hielt Lisbeth eines der Tücher hin, und diese schaute erst kri­tisch auf das Kind, dann auf die Uhr auf dem Nachtschrank. „Na also!, stellte sie fest. „Kurz vor Mitternacht!

    „Es hat aber schon 12 geschlagen!", wand Emma ein.

    „Die Kirchturmuhr geht falsch!, wehrte Lisbeth ungehalten ab. „Hier gilt nur meine Uhr, und die zeigt zwei Minuten vor zwölf. Geburtstag ist also der 31. Dezember 1899! Schluss damit!

    „Was ist es denn?", wollte die Nachbarin wissen.

    „Na, was soll es schon sein!"

    Mit wehenden Röcken eilte die Hibbel zum Roten Hahn, um die gute Nach­richt dort sofort zu überbringen.

    „Dein Kind ist da, August!, rief sie in die Gaststube hinein, wo gerade die erste Welle „Prost Neujahr! auf ihrem Höhepunkt war. Und jetzt diese Nachricht!

    „Mein Sohn ist da!, tönte August laut, und als der Wirt auffordernd die nächste Kiste Schampus auf den Tresen stellte, schob August hinterher: „Schampus für alle!

    Es wurde ein feucht-fröhlicher Willkommensgruß für den neuen Erdenbür­ger.

    Unterdessen hatte Lisbeth das Kind gebadet, in ein trockenes Tuch gewickelt und Wilhelmine in den Arm gelegt. „Hier hast du deine Deern", sagte sie bedauernd.

    „Ein Mädchen?", fragte Wilhelmine.

    „Ja, es ist nun mal kein Held geworden."

    So kam August und Wilhelmine Heldenreichs Tochter auf die Welt.

    Doch als August sie am nächsten Morgen – das war am 2. Januar – beim Bür­germeister offiziell anmelden wollte, gab es noch einen kleinen Streit zu klä­ren. Lisbeth hatte als Geburtstermin den 31. Dezember 1899 angegeben, und jetzt gab August den 1. Januar 1900 an. Was war denn nun richtig? War der Nachwuchs jetzt das letzte Baby im 19. oder das erste im 20. Jahrhundert? Das war schon wichtig!

    Der Bürgermeister ließ alle Beteiligten zu sich kommen, um die Angelegen­heit zu klären. Emma Hibbel sagte, dass die Kirchturmuhr bereits Zwölf geschlagen hatte, als das Kind zur Welt kam. Brödermann überzeugte sich davon, dass die Uhr der Hebamme gegenüber der Kirchturmuhr nachging. Lisbeth schwor, dass ihre eigene Uhr die einzig ausschlaggebende war, denn sie hatte alle von ihr zur Welt gebrachten Kinder nur nach dieser Uhr regist­riert. Die Kirchturmuhr konnte also nur falsch gehen.

    Das war eine verzwickte Angelegenheit, die der Bürgermeister da lösen musste. Er rief den Dorfgendarmen hinzu, der als Amtsperson ein gewichti­ges Wort mitsprechen konnte. Doch es stellte sich heraus, dass auch dieser seine Uhr täglich mit der Kirchturmuhr verglich. Bei dem Briefträger war es genauso. So kam man also nicht weiter. Doch der Briefträger hatte eine ganz andere Idee.

    „Die Eisenbahn!, fiel ihm ein. „Auf allen Bahnhöfen im Land zeigen die Uhren die gleiche Zeit an, denn die Lokführer sind verpflichtet, ihre Amtsuh­ren nach der Uhr der Kreisstadt zu stellen und mit jeder Bahnhofsuhr auf ihrer Strecke zu vergleichen. Auf diese Weise gibt es auf der ganzen Strecke keine Zeitunterschiede.

    Genauer konnte die Zeit also gar nicht festgestellt werden. Der Gendarm bekam nun den standesamtlichen Auftrag, mit dem Fahrrad in die Kreisstadt Pamphusen zu fahren, um seine zur Amtsuhr aufgewerteten Taschenuhr mit der Eisenbahnzeit zu vergleichen. Der Küster war über diese Maßnahme etwas erbost, denn er hielt es für selbstverständlich, dass die Kirchturmuhr die richtige Zeit anzeigte. Und er bekam recht. Der Dorfpolizist konnte die Richtigkeit bestätigen. Er hatte in dieser Streitfrage die körperlich anstren­gendste Arbeit geleistet, was der Bürgermeister mit einem gehörigen Schluck Bier honorierte. Jetzt konnten alle zufrieden sein, außer der Hebamme, die nun ihre Taschenuhr zum ersten Mal korrigieren musste. Das ging ihr gewal­tig gegen den Strich.

    So wurde das immer noch namenlose Mädchen der Heldenreichs das erste Kind des neuen Jahrhunderts im Dorf, und der Bürgermeister notierte nicht nur gewissenhaft Datum und Uhrzeit, sondern schrieb noch „mit dem Glo­ckenschlag" dahinter.

    Als das Kind dann von Pastor Leverenz getauft werden sollte, stellte sich her­aus, dass die Eltern zwar viele Jungennamen parat hatten, jedoch keinen für Mädchen. Doch sie waren der Nachbarin Emma Hibbel so dankbar für ihr gutes Gehör, dass sie ihr anboten, Namenspatin zu werden. Endlich hatte Emma Heldenreich, geboren am 1. Januar 1900, null Uhr, mit dem Glocken­schlag, in Dorpamarsch, ihren Namen.

    Es stellte sich heraus, dass es im ganzen Deutschen Reich keine frühere Geburt gegeben hatte, und der Kaiser ließ Emma ein echtes Goldstück schi­cken, das ihr zusammen mit einer gewaltigen Urkunde vom Bürgermeister ausgehändigt wurde.

    Zunächst nahm August beides entgegen und gab beim Schreiner den Auftrag, einen schönen Rahmen zu bauen. So hing fortan die Urkunde an der Wand des Kaufmannsladens und die Münze verschwand in einer Schatulle.

    Die kleine Emma wurde im Dorf aber nur noch „Kaiserdeern genannt. Schade: Aus der Patenschaft war ja nun nichts geworden, doch der „genannte August und Wilhelmine waren trotzdem recht stolz.

    1906 - Kaiserlicher Hof- und Marinelieferant

    Neben der Eingangstür von Augusts Kaufmannsladen prangte ein Schild mit der Aufschrift:

    „August Heldenreich, Colonialwaren, Delikatessen, Tabak und Cigarren, Bis­quits, Tee, Kaffeesurrogate, Fisch, Nährmittel und Waren des täglichen Gebrauchs, Eisenwaren, landwirtschaftliche Bedarfsartikel und Sämereien".

    Mit anderen Worten: August verkaufte alles, und was er gerade nicht vorrätig hatte, konnte er bestellen.

    Wie es sich gehörte, hatte August sich bei Kaiser Wilhelm II mit einem artigen Brief im Namen seiner Tochter für das Goldstück bedankt und auch noch eine Packung Kautabak hinzugefügt – eine echte Norddeutsche Spezialität. Das würde Kaiser Wilhelm Zwo als Freund und Förderer der Marine sicherlich gefallen. Zu seiner Verblüffung erhielt er Antwort von der Kaiserlichen Marine in Wilhelmshaven mit einer Bestellung von zehn Päckchen Kautabak bester Qualität für Marineoffiziere und durfte sich fortan als „Kaiserlicher Hof- und Marinelieferant" bezeichnen, was in einem Begleitschreiben ausdrücklich bestätigt wurde. Ein zweiter Bilderrahmen mit dem kaiserlichen Schreiben machte sich an der Wand seines Ladens recht gut und belebte das Geschäft.

    Leider war sein Kundenkreis in Dorpamarsch sehr begrenzt. Die wenigen Ein­wohner bestanden zum größten Teil aus den Familien der Bauern und ihren Knechten und Mägden. Die waren überwiegend Selbstversorger. Sie lebten und ernährten sich im wahrsten Sinne des Wortes vom Land und seinen Früch­ten. Nur was sie nicht selbst anbauen konnten, mussten sie bei August kaufen. Seit Reichskanzler Otto von Bismarck seinen Widerstand gegen Deutsche Kolonien im Ausland aufgegeben hatte, nahmen die dort angebauten Früchte einen immer größeren Rahmen in deutschen Geschäften ein. Bald wurde der Begriff „Kolonialwaren" für Lebensmittel aller Art benutzt.

    Es zeigte sich auch bald, dass es für August gut war, einen Fuß bei der Marine in Wilhelmshaven in der Tür zu haben. Dort war Alfred Tirpitz wenige Tage vor Emmas Geburt gerade Vizeadmiral geworden. Das Empfehlungsschreiben des Kaisers hatte seine Aufmerksamkeit auf August Heldenreich gelenkt, und er ging davon aus, dass dieser ein erfahrener Lieferant und Schiffsausrüster sei. Wann immer man bei der Kaiserlichen Marine, und besonders auf der Kaiserli­chen Werft, etwas benötigte, bestellte man es der Einfachheit halber bei ihm, was den Herren Ausrüstungsoffizieren eine Menge Zeit und Arbeit sparte. Teil­weise waren es aber für die Schiffsausrüstung typische Waren, die er erst bei ortsansässigen Handlungshäusern in Wilhelmshaven bestellen musste. Das fiel denen natürlich negativ auf. Um aber die positiven Geschäftsentwicklungen nicht zu gefährden, ließ er die Wilhelmshavener Lieferungen direkt über die örtlichen Firmen ausliefern. In der Praxis leitete er alle Bestellungen an die Fir­men weiter, welche schon vorher geliefert hatten, und strich lediglich eine erkleckliche Provision ein. So blieb alles beim Alten: Die Marine verlor nicht die Erfahrungen der alteingesessenen Firmen und diese behielten ihre Ein­künfte. Die Handelsvertreter vertraten jetzt nicht nur ihre bisherigen Firmen, sondern auch das Handlungshaus „August Heldenreich" und strichen auch von ihm Provisionen ein. So waren alle glücklich und zufrieden.

    Vizeadmiral Tirpitz fühlte sich verpflichtet, dem Kaiser bei passender Gele­genheit von den Auswirkungen des Empfehlungsschreibens zu berichten. Wil­helm der Zweite konnte sich zwar nicht mehr daran erinnern – er hatte fürwahr ganz andere Dinge im Kopf – doch da Tirpitz seine eigenen Verdienste in die­ser Angelegenheit in aller Bescheidenheit ausdrücklich darstellte, wurde er noch im gleichen Jahr in den Adelsstand erhoben und durfte sich jetzt „Alfred von Tirpitz" nennen. Obwohl er 1903 zum Admiral und 1911 sogar zum Groß­admiral der Kaiserlichen Marine ernannt wurde, was sicherlich eine indirekte Folge der Geschäftsbeziehungen mit August Heldenreich war, lernte er diesen und seine Tochter, die Kaiserdeern, niemals persönlich kennen. War vielleicht auch besser so!

    In dieser gut situierten, jedoch dörflichen Umgebung von Dorpamarsch, wuchs Emma wohl behütet auf. Mit den Geschäften ihres Vaters hatte sie zum Glück wenig zu tun, ebenso wie auch ihre Mutter, doch die Familie gehörte zu den reichsten des Dorfes, was sie aber nicht erkennen ließ. Die Nachbarn bekamen von den lukrativen Geschäften Augusts nicht viel mit.

    Als Emma begann, ihr Umfeld mit immer mehr Interesse wahrzunehmen, fragte sie eines Tages ihren Vater, warum sie im Dorf allgemein nur Kaiser­deern genannt wurde. Da holte August das Goldstück aus der Schatulle und erklärte: „Dieser Taler ist ein Geschenk des Kaisers zu deiner Geburt, weil du das erste Kind des neuen Jahrhunderts bist. Es soll dir immer Glück bringen und es hat uns schon jetzt viel Erfolg eingebracht. Und weil alle Dorfbewohner das damals mitbekommen haben, nennen sie dich seitdem Kaiserdeern, aber für uns wirst du immer unsere Emma sein!"

    Emma nahm das Goldstück ehrfürchtig in die Hand und schaute es sich genau an. Auf einer Seite war der Kopf des Kaisers mit seinem hochgezwirbelten Schnurrbart zu sehen. Emma konnte noch nicht lesen, doch Ihr Vater erklärte, dass „WILHELM II. (Er sagte Wilhelm der Zweite) DEUTSCHER KAISER KÖNIG V. PREUSSEN um den Kopf herum geschrieben stand. Ganz unten stand noch ein einsames „A, was August nicht erklären konnte. Er meinte, das könne eine persönliche Widmung für ihn sein, denn sein Vorname fing ja mit „A an.

    Auf der anderen Münzseite konnte Emma einen gefährlich aussehenden Adler mit grimmig geöffnetem Schnabel und scharfen Krallen erkennen. Darüber schwebte eine Krone, und vor dem Bauch war noch ein Wappen. Am Rand standen die Wörter „DEUTSCHES REICH 1894 und zwischen zwei Sternen „20 MARK. Das war ihr Glückbringer und gleichzeitig ihr gesamtes eigenes Vermögen, und das war immerhin noch mehr als alle anderen Kinder des Dor­fes zusammen besaßen. Taschengeld hatte ohnehin niemand von ihnen, doch Emma durfte ab und zu in eines der Bonbongläser im Laden greifen. Das machte sie bei allen Dorfkindern beliebt, denn sie teilte auch gerne.

    Im Alter von sechs Jahren wurde sie eingeschult. Nun übernahm der Lehrer Nils Hempelmann zu einem großen Teil die Erziehung, wie es auch bei den anderen Kindern üblich war. Hempelmann unterrichtete alle 56 Kinder des Dorfes in einem einzigen Klassenraum. Er war ein gestrenger Lehrmeister, der ihnen mit Kreide und Rohrstock das Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte. Für die religiöse Erziehung zog er einmal wöchentlich den evangelischen Pas­tor Leverenz hinzu. Ob jemand im Dorf einer anderen Konfession angehörte, war ohne Belang. Es gab ja auch keine katholische Kirche. Hier im Norden spielte sie seit dem Dreißigjährigen Krieg ohnehin keine große Rolle mehr, besonders, weil ja der Alte Fritz gesagt hatte: „Jeder soll nach seiner Façon selig werden."

    Der Pastor nahm seinen Lehrauftrag ebenso ernst wie Hempelmann, und der Rohrstock stand immer in der Ecke bereit. Jede noch so kleinste Verfehlung wurde bestraft. Nur so konnten die Kinder zu einem wertvollen Mitglied der Dorfgemeinschaft erzogen werden. Besonders die Jungen bekamen den Stock oft auf dem Hosenboden zu spüren, und manch einer stopfte sich vorsorglich etwas Laub oder Gras in die Hose, um den Schmerz in Grenzen zu halten. Hauptsache, man schrie aus vollen Kräften. Das machte Eindruck bei den Mäd­chen, welche der Exekution atemlos zuschauten. Emma hielt für solche Fälle immer ein Bonbon in ihrem Taschentuch bereit – als Tröstung für den Delin­quenten.

    Sie selber blieb übrigens weitgehend verschont, denn der Lehrer wurde von der Dorfgemeinschaft hauptsächlich in Naturalien entlohnt. Da ihr Vater sich recht freigiebig zeigte, wollte Hempelmann die Quelle nicht versiegen lassen. Bei den anderen Kindern wurde jede Gabe sorgfältig geprüft, ob die Gans auch schön fett war oder die Kartoffeln nicht vom letzten Jahr. Ein mageres Schwein brachte dem Sohn des Spenders unweigerlich Verdruss. Man konnte den Leh­rer irgendwie verstehen. Er musste ja auch leben.

    August Heldenreich dehnte inzwischen seine Handelstätigkeit immer mehr aus. Das Militär war eine fast unerschöpfliche Einnahmequelle, die er als Hofliefe­rant beliebig melken durfte. Das Militär und die Marine waren das Wichtigste, was der Kaiser kannte. August war das ganz recht, denn er konnte vortrefflich davon leben. Die meisten Bürger des Deutschen Reiches wurden daran gemes­sen, ob und in welchem Regiment sie „gedient" hatten. Die Entlassungsurkun­den aus dem Militärdienst schmückten fast jedes Wohnzimmer. Bei den Heldenreichs fehlte sie aber, denn August hatte es geschafft, dem Wehrdienst zu entgehen, und später schienen dem Staat seine Handelsverdienste um das Vaterland wichtig genug.

    Im Sommer des Jahres 1906 kündigte sich bei ihnen weiterer Nachwuchs an. Nach Emma sollte es nun ein richtiger Held werden. Emma selbst ahnte davon aber noch nichts, denn die Kinder waren damals nicht so aufgeklärt wie heute. Sie wunderte sich zwar, was ihre Mutter seit einiger Zeit unter ihrer Schürze versteckt trug, doch die tatsächlichen Zusammenhänge erriet sie nicht.

    1906 - Ein Schuster auf der Durchreise

    An einem warmen Spätsommertag hatte sie ihren Puppenwagen vor dem Laden in die Sonne gestellt und spielte mit den Puppen. Heute war Waschtag. Ihre Mutter war mit einer Haushaltshilfe bei der großen Wäsche. Das zog sich immer über zwei Tage hin. Am ersten Tag wurde die Wäsche eingeweicht und am nächsten Morgen gekocht, ausgewrungen, gespült … und das Ganze mehr­mals. Das war eine wirkliche Knochenarbeit, aber einmal monatlich erforder­lich.

    Bei Emma war das einfacher. Sie begnügte sich damit, ihre drei Puppen kom­plett zu entkleiden, deren Wäsche symbolisch in einem leeren Eimer zu „waschen und die Puppen dann wieder anzukleiden. Als diese gerade nackt nebeneinander auf der Sitzbank saßen, fiel ein Schatten auf sie. Ein Mann stand vor ihr. „Darf ich mich zu dir setzen, kleines Frollein?, fragte er höflich.

    Emma schaute hoch und schob bereitwillig ihre Puppen zusammen, sodass noch genügend Platz für den Mann war. Schließlich war die Bank vor dem Laden für die Kunden aufgestellt, die vor oder nach dem Einkauf noch ein wenig rasten wollten.

    Der Mann setzte sich schwerfällig hinzu und schaute Emma an. „Ich heiße Wil­helm, stellte er sich vor, „und wie heißt du?

    „Ich bin die Kaiserdeern, heiße aber Emma, erklärte sie zutraulich und stellte auch gleich noch ihre Puppen vor: „Das ist Augustine, das ist Wilhelmine und das ist Clara. Dann deckte sie schnell ein Tuch über sie, damit Wilhelm sie nicht länger nackt sehen sollte.

    Wilhelm war schon älter, trug einen Schnauzbart und sah traurig aus. Seine schwarze Jacke war etwas abgestoßen, doch er strahlte eine gewisse Würde und Ruhe aus.

    „Hast du auch eine Nummer?", fragte Emma neugierig.

    Wilhelm schien etwas erschrocken. Unwillkürlich musste er an die Nummer denken, die ihm im Gefängnis zugeteilt worden war. Sah man ihm das an? Das konnte er sich von Emma nicht denken.

    „Was für eine Nummer?", fragte er.

    „Na, unser Kaiser, der mir die Goldmünze geschenkt hat, hat die Nummer Zwei. Du heißt doch auch Wilhelm, welche Nummer hast du denn?"

    Wilhelm musste lachen. „Ach sooo, sagte er, „nur Kaiser und Könige bekom­men eine Nummer, damit man sie unterscheiden kann. Ich bin zu unbedeutend, um eine Nummer zu haben. Nach kurzem Nachdenken fragte er: „Der Kaiser hat dir eine Goldmünze geschenkt?"

    Und Emma erzählte ihm die ganze Geschichte. Sie schloss mit den Worten: „Und deshalb bin ich die Kaiserdeern und ein Glückskind!"

    Wilhelm schaute sie interessiert an und fragte: „Darf ich die Goldmünze ein­mal sehen?" Er hatte nämlich noch nie in seinem Leben eine Zwanzigmark­goldmünze gesehen.

    Emma lief bereitwillig ins Haus, um die Münze aus der Schatulle zu holen. Wilhelm bewachte indessen die Puppen. Zögernd nahm er die Münze von Emma entgegen und betrachtete sie mit glänzenden Augen. Er konnte sich an nichts erinnern, das schöner gewesen wäre. „Du bist wirklich ein Glückskind!", sagte er und gab Emma das Goldstück zurück. Diese verschwand wieder, um es in die Schatulle zurückzulegen.

    In diesem Moment kam Emmas Mutter aus dem Haus, um nach ihrer Tochter zu sehen. Sie erblickte den alten Mann neben Emmas Puppen und kam näher. Wilhelm stand höflich auf und stellte sich vor „Ich heiße Wilhelm und passe auf die Puppen auf. Emma ist gerade ins Haus gegangen. Sein Blick wanderte über Wilhelmines gerundeten Bauch. Da kam Emma herausgehüpft und sagte fröhlich: „Ich habe Wilhelm meinen Glückstaler gezeigt.

    Die Mutter erschrak etwas, doch der Alte sah zwar abgeschabt, aber nicht wie ein Dieb aus. Sie wandte sich ab, um August zu holen. Das war eine Sache unter Männern.

    „Du bekommst bald ein Brüderchen oder Schwesterchen!", stellte Wilhelm fest.

    Emma war erstaunt: „Woher weißt du das?"

    Wilhelm hatte durchaus nicht vor, an dieser Stelle die Aufklärung Emmas in die Wege zu leiten. Er murmelte deshalb: „Wart’s nur ab!", und beließ es dabei. Er wurde von August aus weiterer Erklärungsnot gerettet, als dieser forsch aus dem Haus eilte.

    „Was kann ich für Sie tun?", fragte der ganz geschäftsmäßig.

    Wilhelm zeigte auf die Bank und meinte, er hätte sich nur etwas ausruhen wol­len, da er auf der Durchreise von Wismar nach Berlin wäre, wo er eine wich­tige Angelegenheit regeln wolle.

    Da neben Emmas Puppen nicht genügend Platz für zwei Männer und die Pup­penwäsche noch lange nicht beendet war, bat August den Alten in die Wohn­stube, um sich bei einem Bier mit ihm zu unterhalten. Die „wichtige Angelegenheit" interessierte ihn sehr. Nicht umsonst hatte er seine Geschäfte immer mehr erweitern können, da er stets die Ohren offen hielt. Und die Hauptstadt interessierte ihn ganz besonders. So erfuhr er die ganze bisherige Lebensgeschichte des Mannes.

    Wilhelm war in Ostpreußen geboren worden und hatte das Schuhmacherhand­werk gelernt. Er gab bereitwillig zu, in den nachfolgenden Wanderjahren als Schuhmachergeselle mehrfach aus Not und wenn sich die Gelegenheit bot, kleinere Diebstähle begangen zu haben, wegen denen er auch ins Gefängnis gekommen war. „Meist habe ich nur etwas Essen auf dem Markt oder aus eini­gen Gärten gestohlen, wenn ich auf Wanderschaft war." Doch Diebstahl ist Diebstahl, und darauf stand Gefängnis. Das sah er ein. Doch seine handwerkli­chen Fertigkeiten waren überall anerkannt. Darauf legte er Wert.

    August fragte, wo denn Wilhelm zuletzt gearbeitet hätte. Dieser kratzte sich verlegen am Kopf und erzählte, er hätte zuletzt eine Stelle bei Hofschuhma­chermeister Hilbrecht in Wismar gehabt, hatte sich dort auch gut gemacht, bekam aber

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