Träumer
Von Joachim Hoffmann
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Über dieses E-Book
Ort: ein geheimnisvoller Turm, Zeit: unbekannt. Der Sonderling 0-1008 führt ein trostloses Dasein. Er verbringt seine Zeit mit fruchtlosem Grübeln über sein Dasein und argwöhnischer Beobachtung seiner Mitinsassen. Insgeheim träumt 0-1008 von einem anderen, besseren Dasein – einem Leben in vollen Zügen, jenseits der einengenden Mauern des Turms. Als Gerüchte von einem Krieg die Runde machen, entscheidet sich 0-1008 zur Flucht. Doch seine Reise endet anders als erwartet.
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Träumer - Joachim Hoffmann
I
Der Mensch ist ein Tier im Käfig, das gerne über Freiheit spricht.
Voller Aschestaub ist die Luft. Und hier standen sie, wie Namen auf einer Liste, in einer Reihe, jeder an seiner Stelle, wo er hingehörte, versorgt mit dem Notwendigen: Die Menschen des Turms, Brüder genannt. Keiner von ihnen wusste, warum sie hergekommen waren und warum sie wieder gehen mussten. Alle hatten Dinge getan, dieses und jenes, Gutes und Schlechtes, doch keiner von ihnen hätte sagen können, warum es ihm auferlegt worden war, dieses Dasein zu führen. Sie alle waren dem Tod geweiht, das wussten sie. Doch wann der Tod kommen würde, wussten sie nicht und ebenso wenig wussten sie, was es mit dem Tod auf sich hatte. Der Tod gehörte zu diesem Dasein, als wuchere er wie Unkraut zwischen den Steinen der Turmmauern, sei es weil einer der Brüder starb, sei es weil man darüber redete, was der Tod für den Menschen bedeutete, sei es weil man von toten Tieren, deren Häute man am Leibe trug und deren Fleisch man verzehrte und von toten Menschen, deren Welt man erbte, umgeben war. Es schien, als würde sich der Tod verzweifelt ans Leben klammern, da er ohne das Leben nichtig ist.
0-1008 blinzelte. Er sah zur Turmspitze empor, auf der die Flagge wie ein Segel im Wind flatterte, und war überrascht, wie schief der Turm in die Höhe gebaut war, „als wäre er ein Zeichen dafür, dass die Welt aus den Fugen geraten ist, dachte er sich. Er senkte seinen Blick wieder und sagte zu sich selbst: „Vielleicht ist bloss mein Kopf schräg
. Er sah an sich herunter und erfreute sich an den gereinigten Kleidern, die er am Leib trug. Links und rechts neben ihm standen seine Mitinsassen, die er seine Brüder hiess. Sie alle standen gemeinsam auf dem so genannten Platz der Teilung, der sich zur Hälfte innerhalb des Turms befand, so dass man vom Platz aus die untersten Ansätze der gewundenen Treppen, die zur Turmspitze führten, im Blick hatte, und zur anderen Hälfte ein von hohen Mauern umgebener Hof war. Wer die einzelnen Brüder waren, die neben ihm standen, konnte 0-1008 nicht sagen, denn es bereitete ihm Mühe, Gesichter voneinander zu unterscheiden, als wären alle Brüder verschiedene Seiten ein und desselben Kerns, als sähe 0-1008 nur das Wesen, dessen Gestaltung im Grunde gleichgültig war. Wenn er bei einem seiner Brüder etwas über einen bestimmten Insassen wissen wollte, bekam er achselzuckend zur Antwort: „Man frage die zuständige Stelle. Bei dem, was er über seine Brüder gerüchteweise hörte, fiel 0-1008 auf, dass im Grunde jeder von ihnen mehr oder weniger dasselbe zu erzählen haben musste, sie alle litten, träumten und hofften, kämpften, mit- und ohneeinander, sie alle waren da für- und gegeneinander. „Eher lerne ich etwas darüber, wie sich Gerüchte verbreiten und wie man sich mitreissende Geschichten erzählt, als dass ich etwas über einen einzelnen Bruder erfahren kann – und vielleicht ist das auch das einzige, was zählt
, sagte sich 0-1008.
Auf der Bühne sprach wie üblich ein Redner. 0-1008 erschien es, als wäre die Bühne eigens für diese Rede in besonderem Masse herausgeputzt worden, so sauber, geradezu rein sah sie aus. Die Versammlung der Brüder lief nach gewohntem Muster ab, 0-1008 kannte Ablauf und Inhalt auswendig: „Meine Brüder, sagte der Redner in einem Ton, der vor Bedeutung bebte: „Es ist die Wahrheit: Wir sind uns einig, dass wir alle, jeder einzelne von uns – denn wir alle sind gleich – frei sein wollen. Und darum müssen wir an dem weiterbauen, was wir angefangen haben. Aber, meine Brüder, wir stehen vor einer schwierigen und bedeutsamen Aufgabe
. „Hört! Hört!, flüsterte ein Insasse neben 0-1008, ein anderer, wie um zu ergänzen: „Nicht hin und nicht zu
. Es folgte das für Reden übliche Gleichnis: „Ein Gipfel erwartet uns, den wir mit schwerer Last auf den Schultern zu erklimmen haben, eine grosse Hürde, über die es zu springen gilt. Ja, meine Brüder, wir werden Türen zu abgesperrten Orten eintreten müssen!. Der Redner sah mit verantwortungsvoller Miene in die Menge, wobei er seinen Blick, das Kinn leicht in die Höhe gereckt, von einer Seite auf die andere langsam über die Köpfe der Anwesenden gleiten liess. 0-1008 kannte die Wirkung von Gleichnissen und andere Geheimnisse der Redekunst, es kostete ihn keine grosse Mühe, sie zu durchschauen. Gleichnisse, das wusste 0-1008, liessen den Zuhörenden Sachverhalte wie lebendige Bilder vor die Augen treten, die man mit den Händen greifen zu können glaubte. Und doch zeigten Gleichnisse nicht das, was man vom eigenen Dasein her kannte. „Wohl keiner der Brüder weiss, was es heisst, am Fusse eines hohen Berges zu stehen, um diesen zu besteigen. Und wenn einer von ihnen einen echten Gipfel besteigen müsste, er hielte es, anders als es im Gleichnis des Redners erschien, für weit weniger bedeutungsvoll, vielmehr der riesigen Anstrengung nicht wert
, dachte 0-1008. „Was haben diese Gleichnisse mit unserem Dasein zu tun, wo doch das, was in ihnen dargestellt wird, von unserem Dasein so verschieden ist? Deuten Wortbilder, die uns so lebendig erscheinen nicht bloss auf etwas hin, das nicht in Worte gefasst werden kann? Betrügen uns Gleichnisse nicht, weil sie uns eine Lebendigkeit der Worte vortäuschen, die diese nicht besitzen?Worte werden doch nur dann wirklich lebendig, wenn es eigentlich gar nicht um die Worte geht, sondern wenn diese Teil des Daseins des einzelnen Menschen sind, wenn die Worte innerhalb eines solchen Daseins ausgesprochen werden und darin aufgehen, wie Grussworte im Vorbeigehen zwischen einander vertrauten Bekannten, ein, vielleicht zwei einfache Worte, die aber denjenigen, die sie aussprechen, so unbeschreiblich viel bedeuten. Worte allein können uns nicht ernähren wie Brot, sie können das Verlangen unseres Leibes nicht stillen, sie können unseren Leib nicht versorgen, sie sind bloss kalter Draht im leeren Raum, tote Knochen ohne Fleisch, überlegte 0-1008 weiter: „Oder riecht etwa das Wort 'Feuer' wie echtes Feuer?
. „Krieg, sprach der Redner und 0-1008 wurde aus seinen Tagträumen gerissen: „Ist schlecht
. Der Redner fuhr fort: „Niemand will Krieg". Wollen? 0-1008 stutzte: „Ihr Träumer. Er wollte schreien, doch ihm blieben die Worte im Hals stecken. Er stellte sich vor, wie es wäre, die Bühne anzuzünden, damit der Redner wusste, wie sich echte Schmerzen anfühlten – „wer vom Krieg redet, soll sich dabei auf die Zunge beissen, damit er weiss, wie Blut schmeckt
, lautete ein unter den Brüdern verbreitetes Sprichwort. „… So dass ich voller Zuversicht bin: Wir werden diese uns erhöhende Aufgabe gemeinsam meistern!, sprach der Redner, streckte seine Faust in die Höhe und schüttelte sie: „Sind wir nicht einig Bruder und Bruder, untrennbar verbunden auch in Not und Gefahr?
. Beifall und Zurufe ertönten aus den Reihen der Anwesenden. 0-1008 hatte den Eindruck, die Gesichter einiger Brüder drückten Unverständnis und Ratlosigkeit aus und manche der Rufe wären ablehnender Art, gingen aber im allgemeinen Stimmengewirr unter. „Es gibt Krieg, flüsterte einer der Brüder neben 0-1008 verängstigt. „Oh!
, sagte ein anderer, „Wer oder was gibt denn?, als würde man in einer heiteren Spielrunde fragen: „Und, wer ist an der Reihe, die Karten auszugeben?
Dem zweiten Teil der Versammlung schenkte 0-1008 noch weniger Aufmerksamkeit als dem ersten. Beim so genannten „Hände hoch!" konnten die Brüder gemeinsam über Annahme oder