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Die Diktatur der Schildkröte
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eBook305 Seiten4 Stunden

Die Diktatur der Schildkröte

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Über dieses E-Book

Mr. T, ein rücksichtsloser, schwerreicher Geschäftsmann mit Hang zum Luxus, lebt mit seinem Familienclan und einer Gruppe von Riesenschildkröten in seiner Welt zwischen Fantasie und Realität. Einer-seits gefürchtet für seine Wutausbrüche, bei denen er buchstäblich über Leichen geht, erweist er sich andererseits als sympathischer Träumer, der seine Familie und seine Schildkröten über alles liebt. Auf der Suche nach Freunden und auf dem Rücken dieser Tiere feiert er, gemeinsam mit einigen wenigen auserwählten Gästen, opulente Feste. Hierbei gilt nur eine Regel: Absteigen verboten. Die Schildkröten bestimmen somit über den Verlauf und die Qualität des Abends. Als sein Freund Albert E. Stein aus den Schildkröten-Genen ein Medikament gegen das Altern entwickelt, ergeben sich für Mr. T und seinen Clan neue Perspektiven aber auch ungeahnte neue Probleme: Nach etlichen Experimenten "reist" Mr. T, mit Hilfe des Serums zurück in seine Jugend, Kindheit und später sogar in sein Greisenalter. Aus der anfänglichen Suche nach Heilung eines Traumas entwickeln sich im Verlauf der Zeit vier eigenständige Personen und somit auch vier Rollen in die er abwechselnd und je nach Anlass schlüpft. Alles scheint möglich.

Doch wo auch immer Mr. T hinreist und egal in welche Rolle er dabei schlüpft – überall begleitet ihn seine Wut, die er seit Kindertagen beobachtet und zu kontrollieren versucht. Sie zieht sich nicht nur als Illustrations-Ebene durch die Geschichte, sondern erweist sich auch spätestens am Ende als der wahre Diktator im Leben von Mr. T.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Apr. 2015
ISBN9783738022889
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    Buchvorschau

    Die Diktatur der Schildkröte - Rose Vogel

    Prolog

    Wenn ich in den Himmel blicke und die Wolken betrachte, sehe ich sie überall. Schildkröten. Riesige. Meist sogar in Gruppen. Sie begleiten mich, wohin ich auch gehe. Wie große, gütige Schutzengel. Ich erkenne sie in Felsformationen, in sanften Hügeln, in Kieselsteinen, Blättern, Blüten und sogar in zerknülltem Papier. In Fußspuren im Sand, in Erdklumpen und in Wasserpfützen. Auch in Bäumen und Büschen. Manch anderer sieht einfach nur Berge, Dreck und Papier. Ich aber entdecke sie sofort. Meine treuen Begleiter. 

    Im Zeichen der Schildkröte

    Seit ich denken kann, hält unsere Familie Riesenschildkröten. Als Kind bin ich bereits auf ihnen geritten. Habe auf ihnen meinen Mittagsschlaf gehalten, ihnen meine Geheimnisse ins Ohr geflüstert und mit ihnen in Vertrautheit geschwiegen. Es sind meine besten Freunde. Alleine beim Gedanken an sie und ihre klugen schwarzen Augen wird mir warm ums Herz.

    Ich entstamme einer Familie von ehrbaren Geschäftsleuten. Import Export. Wir haben immer schon gehandelt. Mit Waren. Mit Logistik und vor allem mit dem Lösen von Problemen anderer Leute. Unsere ersten Riesenschildkröten wurden uns als freundschaftliche Geste überlassen. Ein Zeichen tiefer Dankbarkeit von einem Kunden. Sie stammten aus dem Nachlass eines Ichtyologen (Fischforscher), der bei der Erforschung einer speziellen Quastenflosser-Gattung einem lieben Freund der Familie längere Zeit die Geschäfte verdorben hatte. Er forschte und fischte bevorzugt im trüben Küstengewässer. Dort war ihm eine zufällige Entdeckung gelungen. Statt seiner Flosser hatte er andere Dinge aufgestöbert, die dort verwahrt worden waren, um eben genau dieses zu verhindern. Nicht alles kann in Salzsäure aufgelöst werden oder auf andere Art verschwinden. Vieles muss vergraben oder versenkt werden. Und jener Forscher hatte jede Menge Schlamm aufgewirbelt und alle Algen entfernt, die bereits üppig über eine solche Angelegenheit gewachsen waren. Dies ergab eine unangenehme Situation. Vermutlich für weit mehr Personen als nur jenen guten Freund der Familie. Es war damals unumgänglich, dass unser Unternehmen tätig wurde. Die Entdeckung jenes Forschers erforderte leider eine radikale Lösung. Es gab gar keinen anderen Weg: Der Mann musste weg. Sofort.

    Ein Urahn dieses plötzlich Verstorbenen war einst Missionar auf einer kleinen Insel im Indischen Ozean gewesen. Zusammen mit vielen Briefen und Aufzeichnungen über die endemische Pflanzen- und Tierwelt, erreichte seine Familie auch der schöne Brauch, zur Geburt einer Tochter eine kleine Riesenschildkröte zu schenken. Da der Fischforscher der letzte Spross dieser Dynastie war, durften wir durch jene Schenkung auf einen Schlag zehn ausgewachsene Tiere unser Eigen nennen. Nach den Kindheitserinnerungen meiner Großmutter wurde die für alle sehr überraschende Ankunft der damals bereits ausgewachsenen Reptilien mit mehreren Ochsenkarren, Flaschenzügen, Handwägen und entsprechendem Geschrei und Palaver bewerkstelligt. Sie erlebte diesen Tag auf den Schultern ihres Großvaters. Glucksend vor Vergnügen. Stets begannen ihre vom Star getrübten Augen zu leuchten, wenn sie bei einem Gläschen Portwein von diesem Ereignis erzählte. Glückliche Zeiten. Ein großer Tag in der Familiengeschichte. Um die Tiere auf dem Anwesen zu verteilen, wurden damals angeblich Holzstämme genutzt, mit denen die Schwergewichte Meter für Meter über das Gelände gerollt wurden. Dies belegen alte und mittlerweile vergilbte Fotografien. Sicherlich eine schweißtreibende Angelegenheit, um die ich niemanden beneide. Ich bin sehr froh, dass mir für den Transport der Tiere heutzutage ganz andere Mittel zu Verfügung stehen.

    Seit diesem Tage gelten die Schildkröten als deutlich sichtbares Zeichen unserer Arbeit. Mahnmale. Symbole unseres Erfolges. Lebende Gedenksteine eines jeden erfolgreichen Todesfalles und Fundament einer neuen Familientradition. Mit jedem von uns gelösten Problem und damit einhergehenden Todesfall, bevölkert ein weiterer Gigant das Familienanwesen. Dass ein solches Tier auch den Weg ins Familienwappen und auf den Siegelring fand, muss hier nicht weiter erklärt werden. Heute zählt unsere Familie fast weniger Häupter als Panzertiere. Ein Umstand, der mir schon als junger Mensch wenig Freunde und den Spitznamen »Giant T« eingebracht hat. Natürlich eine Ableitung von der Ordnungsbezeichnung »Testudinata«. Das »Giant« erklärt sich von selbst. Ich bevorzuge das schlichte Kürzel »T«. Das funktioniert auch sehr schön als Brandzeichen, als Stempel und als Monogramm in meinen Hemden. Man kann es hübsch in Holz schnitzen und in Haut ritzen und natürlich signiere ich auch meine Post so. Aber dazu komme ich später noch.

    Mit der Zeit ist es etwas ruhiger geworden um unsere Familie. Wir haben uns weitestgehend aus diesem Bereich des Geschäftslebens zurückgezogen und arbeiten nur noch für gute Freunde oder für sehr reiche Fremde. Das Verwalten des Familienvermögens erfordert unsere uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Meine letzte Schildkröte habe ich vor zwei Jahren direkt von Aldabra, ganz ohne lästigen Papierkram, einfliegen lassen. Sie heißt Masoud Al-Faktoum, wiegt 800 kg und verdankt ihren Aufenthalt bei uns einer von mir diskret gelösten Erbschaftsstreitigkeit unter Brüdern im mittleren Osten. Zur Beerdigung war ich als Ehrengast geladen. Es war eine beeindruckende Feierlichkeit.

    Masoud versteht sich inzwischen sehr gut mit John F. Kennedy, Uwe Barschel und Lady Di. Sie alle vereint die Liebe zu Brotfrucht, Salat und Gemüse, worum sich die ortsansässige Großmarkthalle täglich kümmert. Unsere gepanzerten Erfolgssymbole bilden aktuell eine Herde von genau 30 Tieren. Für ihre Pflege haben wir fünf Tierpfleger, einen Tiermediziner, eine Tierpsychologin und einen Personal Trainer eingestellt. Wie gesagt, diese Tiere liegen mir sehr am Herzen. Ich würde für sie alles tun – und geben. Wenn es nötig wäre. Vom letzten Hemd bis zur Organspende.

    Obwohl ich nicht das Familienoberhaupt bin, besteht meine Aufgabe darin, auf das Unternehmen und die weiterhin laufenden Geschäfte zu achten. Aus dem Operativen halte ich mich meist heraus. Das bereits erwähnte Projekt »Al-Faktoum« war da eine Ausnahme. Eine kleine Herausforderung, der ich mich persönlich angenommen hatte. Ganz in der Tradition meiner Ahnen. Üblicherweise arbeiten wir nicht mehr so. Todesfälle sind heutzutage längst nicht mehr zwingend nötig. Wir beschäftigen einige ganz hervorragende Anwälte, die wiederum von ganz hervorragenden Ermittlern unterstützt werden. Dank modernster IT, dem World-Wide-Web und einigen anderen technischen Hilfsmitteln, sind meist nur wenige vermittelnde Gespräche nötig. Auch wir sind im 21. Jahrhundert angekommen und sehen uns eher als Mediator. Unter der Schildkröte im Wappen auf dem Firmenbriefbogen steht mittlerweile der Begriff »Consulting«. Und genau so wollen wir unsere Arbeit auch verstanden wissen: Wir beraten. Wir raten den Kontrahenten unserer Auftraggeber dazu, sich unseren Argumenten und Angeboten zu öffnen. Wir sind da sehr überzeugend. Und in den meisten Fällen gelangen wir sehr rasch zu einer Einigung. Nur eben bei Masoud Al-Faktoum  nicht. Der blieb gegenüber allen Verhandlungsversuchen verschlossen und zeigte sich überhaupt nicht einsichtig. Nein. Er wurde sogar laut. Und in meinen Ohren gar ausgesprochen unfreundlich. Abgesehen von den Widerworten verursachte mir alleine seine Stimme Schmerzen, die sich von den Zähnen bis auf meine Kopfhaut ausbreiteten. Er ließ mir durch dieses Verhalten wirklich gar keine andere Wahl. Ich bin berühmt für meine zügellosen Wutausbrüche und es ist allgemein bekannt, dass es sehr unvernünftig ist, mit mir Streit anzufangen. Erst recht, wenn man in einer Krisenregion lebt. Und dann auch noch in einer Klimazone, in der es vor giftigem Getier nur so wimmelt. Ich bin mir mittlerweile selbst nicht mehr sicher, ob hier tatsächlich mein mitgebrachtes Exemplar aus Cousin Tonis Terrarium der Täter war.

    Ich streite mich grundsätzlich sehr ungern. Ich bin gewissermaßen harmoniesüchtig. Einige Personen aus meinem engeren Umfeld würden noch unter uns weilen, hätten sie nicht damit angefangen. Es ist aber nicht etwa so, dass ich immer Recht haben möchte und andern meinen Willen aufzwinge. Nein. Ganz im Gegenteil. Man kann mit mir über alles sprechen. In einem normalen Ton. In normaler Lautstärke und normaler Stimmfrequenz. In einem freundlichen Ton kann man mir sogar sagen, dass meine Krawatte geschmacklos ist und ich schon wieder versehentlich zwei Grenzsteine meines Besitzes verschoben habe. Bei einem schönen Glas Rotwein bin ich ein sehr guter Zuhörer und offen für konstruktive Kritik, gute Argumente und Angebote. Schließlich bin ich Geschäftsmann. Und das recht erfolgreich.

    Nur manchmal gehen die Pferde mit mir durch. Wie zum Beispiel damals, als mir meine Freundin – sie ruhe in Frieden – eröffnete, dass sie nicht mehr mit mir leben könne. Zuviel hiervon; zuwenig davon. Ich wäre sonderbar und langweilig. Allein schon meine Art zu essen wäre ihr zuwider: den Salat meist so ganz ohne Besteck mit dem Mund vom Teller zu schnappen. Das gemächliche, bedächtige Kauen. Meine langsamen Bewegungen. Sie habe das Gefühl, mit einer Schild- kröte zu leben. Wenn nicht schon jetzt, dann bestimmt in einigen Jahren. »Du wirst ihnen immer ähnlicher! Unerträglich! So wie du riechst. Zieh’ doch gleich zu ihnen.« Endlose Vorwürfe, alle laut und schrill vorgetragen. Tränen- und gestenreich. Ich konnte gar nicht so schnell hören, wie sie sprach. Sie endete mit einem lang anhaltenden hohen Ton und dem Fazit, dass sie hier alles nicht mehr ertrage und mich sofort verlassen werde und besiegelte dies mit einem Teller Wildschweinragout an Babykartoffeln. Sie traf mich damit. Sehr hart. Er hat trauriger Weise bleibende Flecken auf meinem Hemd hinterlassen. Es war mein Lieblingshemd in dieser Woche. Aus reinem Kaschmir. Von Sartoriani. Und wie gesagt. Ich hasse Streit. Ich konnte nicht anders: Ich kann mich, wenn nötig, sehr schnell bewegen. Blitzschnell! Sie wären überrascht. Das T. in ihrer Haut geriet ein wenig zu tief und außerdem traf ich ganz unglücklich ihre Halsschlagader. Nein. Ich möchte darüber überhaupt nicht mehr sprechen. Mittlerweile habe ich diesen Tick mit dem Salat übrigens wieder gut unter Kontrolle bekommen!

    Solche Ausrutscher bedeuten keinen neuen Bewohner im Gehege. Sie bedeuten aber natürlich, dass unsere Mitarbeiter jede Menge zusätzliche Arbeit zu erledigen haben. Diskret. Es geht da nicht nur um eine gründliche Reinigung. Es müssen meist auch Reisen unternommen, sensible Gespräche geführt und hohe Beträge ausgehandelt werden. Spätestens dann fühle ich mich miserabel und würde am liebsten alles ungeschehen machen. Aber das ist eben mein aufbrausendes Gemüt. Meine Wut. Manchmal ist sie stärker als ich. Manchmal kann ich sie nicht kontrollieren. Sie scheint dann meinen Körper zu verlassen und ein ganz eigenständiges Leben zu führen. Gewalttätig. Gefühllos. Sie stürzt sich in Situationen wie eine Schlammlawine. Sie reist alles mit sich. Und zerfleischt es. Ein Mensch wäre zu so etwas niemals fähig. Meine Wut richtet schlimme Dinge an. Ich muss mit ihr leben. Für mich ist das alles auch nicht einfach. Mein Kinderpsychologe riet mir einst dazu, diese Wut zu zeichnen. In all ihren Aggregatzuständen und Erscheinungsformen. »Lerne deine Wut kennen, T. Sieh ganz genau hin. Erforsche, was sie in dir macht. Je besser du deine Wut kennst, desto besser kannst du sie kontrollieren.« Er fand das interessant. Leider ist er schon lange tot. Wir arbeiteten nur knapp ein halbes Jahr zusammen, bis er einen schlimmen Wutausbruch aus, wie er sagte, »wissenschaftlichen Gründen« provozierte. Seine Verletzungen erklärten unsere Anwälte mit einem tragischen Unfall mit einem Mähdrescher. Unfallhergang: unklar. Wie auch immer. Seit diesen Tagen zeichne ich meine Wut und ihre vielen Gesichter. Ich bin immer noch dabei, sie richtig kennenzulernen. Sie überrascht mich noch oft. Im Familienrat wird über diese Ausbrüche mittlerweile nicht mehr gesprochen. Nur noch kurz geseufzt. Alle wissen, dass ich mich nicht gerne streite.

    An dieser Stelle sollte ich etwas mehr über meine Person sagen. Mein Name ist »T.«. »Mr. T. Mitte Vierzig, um die 1,90 m groß und etwa 80 kg schwer. Ein Mann im besten Alter. Übrigens gerade alleinstehend. Menschen, die mich kennen, bezeichnen mich als überaus gutaussehend. Ich hätte eine gewisse Ähnlichkeit mit Guy Fawkes. Wie gesagt. Ich will mich nicht streiten und möchte auf gar keinen Fall viel Aufheben um meine Person machen. Aber machen Sie bitte nie den Fehler, mich nicht zu beachten oder mich nicht ernst zu nehmen. Das ist noch niemandem bekommen. Ich bin das mittlere von drei Kindern. Die Familie meiner Mutter trägt die Schildkröte im Wappen. Wir leben im Stammhaus dieser Dynastie – zusammen mit den Familien zweier ihrer Brüder. Meine Mutter lernte meinen Vater bei einer Tagung über »Mykenische Lungenerkrankungen von in Gefangenschaft gehaltenen Riesenschildkröten« kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick.

    Mein Vater, ein echter Grandseigneur, trug damals schon bevorzugt maßgeschneiderte Anzüge, die er mit klassischen Seidenschals und Einstecktüchern kombinierte. Eine Leidenschaft, die ich von ihm geerbt habe. Ansonsten bin ich aber eher nach meiner Mutter geraten. Sie hat wunderschöne tiefbraune Augen mit dichten, langen Wimpern und immer noch volles dunkles Haar, das sie in unendlich vielen unterschiedlichen Steckfrisuren auf ihrem Kopf zu bändigen vermag. Ihre Sammlung an Haarnadeln, Kämmen und Klammern ist beachtlich und dank Perlenbesatz auch sehr wertvoll. Sie liebt Perlen. Über alles. Jede Perle in ihrem Besitz kann eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die meine Mutter wahlweise sehr traurig oder sehr wütend gemacht hat. All diese Geschichten eint neben diesem Gram vor allem ihr Ende: die Überreichung einer Perle und die damit verbundene Vergebung meiner Mutter. Jede Perle ist eine Träne. Eine getrocknete Träne meiner Mutter. Ich mag mir nicht ausmalen, wie groß ihr Kummer gewesen sein musste, der meinen Vater dazu veranlasste, meiner Mutter »La Regente«, die teuerste Perle der Welt, zu schenken. In unserer Familie gibt es vieles, worüber nicht gesprochen wird. Die langen Perlenketten, die bereits meine Großmutter trug, lassen mich das vermuten.

    Mein jüngerer Bruder verwaltet die Familiengüter in Südamerika. Mir war es dort zu heiß. Das Klima bekam mir überhaupt nicht. Daher war ich sehr froh, als er mir diesen Posten mithilfe einer äußerst lächerlichen Intrige ausspannte. Es wäre meine Aufgabe gewesen, die Geschäfte meines verstorbenen Onkels zu übernehmen. Ich saß bereits schlecht gelaunt auf meinen gepackten Koffern, als mein Bruder damit begann, mich beim Familienrat anzuschwärzen. »Das könnt ihr ihm nicht antun. T. ist doch nicht Herr seiner selbst. Es wäre verantwortungslos von uns, ihn fortzuschicken. Er braucht uns doch«. Mir konnte er damals nichts vormachen. Er wollte anstatt meiner nach Südamerika. Dafür heuchelte er den fürsorglichen Bruder und denunzierte mich als Psychopath. Ich beobachtete ihn dabei genau. Ganz genau. Und lies ihn dennoch gewähren. Wie gesagt, das Klima dort ist so gar nichts für mich. Und jetzt weiß ich, woran ich bei ihm bin. Seine vorgeblich gut gemeinten Appelle waren bald von Erfolg gekrönt. Meine ältere Schwester hatte meinen Bruder damals unterstützt. Ihre Taktik war dabei eine andere: Sie war es, die mich damals im Familienrat vor allen Mitgliedern bat zu bleiben. Ihre Augen glitzerten dabei feucht. Sie würde es nicht ertragen mich zu verlieren. »Und denk doch T.: Wenn du schon nicht wegen mir oder Mutter bleiben willst. Was sollen die Schildkröten ohne dich tun?« Ich konnte gar nicht anders als meine Reisepläne zu revidieren und meine Koffer wieder auszupacken. Meine ältere Schwester lebt mit ihrem Mann und immer mehr lärmenden Kindern mittlerweile ebenfalls im Ausland. Wir haben ja noch etwas Land auf den Kapverdischen Inseln. Eine angemessene Entfernung, wie ich meine.

    Meine Kindheit war sehr glücklich, aber einsam. Bunt und doch grau. Ich hatte keine Freunde. Andere Kinder meines Alters begegneten mir mit Misstrauen oder Furcht und hielten immer einen gewissen Sicherheitsabstand zu mir. Gewiss hauptsächlich wegen meiner Familie und ihren Geschäften. Des Nimbus der uns umgab. Aber auch, weil ich als Sonderling galt. Verträumt. Schüchtern. Dabei aufbrausend. Meine Wutanfälle waren schon damals legendär. Und dann natürlich die Sache mit den Schildkröten. Wer nur mit Tieren oder mit sich selbst spricht, gilt gemeinhin als seltsam. Und Kinder können da grausam sein. Wenn ich eine Eisdiele betrat, verstummten die Gespräche. Wenn ich über die Liegewiese im Freibad lief, wurden die Köpfe weggedreht, um einen Blickkontakt zu vermeiden. Der Platz neben mir in der Schulbank blieb meist unbesetzt und in den Zweierreihen bei Schulausflügen stapfte ich alleine. Nur ich und meine leise knurrende Wut. Zumindest entging ich so den schrecklichen Poesiealben und konnte in der großen Pause ungestört auf einem kleinen grasbewachsenen Hügel liegen. Von dort begleitete ich mit den Augen meine Schildkröten am Himmel. Nie wurde ich zu Geburtstagsfesten eingeladen und meine Einladungen wurden eilends abgesagt. Vielleicht grassierte aber auch tatsächlich jahrelang eine Windpockenepidemie in meinem Heimatort. Ich habe das nie ausreichend recherchiert. Meine Wut schwelte. Ich ertrug dies alles mit lächelndem Gleichmut, der meine Wut verhüllte und besprach mich ausgiebig mit meinen Schildkröten-Freunden. Sie hatten immer Zeit für mich und reckten freudig ihre Hälse, sobald sie mich kommen sahen. Und ich wusste, dass das nicht nur an den mitgebrachten Leckereien lag.

    In einem Buch habe ich gelesen, dass Bälle eine Demonstration von Macht und Reichtum seien. In der heutigen Zeit nennt man solche Veranstaltungen lieber »Partys«. Ansonsten scheint das Buch aber Recht zu haben. Denn seit ich meine Partys veranstalte, bin ich überaus beliebt und zwar nicht nur bei Künstlern, Schauspielern, Musikern und Möchtegern-Prominenz, sondern auch bei Wissenschaftlern, Politikern, Industriellen und sogar deren Psychologen. Meine Partys waren anfangs nur der Versuch, Freunde zu finden. Mittlerweile muss ich mir eingestehen, dass es eigentlich auch um die Demonstration von Macht, Reichtum und Einfluss geht. Und dass ich dies sehr genieße. Jeder will auf meiner Gästeliste stehen. Diese Menschen sind verrückt nach Exklusivität. Sie wollen mich kennen. Mit mir fotografiert werden. Und wenn mein Fahrer das Kuvert mit dem großen »T.« abgibt, fühlen sie sich anerkannt. Auserwählt. Format und Farbe der Einladung habe ich übrigens von meiner Palladium Visa Card von J.P. Morgan übernommen. Auf der Vorderseite sitzt eine gravierte Schildkröte. Genau in der Mitte. Auf der Rückseite sind die Angaben zu Datum, Uhrzeit und Ort notiert. Ganz klein. Das sieht eleganter aus und ich erwarte, dass die Geladenen sich etwas bemühen. Aus meinem Heimatort wähle ich keine Gäste aus. Ich scheine neben all den bereits genannten Eigenschaften auch noch ein klein wenig nachtragend zu sein.

    Zu einer guten Party gehören nach meinem Dafürhalten zu aller erst Getränke und Speisen. Bei mir sollten sie noch dazu erlesen sein. Teuer, selten, fürchterlich schwer zu beschaffen, aber auf jeden Fall so geartet, dass man bei der Nennung ihres Namens mit erhöhtem Speichelfluss zu kämpfen hat. Natürlich am besten in großen Mengen und von diplomierten Servicekräften unermüdlich dem Gast offeriert. Ebenfalls unerlässlich für eine Veranstaltung dieses Kalibers ist ein Austragungsort von dem die Gäste noch jahrelang erzählen sowie eine überwältigende Dekoration und ein ebensolches Unterhaltungsprogramm. Soweit so gut. Was meine Partys aber so außergewöhnlich macht, ist »das Spiel«: Alle Gäste erhalten einen ergonomischen Sitzplatz zugewiesen. Auf einer unserer Riesenschildkröten. Dieses Spiel hat nur eine einzige Regel, die aber unbedingt einzuhalten ist. Sie lautet: »Absteigen verboten!« So können ganz neue Bekanntschaften entstehen und Freundschaften geschlossen werden – während meine Gäste feierlich durch den Abend getragen werden und Champagner trinken. Gute Unterhaltung ist dabei aber keines Falles garantiert. Bei einigen Gesprächen scheint sich die Zeit wie Kaugummi in die Länge zu ziehen. Jeder mühsam formulierter Satz wird zur Qual. Situationen, aus denen man sich sonst höflich verabschieden würde müssen ertragen werden. Unerträglich. Und manch angeregte Konversation wird jäh beendet. Wegen einer Mücke, eines Salatblattes, einer Brotfrucht oder einem spitzen Steinchen. So funktioniert das Spiel. Und genau hier liegt der Reiz. Es herrscht sozusagen die Diktatur der Schildkröte. Sie entscheidet, wer mit wem spricht. Wer abseits sitzt und wer im Gedränge. Ich kann da leider gar nichts machen. Es gibt keine Ausnahme. Die Idee zu diesen Veranstaltungen kam mir im Gespräch mit meinen Lieblingen. Wir haben dieses Spiel gewissermaßen gemeinsam entwickelt.

    Die Anzahl der Gäste ist dabei selbstverständlich begrenzt. Ich möchte nicht alle Schildkröten an einem Abend einsetzen. Wir entscheiden gemeinsam, wer dabei sein will und vor allem mit wem. Ich fühle mich dann immer wie der Nationaltrainer bei der Mannschaftsaufstellung. Mit dem kleinen Unterschied, dass bei mir die Spieler die eigentlichen Entscheidungsträger sind. Meine gepanzerten Freunde sind doch die wahren Stars des Abends. Sie haben nur Freude dabei, wenn sie wohl auf und vor allem gut gelaunt sind. Ich versende niemals mehr als zwanzig Einladungen pro Veranstaltung und ich habe noch nie eine Absage erhalten. Noch nie! In all den Jahren. Eine erstaunliche Veränderung zu meinen Jugendtagen.

    Bei den Gästen versuche ich stets eine »illustre Gesellschaft« zusammenzustellen. Bunt gemischt. Gerne völlig unpassend. Ich liebe es, wenn eine gewisse Explosionsgefahr in der Luft schwebt. Ich achte auf Unterschiede: Gesellschaftsschicht, Haltung, Wertvorstellung, politische Meinung, Geschmack, Alter, Größe, Intelligenz, Physiognomie. Zu einer guten Partygesellschaft gehören immer mindestens zwei Personen, die sich in inniger, gegenseitiger Abneigung verbunden sind. Oder diese im Verlauf des Abends entdecken und ausbauen können. Das ist meist sehr hübsch zu beobachten. Für mich immer wieder ein Geschenk. Meine Harmoniesucht stört das erstaunlicher Weise gar nicht. Streitigkeiten, die mich nicht selbst betreffen, amüsieren mich kolossal. Und schließlich lebt unsere Familie davon. Ja. Die Streitigkeiten anderer ermöglichen uns eine luxuriöse Existenz mit vielen Annehmlichkeiten, Mitarbeitern und vor allem Möglichkeiten. Und alleine schon für meine Maßanzüge und die hochkarätigen Präsente für die schönen Frauen in meinem neuen Leben sind einige Auseinandersetzungen nötig. Ich habe einen feinen Sensor für möglichen Disput entwickelt. Auf manchen muss nur zart hingewiesen werden. Oft genügt ein leichtes Stupsen. Manchmal muss

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