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Captum: Born. Twice.
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eBook590 Seiten7 Stunden

Captum: Born. Twice.

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Über dieses E-Book

Ein SOLDAT.Zwei NAMEN.Zwei LÄNDER.Ein KRIEG.Einer unter Millionen.Als die kleine Mia den abgemagerten David auf einer mexikanischen Müllhalde vor dem Hungertod rettet, ist es für beide ein Tag wie jeder andere und doch einer der letzten dieser Art. Geboren in der Hölle, gefangen inmitten von Grausamkeit und Tod, strebt David danach, seinem Schicksal zu entfliehen So beginnt die Geschichte eines genialen Jungen, der vom Militär zum Killer ausgebildet wird und immer tiefer im Sumpf des Drogenkriegs zwischen den USA und Mexiko versinkt. Einzig das Bild zweier grüner Augen begleitet stets seinen Weg. Doch als Erinnerung und Realität auf feindlichem Gebiet kollidieren, muss er sich entscheiden:Wird er töten, um zu überleben?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. März 2019
ISBN9783959919104
Captum: Born. Twice.

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    Buchvorschau

    Captum - Isabel Kritzer

    I

    Aller Anfang

    »Für einen Herzschlag gab es nur sie beide.

    Ihre dünnen Körper, die sich

    Halt suchend aneinander pressten –

    in ihrem Streben nach Hoffnung.«


    Der Junge von damals

    »Wenn man wahrhaftig liebt, hat man ihn – diesen einen Menschen, der einem mehr bedeutet als alles andere. Vielleicht sogar als man selbst. Für den jedes Regiment dieser Welt zu Fall gebracht, jede unerträgliche Qual erduldet und Unmögliches möglich gemacht werden würde, sollte dies vonnöten sein. Aber wenn es jemand gibt, für den man gar töten würde, und dieser stirbt vor den eigenen Augen, ohne dass man ihm helfen kann. Weil man zu spät kommt, weil man zu schwach ist. Weil die Möglichkeiten fehlen. Was macht das mit einem? Was macht das aus einem?«, fragte der alte Mann mit einer Eindringlichkeit, die den Pater schlucken ließ. Dabei begann die Geschichte gerade erst.

    1

    Vereinigte Mexikanische Staaten

    Das Krächzen von Geiern

    Als der kleine Junge die Augen aufschlug, hatten seine anderen Sinne die Umgebung längst wahrgenommen. Die Geräusche um ihn waren ihm so vertraut, dass er es, schläfrig, wie er war, nicht für nötig befand, sich zu rühren. Trotzdem beschleunigte sein Herz die Kontraktion, als Unruhe in ihm aufstieg. Er erschrak, tauchte vollends aus der Welt der Träume auf und schloss im nächsten Moment wieder matt die Lider.

    Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht.

    Und er wusste, nach kurzer Besinnungsphase, auch genau was. Es würde Ärger geben, das konnte er jetzt nicht mehr verhindern. Großen Ärger.

    Vielleicht gar tödlichen Ärger.

    Es fiel ihm schwer, das Ausmaß abzuschätzen. Und auf die Erkenntnis hin legte sich Beklemmung kalt und unvermeidlich wie eine eiserne Schlinge um seinen Kehlkopf. Zog sich zu und schnürte ihm fast die Luft ab.

    Sein Magen fühlte sich wie ein tiefes Loch an. Ein rumorendes Loch, das nach Füllung gierte. Hunger. Er hatte Hunger!

    Um sich abzulenken, schenkte er seine Aufmerksamkeit der Umgebung. Eine seiner Handflächen lag auf etwas Klebrigem, das sich bei genauerem Tasten matschig anfühlte. Mit viel Glück war es eine alte Bananenschale. Seufzend drückte er darauf herum, während er meinte, sich verschwommen daran zu erinnern, wie er hier gelandet war. Erschöpft hatten seine Beine gestern Abend auf der Suche nach etwas Essbarem plötzlich nachgegeben.

    Wieder einmal hatte er sich, bereits wegdämmernd, gewünscht, stärker zu sein. Ein richtiger Superheld mit Superkräften. Einer, der beschützen konnte; mit bloßen Händen oder echten Waffen. Solchen, die große Löcher in böse Menschen rissen. Genauso wie die in den Geschichten, die Tante Hylu hin und wieder erzählte, wenn Tante Selda und Tante Yama nicht da waren.

    Dann hatte ihn die Müdigkeit überrollt, bis gerade eben, bis er aufgewacht war.

    Pfeifend entwich ihm der Atem. Hervorstehende Wangenknochen betonten die hohe Stirn auf besorgniserregende Weise. Unter seinem viel zu weiten, beschmutzten schwarzen T-Shirt hätte ein genauer Betrachter jede Rippe einzeln zählen können. Dazu trug der Junge ausgeleierte graue Sportshorts, die er sich mit der eingenähten Kordel um die dürren Hüften festgeknotet hatte. Durch dichte, dunkle Wimpern blinzelte er wie in Trance den gleißenden Strahlen der aufgehenden Sonne entgegen.

    Diese verlieh der Szene eine unverdiente Milde und kündete gleichzeitig von einem weiteren anstrengenden Tag.

    Das laute Krächzen von Geiern durchbrach die Stille. Ein wenig appetitliches Hackgeräusch folgte. Wahrscheinlich zerrupften sie den Kadaver eines toten Hundes oder die Leiche eines Kindes, das die Augen nicht wieder geöffnet hatte, und stritten sich um die besten Brocken Fleisch.

    Über allem hing der Gestank von Fäkalien und Kunststoffdämpfen aus den Schwelbränden, die in den hohen Müllbergen vor sich hin glommen.

    Gedankenverloren hob der Junge die rechte, schlammverkrustete Hand und strich sich eine Strähne seines fettigen Haars aus dem kindlichen Gesicht. Die Geste kostete ihn unendlich viel Kraft.

    Er stand erst am Anfang seines Lebens, doch sein Körper war bereits am Ende jeglicher Möglichkeiten.

    »David! David!«, riss ihn eine hohe Stimme aus der Versunkenheit. Mühsam hob er den Kopf und stützte sich schwer auf seine Unterarme.

    Mit einem ebenso schmutzigen, ehemals rosafarbenen T-Shirt, das sie gerade so bedeckte, rannte ein kleines Mädchen den Abfallberg zu ihm hinauf. Die unwegsamen Hindernisse, die ihren Weg zum Slalomlauf machten, hielten sie nicht auf. Geübt wich sie scharfkantigem Unrat aus und sprang über einen modrigen Graben, den ein alter Sessel und ein zerschlagener Tisch bildeten.

    Sie wirkte nicht beleidigt oder vorwurfsvoll, wie David es erwartet hätte. Ihr schwarzes Haar hing wie üblich rechts und links neben ihren Ohren, zu zwei Zöpfen gebunden, hinunter. Sie hätte dringend ein Bad nötig gehabt, darin stand sie ihm in nichts nach.

    Für David allerdings war Mia in der lieblichen Morgenröte das schönste Geschöpf auf Erden.

    Ihr rundes Gesicht leuchtete, als sie atemlos neben ihm zum Stehen kam. Die tief gebräunten Füße versanken zwischen einer roten und einer weißen Mülltüte. Zwei große grüne Augen funkelten über einem kleinen rosaroten Mund um die Wette.

    Mias Hautfarbe war dunkel, Davids war hell. Hier interessierte das keinen. Jeder hasste jeden, solange er nicht Profit aus ihm schlagen konnte.

    »Ich wusste, dass ich dich finde«, erklärte sie selbstzufrieden, indes sie sich auf den weichen Abfall neben ihm plumpsen ließ; auf eine unbeschwerte Art, wie es nur Kinder tun. Ihre zerkratzten Beine streckte sie dabei geübt nach vorne.

    »Klar«, krächzte David aus trockener Kehle, sog so viel Luft wie möglich in seine Lunge und versuchte sich an einem dürftigen Lächeln.

    Damit war die Unterhaltung vorerst beendet, denn er besah sich endlich das Ding unter seiner Hand. Leider überzog pelziger, fast dunkelgrüner Schimmel die Bananenschale. Diese fühlte sich dadurch lebendig an. Schnell zog er die Hand wieder weg.

    Sein Magen rumorte. Ob vor Ekel oder weil er plötzlich den Drang verspürte, sich den braungrünen Matsch doch in den Mund zu schieben, wusste er selbst nicht genau. Er wollte seinen Bauch beruhigen. Nur wie?

    Der Hunger war innerhalb der letzten Minuten ins Unermessliche gestiegen. Die schimmlige Schale lag in greifbarer Nähe. Er wusste allerdings genau, dass der pelzige Überzug ihn eher krank, denn satt machen würde. So viele Male hatte er es bei anderen beobachtet. Die Krämpfe, das Erbrechen.

    Ihn schauderte. Der Druck auf seinen Brustkorb nahm zu, die Schmerzen in seinem Magen ließen ihn keuchen.

    Trotzdem lieber kein Frühstück.

    Das war nichts wirklich Ungewöhnliches. Und vielleicht war heute ja der Tag, an dem das Unvermeidliche eintreten würde. Die Dinge wurden stets schlimmer, nicht besser. Und David war sich nicht sicher, ob er dem Ärger, der ihn erwartete, und dem Hunger, der ihn schwächte, standhalten konnte.

    Möglicherweise sollte es so sein.

    Möglicherweise ging es heute zu Ende. Das Leid, das ihn wachhielt, bis die Bewusstlosigkeit ihn hinab in die Dunkelheit zog. Das Hoffen, das doch nie etwas brachte. Die Übelkeit, die seine Magenwände langsam zu zerfressen schien. Und all die Sorgen, die ihn wegen Mia plagten.

    Nichtsdestotrotz stocherte er mit der Hand weiter im Müll, während Mia ihr Gesicht scheinbar sorglos in die Sonne hielt. Das dauerhafte Suchen mit Fingern und Augen war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Jedoch war das meiste von dem Berg, auf dem sie saßen, kaputt und wertlos. Alte Joghurtbecher, Obstschalen, Kissen, löchrige Decken, Glasscherben, Verpackungen, Plastikteile, Möbel, Reifen, Altmetall, zersplitterte Bretter, verrottetes Papier und unzähliges mehr wollte niemand. Deshalb war es hier: auf dem Müll. Nur in wenigen, glücklichen Fällen gab es etwas Essbares. Und ganz selten war etwas unbeschädigt und brachte auf irgendeine Art Geld ein. Das wusste David so gut wie alle anderen, die herkamen, trotzdem trieb die Hoffnung sie in den Müll.

    Er schluckte bekümmert.

    Seine Kehle tat weh. Die Glieder fühlten sich schwer, fast eingeschlafen, an. Selbst die Gedanken schienen ihre Kreise in seinem Kopf immer langsamer zu ziehen.

    »Sind sie sehr böse auf mich?«, würgte er mit schwerer Zunge hervor und sah seine Freundin an.


    Es war zum Verzweifeln. Aber Verzweifeln war keine Option; nicht, wenn es ums Überleben ging. Und überleben, da war er sich sicher, wollte er unbedingt. Sein Geist kämpfte gegen seinen Körper. Es war stets derselbe Ringelreigen, doch musste er vorsichtiger sein. Musste in Zukunft auf die Zeichen der Müdigkeit seiner Glieder hören. Aber was sollte er dann tun? Die tägliche Arbeit konnte er nicht unterbrechen, um sich auszuruhen.


    Mia hatte indes aufgehört, mit ihren Zöpfen zu schlenkern. Sie legte den Kopf schief. Nachdenklich zwirbelte sie an einer losen Haarsträhne. Dann schenkte sie ihm ein breites Grinsen und schüttelte schnell den Kopf.

    Ein warmes Gefühl, Erleichterung, breitete sich in Davids Bauch aus und verdrängte für einige Herzschläge den nagenden Hunger.

    Mia rutsche hin und her. Sie plapperte dabei unbekümmert: »Ich hab das Geld abgegeben. Und dein Kasten stand ja auch da.«

    Auf einmal verharrte sie reglos in der Bewegung. Ihre Augen weiteten sich. »Aber du wirst wohl diese Woche nichts mehr zu essen bekommen.« Zaudernd sah sie ihn an. Traurigkeit und Mitgefühl sprachen aus ihrem Blick ebenso wie Hilflosigkeit.

    Inzwischen zu erschöpft, um zu sprechen, nickte David resigniert.


    Am Abend nicht zur Hütte zu kommen und den Tanten kein Geld abzugeben, führte zu drastischen Strafen. Es stand an erster Stelle auf der Liste der Dinge, die man besser nicht tat. Und kam damit gleich nach: nach Hause zu kommen und kein Geld abzugeben sowie einen Teil des verdienten Geldes heimlich zu behalten – die Tanten fanden es immer heraus – oder eben nicht nach Hause zu kommen.

    Ob eine Absicht bestanden hatte, war unwichtig. Wichtig war, ob es ein guter oder ein schlechter Tag war. Ob die Tanten am Abend zuvor genug Geld eingetrieben hatten, um die zwei grünen Flaschen, aus denen sie gelegentlich tranken, von dem schmierigen Mann, der am Rande der Mülldeponie einen kleinen Laden führte, füllen zu lassen.

    »Mr Gibbon«, wie die Tanten ihn gurrend nannten, hatte etwas Unheimliches an sich. Mit seiner Hakennase und den blutunterlaufenen Augen sah er besonders Mia immer eine Spur zu eindringlich, zu begehrlich an. Den scheelen Blick konnte auch seine gepflegte Kleidung nicht wettmachen. Und so begleitete David Mia, wann immer sie dem Ladenbesitzer auf Geheiß der Tanten Flaschen und Geld bringen sollte, um auf sie zu achten.

    War das der Fall, gab es abends genug Brot für alle und die Stimmung war fröhlich. Am nächsten Tag scheuten die Tanten das Sonnenlicht, vertrugen keinen Lärm und verhielten sich unausstehlich.

    Das, was die Flaschen füllte, konnte nicht wirklich gut sein. Trotzdem ließen sich die Tanten, so oft es ging, zum Geschäft mit dem Mann hinreißen. Und es hatte neben dem Essen abends noch eine positive Seite, das musste dem »Alkohol« zugutegehalten werden. Endlich hörten die Tanten auf zu streiten und manchmal nahmen sie sogar eine oder einen von ihnen auf den Schoß – der Vorteil klein zu sein.

    Groß zu sein brachte Nachteile. Während David momentan in der Gunst von Tante Yama stand und tagsüber einen Schuhputzkasten durch die Straßen tragen durfte, um Kundschaft zu finden, mussten die größeren Jungen auf dem Bau arbeiten. Es war schweißtreibende, harte, schlecht bezahlte Arbeit. Jedoch besser als gar keine Arbeit.


    David erinnerte sich genau.


    Als ein paar Mädchen schließlich zu alt geworden waren, waren sie von einem Tag auf den anderen verschwunden. Zwei von ihnen hatte er einige Wochen danach zufällig mittags auf der Veranda eines der größeren Häuser der Ansiedelung gesehen. Was darin vorging, war ihm ein Rätsel. Sie waren so hübsch herausgeputzt gewesen, dass er sie zuerst gar nicht erkannt hatte. Ihre bunten Sachen, die glänzenden Haare, die rosige Haut, die sie zeigten – all das war ihm fast unwirklich vorgekommen, denn die Sonne hatte an diesem Tag vom Himmel gebrannt.

    Beide waren von heller Hautfarbe, genau wie er. Und David wusste aus eigener Erfahrung, wie weh ein Sonnenbrand tun konnte. Wenn sich nicht nur das Gesicht, sondern auch die Brust rot färbte, war die folgende Nacht unangenehm bis sehr schmerzhaft.

    Verwirrt hatte er sich abgewandt. Jedes Rätsel klärte sich irgendwann. So würde auch die Zeit für diese Lösung kommen.

    Mia war in Bezug auf die Haut klar im Vorteil, sie konnte dank ihrer von Natur aus dunklen Hautfarbe fast so lange in der Sonne herumtollen, wie sie wollte.


    »Wir müssen gleich los«, riss ihre Stimme David aus seinen Gedanken. Noch immer betete sie mit ihrer Körperhaltung die Sonne an.


    Mia sah in allem etwas Positives, sie machte aus allem etwas Gutes. Durch sie gewannen die Dinge für ihn an Farbe, Emotion und Wert.

    Ihr Geld für die Tanten verdiente sie mit kleinen Tanzvorführungen an allen möglichen Ecken vor den wenigen Cafés und Läden oder zwischen den Häusern. Dabei sang sie. Keiner konnte der Anziehungskraft ihrer außergewöhnlichen Augen und der klaren Stimme widerstehen. Die Münzen rasselten stets mit einem fröhlichen Geräusch in die kleine gelbe Schale aus Plastik, die sie jeden Morgen liebevoll mit frischen Blumen vom Wegrand schmückte, bevor sie zusammen mit ihm loszog.


    David nickte zustimmend, obwohl sie es nicht sehen konnte. Es war gut, sich gegenseitig im Blick zu behalten, um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen. Wer wusste schon, was kommen mochte.

    Schlagartig fiel ihm sein Hunger wieder ein. Beschämt hörte er, wie sein Bauch seltsame Geräusche von sich gab. Eigentlich sollte diese Phase längst vorüber sein.

    2

    Vereinigte Mexikanische Staaten

    Das Lied des Hungers

    »Oh nein!« Mia drehte, auf das Geräusch hin, blitzschnell den Kopf. »Das hab ich ganz vergessen.« Von einer Energie erfüllt, von der David sich des Öfteren fragte, welche Quelle diese speiste, beugte sie sich vor und packte ihn am Arm.

    Sein Oberkörper schwankte. Schwerfällig ließ er sich von ihr hochziehen.

    »Lass uns hinter Dysons schauen, da ist bestimmt noch was von gestern übrig«, setzte sie bettelnd hinzu. Ihre großen, grünen Augen schauten ihn so sorgenvoll an, dass sich sein Herz zusammenzog.

    Er hätte Mia gerne versichert, dass das gar nicht nötig war. Dass es ihm gut ging. Dass ihn der Hunger nur mäßig quälte. Die Wahrheit sah allerdings anders aus und es blieb schwer, etwas glaubhaft zu leugnen, das so offensichtlich war. Also schenkte er ihr ein klägliches Lächeln und ließ zu, dass sie ihn stützte, während sie gemeinsam von dem unebenen Berg hinunterstiegen; immer darauf bedacht, sich nicht ernsthaft zu verletzen oder gar auszurutschen.

    Fliegen sirrten um ihre Köpfe. Geier kreischten im Hintergrund ihr schauriges Lied von Hunger und Beute. Die Hackgeräusche hatten zugenommen und der Rauch der Schwelbrände zog inzwischen zu ihnen herüber.

    Mia schlenkerte ihre Zöpfe hin und her, um die lästige Plage der dicken, schwarzen Fliegen abzuwehren. Eine effektive Taktik. Da David diese Möglichkeit nicht hatte, ertrug er es mit stoischer Gelassenheit, dass die unerwünschten Besucher ihn, wo immer sie wollten, kitzelten. Er war es nicht anders gewohnt und im Vergleich zu den Gefühlen, die in ihm fochten, war der Unmut darüber mit Abstand eines, das er ausblenden konnte.

    Seine Gedanken wanderten weiter.

    Hoffentlich hatten sich nicht bereits andere über die Abfälle des Schnell­imbisses hergemacht. Was bei Dysons weggeworfen wurde, war meist noch essbar und immerhin hatte sich dort bisher niemand über den Diebstahl des Abfalls beschwert. Zumindest nicht, wenn dieser bei Nacht stattgefunden hatte.

    Müll zwischen den Häusern war etwas anderes als auf der Deponie. Damit musste man vorsichtig sein. Sonst wurde man schnell von einem wütenden Wirt oder Eigentümer aufgegriffen und das konnte böse enden.


    Gleichzeitig wusste David, dass er heute – jetzt – etwas essen musste, wenn er überleben wollte.


    Gestern war er sogar noch vor dem Abendessen auf die Müllhalde geschlichen, gleich nachdem er Mia mit dem Geld zu den Tanten gebracht, den Schuhputzkasten abgestellt und die Kleidung gewechselt hatte. Das Gefühl der Leere im Bauch war übermächtig geworden; hatte ihn unaufhaltsam hierher getrieben. Daraufhin war er nicht nur vor Schwäche eingeschlafen, diese hatte ihn auch seine abendliche Ration gekostet.

    Vorgestern hatte er bereits die Hälfte seiner Portion Mia geschenkt und ihr gesagt, dass er nicht hungrig war. Eine allzu durchschaubare Lüge. Doch Mia war unbedarft. Sie hatte es nicht hinterfragt. Trotz all der Schrecken, die an jeder Ecke lauerten, war sie das Kind geblieben, das er sich nie zu sein erlaubte.

    Er hatte sie beim Tanzen beobachtet. Die Knochen ihrer Schulterblätter stachen aus ihrer Haut, während sie sich drehte und wandte, als seien es die zusammengeklappten Flügel der Fabelwesen aus Tante Hylus Erzählungen. Schuld war in ihm aufgestiegen. Bitter und lähmend hatte sie bis in die Zehenspitzen vom ihm Besitz ergriffen. Obwohl sie arbeiteten, waren sie nicht fähig, dem Hunger Herr zu werden. Den brennenden Qualen ihrer Mägen und der fliegenden Leichtigkeit ihrer Geister, die irgendwann darauf folgte, Einhalt zu gebieten.

    So sollte es nicht sein.

    Und jetzt hatte eine Schwäche von ihm Besitz ergriffen, die nichts Gutes bedeuten konnte.


    Auf bloßen Sohlen liefen die Kinder über das trockene Gras, das die Ränder der Müllhalde überwucherte, und schlüpften durch eines der unzähligen Löcher im Zaun. Dieser umschloss in einem breiten Viereck die ganze Deponie, war jedoch so rostig, dass er kein wirkliches Hindernis darstellte. Scharen von Kindern kletterten jeden Tag hindurch.


    Auch hier waren Mülldiebe nicht gerne gesehen, doch war der Wächter, ein älterer Mann mit dickem Bauch und gerötetem Gesicht, zu faul, um die vielen Plagegeister zu vertreiben. Ihn interessierte es nicht, ob die Kinder alte Reste aßen oder auf einem der Berge thronten. Ob sie sich gegenseitig umbrachten, in einem Schwelbrand bei lebendigem Leib verendeten oder einfach irgendwann wieder verschwanden. Er genoss lediglich die Gefälligkeiten, die ein paar der älteren Mädchen ihm gegen eine Handvoll Essen anboten. Häufig und lautstark schnarchend schlief Mr Willis ansonsten in seiner kleinen Kabine am Haupteingang des Geländes.

    Auf seinem Holzstuhl sitzend, mit offenstehendem Mund, regte er sich nicht, bis einer der Lkw-Fahrer ungeduldig an die Scheibe vor ihm klopfte. Waren die Papiere für die ankommende Ladung unterzeichnet, begab er sich wieder in dieselbe Stellung.

    Von ihm hatten die Kinder nichts zu befürchten. Vielmehr trugen sie selbst Auseinandersetzungen um Funde, die besten Plätze für die Nacht oder andere Dinge aus.


    Für einen Zuschauer musste es lustig wirken, wie die Kinder sich schubsten und balgten. Für sie war es die pure Notwendigkeit, sich das Wichtigste zum Überleben zu verschaffen.


    Es galt das Gesetz des Stärkeren.

    Des Grausameren.

    Desjenigen mit mehr Charisma, um andere auf seine Seite zu ziehen. Dabei waren alle darauf bedacht, sich auf dem unebenen Kampffeld möglichst nicht zu verletzten.

    Was im Fall einer größeren Wunde passierte, hatten die meisten schon gesehen. Auf die unvermeidliche Entzündung durch Bakterien, Hitze und den Mangel an Säuberung folgten schlimme Qualen bis zur Erlösung.

    Schrie man, wurde einem der Mund zugehalten.

    Lief man blau an, war das für die anderen ein gutes Zeichen.

    Der Tod durch Erstickung nahte, die unliebsame Unterbrechung des Sammelns von Essen war fast ausgestanden. Und der Unruheherd zum Schweigen gebracht, bevor Mr Willis sich doch darauf besann nachzusehen, wer seinen Schlaf störte.

    Hilfe oder gar einen Arzt gab es nicht. Und falls doch zufällig einer im Ort weilte, so konnten sie sich seine Dienste nicht leisten. Wie auch?


    Es war eine Generation vergessener Kinder, die am Rande der kleinen Ansiedelung ihren Kampf mit dem Leben fristete. Nirgendwo registriert, nicht gelistet. Von offizieller Seite gab es sie überhaupt nicht und so störte sich auch keiner daran, wenn nach einem der unglücklich verlaufenen Kämpfe ein Junge oder Mädchen das Tageslicht des nächsten Morgens nicht mehr erblickte. Höchstens die wenigen Freunde, für die ein neuer anstrengender Tag anbrach, verdrückten eine Träne, wenn sie die Kraft und Zeit dazu fanden. Das Leben ging weiter, die Kinder waren es nicht anders gewohnt.

    David seinerseits war rückblickend dankbar dafür, dass er ganz am linken Rand der Berge eingeschlafen war. Er hatte schon gestern auf jeglichen Ärger verzichten wollen.

    Die Lkws türmten ihre neue, verheißungsvolle Ladung bereits die ganzen letzten Monate über in der Mitte der großen Fläche auf. Dort als Einzelner, der eine sichere Schlafstatt besaß, gesehen zu werden, konnte schlimm ausgehen.

    Ein kalter Schauer jagte ihm den Rücken hinunter, als er sich vorstellte, was alles hätte passieren können. Sie hätten ihm im Schlaf die Kehle durchschneiden können, ihn ersticken können. Angst stieg verspätet in ihm auf. Doch er riss sich zusammen. Mia sollte sich nicht noch mehr Sorgen machen.

    Immerhin erweckte der zu dieser Tageszeit angenehm warme Asphalt der geteerten Straße, an der sie nun entlanggingen, Davids Lebensgeister zu Teilen wieder. Der Sirup, der die Gedanken und Erinnerungen in seinem Kopf wie wirre Bruchstücke kreisen ließ, schien sich zu verflüssigen. Erst später, wenn die Sonne im Zenit stünde, wäre die Gefahr groß, sich die Fußsohlen zu verbrennen; trotz der dicken Schicht Hornhaut.

    Mia ging unverändert fröhlich an seiner Seite. Ein Lächeln zierte ihren kleinen Mund. Obwohl es nicht auf ihn überspringen wollte, war es ihm Anreiz genug, weiterhin Fuß vor Fuß zu setzen. Nicht in die Knie zu brechen.

    Nicht aufzugeben.

    Nicht bevor sie bei Dysons wären.


    Die letzten Tage waren hart gewesen. Ein Sturm, die Woche zuvor, hatte einen großen Baum quer über die Landstraße geworfen. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen und schließlich ganz eingestellt worden. Tante Selda hatte sich lautstark aufgeregt, dass die Behörden erst in anderen, ebenfalls betroffenen Gebieten die Ordnung wiederherstellten. »Statt die ganzen Steuergelder immer in die Stadt und Industrie zu stecken, statt all den Herrschaften dort noch mehr in den Arsch zu schieben, könnten sie ruhig hier etwas ausgeben. Ich meine, wir zahlen genau wie alle anderen. Zumindest wenn wir Brot kaufen und Mia die Flaschen füllen lässt. Zumindest nehme ich es an. Bei dem Schlitzohr Gibbon weiß man nie. Aber wofür? Wofür frage ich euch? Wenn sie uns doch nur vergessen.«

    David hatte den Kopf eingezogen. Sie war so wütend gewesen. Ihr ganzer Körper hatte vor Zorn vibriert. Furcht hatte ihn ergriffen. Furcht vor ihr.

    Tante Hylu hatte sie beschwichtigt und Tante Yama hatte vor sich hingemurmelt, dass es gut sei, dass hier selten ein Offizieller seinen Fuß hinsetzte. Sie konnte Polizisten nicht ausstehen. Mehr als einmal hatte sie den Kindern eingeschärft, sich von diesen fernzuhalten.


    Als sie auf die Hauptstraße einbogen, begann Mia eine fröhliche Melodie zu pfeifen. Nach ein paar Minuten wurde sie, passend zum Takt, schneller und schritt beschwingt voran.


    Auf dem Bau war vor zwei Tagen das Material ausgegangen, die Touristen hatten sich zerstreut, es waren keine neuen nachgekommen und damit alle Einnahmen gesunken. Kein Geld bedeutete kein Essen. So einfach war das. Diese simple Regel hatte sich in Davids Kopf fest eingegraben, seit er denken konnte. Zusammen mit der allgegenwärtigen Erinnerung an Mias blitzende grüne Augen.

    David musste sich anstrengen, um weiterhin in der Vorwärtsbewegung zu bleiben. Schlingernd setzte er Fuß vor Fuß. Lief weiter.

    Fast hatten sie es geschafft.

    Es gab schlimmere Schicksale als das ihre, sagte er sich in den seltenen Momenten, in denen er dem Tod bereits in die Augen geblickt hatte – wie heute: kurz vor dem Verhungern.


    Mia und er waren nicht heimatlos, wie viele andere Kinder, die tagsüber in den brütenden Dämpfen auf der Halde nach Essen suchten. Sie hatten ein Zuhause. Die Tanten boten ihnen eine sichere Unterkunft in der Nacht, ein Dach über dem Kopf in ihrer Behausung aus Wellblech und vermodertem Holz. Und sie gaben ihnen Essen.

    Die drei Frauen waren äußerst unterschiedlich. Tante Selda kochte manchmal, sie war die Einzige mit heller Hautfarbe und blonden Strähnen. Tante Hylu kämmte ihnen hin und wieder die Haare mit einem schwarzen, abgebrochenen Kamm und badete alle einmal im Monat in einem großen, metallenen Zuber, den sie dafür mit Wasser vom nahen Fluss füllte. Sie war groß und lief gebückt, während Tante Yama klein und drall war und den Älteren die Jobs verschaffte. Sie blieb trotz ihrer geringen Körpergröße die strengste der Tanten.

    Sowohl Tante Hylu als auch Tante Yama hatten dunkles, krauses Haar, das sie mit Schmalz zu bändigen versuchten. Alle drei trugen weite, farbenfrohe Kleider vom Markt, der einmal in der Woche bei Trockenheit auf dem festgetretenen Platz hinter den Häusern und Hütten stattfand.

    Gemeinsam schliefen die Tanten auf einer großen Matratze in einem der Räume der Hütte, während sich die Kinder einen weiteren, abgegrenzten Bereich mit abgewetzten Decken und Kissen teilten. Das übrige, dritte Zimmer hatte die Aufgabe einer provisorischen Waschküche und war gleichzeitig der tägliche Aufenthaltsraum der Tanten.

    Hier wurden jeden Abend in Reih und Glied die Kästen, Schalen und sonstigen Hilfsmittel, mit denen sich Geld verdienen ließ, auf ein wackliges Holzregal an der Wand gestellt. Darauf wurden die halbwegs sauberen Kleider oder Kostüme gelegt, die jeden Morgen durch Tante Seldas kritische Augen geprüft wurden, bevor ein jeder seiner Beschäftigung nachgehen durfte.

    »Der erste Eindruck ist der wichtigste«, hatte Tante Selda einmal zu David gesagt. »Wenn du gut aussiehst, geben dir die Leute mehr Geld.«

    Ob das stimmte, konnte David nicht beurteilen, aber er hatte sehr wohl bemerkt, dass die Touristen eher bereit waren, sich von ihm die Schuhe putzen zu lassen, wenn er sie anlächelte. Mit viel Zähnezeigen. Das war das Wichtigste daran. Und die Touristen waren diejenigen, die am besten zahlten.

    Er sah das Mitleid in ihren Augen.

    Schluckte stets den letzten Rest Stolz, der ihm geblieben war, herunter.

    Nahm das so bitter benötigte Geld.

    Er gab sein Bestes, um seinen Beitrag zum Einkommen zu leisten, und hielt seine Arbeitskleidung und den Schuhputzkasten, so gut es ihm möglich war, in tadellosem Zustand. Deshalb mochte Tante Yama ihn.

    Zum Schlafen, oder wenn sie nicht arbeiteten, zogen die Kinder ihre einzigen anderen Sachen an. Für die Pflege dieser waren sie selbst verantwortlich. Dementsprechend waren es nurmehr Lumpen. Schuhe besaßen ausschließlich die Tanten, die ihre Füße morgens in braune, polierte Lederslipper schoben.


    In Davids und Mias Augen mutete bereits das Leben in einem befestigten Haus als purer Luxus an. Genau wie die Gegend, durch die sie nun liefen. Das Dysons lag an der Ecke zweier sich kreuzender, schmaler Straßen. Der Ausgabetresen befand sich im Erdgeschoss eines der mit Mörtel und Steinen erbauten Häuser, das schon bessere Tage gesehen hatte; wie viele Häuser der Ansiedlung.

    Der Imbiss nahm seinen Betrieb erst um die Mittagszeit auf und versorgte seine Gäste bis spät in die Nacht mit gegrillten Würsten oder Speck, saftigen Burgern, fettigen Pommes und Erfrischungsgetränken. Gegrillt wurde im Hinterhof von Mr Dyson. Dort roch es zu jeder Zeit himmlisch.

    Der Wirt war ein Berg von einem Mann, dem man lieber aus dem Weg ging, wenn man nicht das Geld hatte, um eine seiner Spezialitäten zu erwerben. Seine Frau Samantha stand ihm in der Körpergröße in nichts nach und füllte ihre Kleidung zusätzlich mit prallen Rundungen – insbesondere vorne. Bei ihr gaben die Kunden ihre Bestellung auf. Hatte sie gute Laune, schenkte sie dem einen oder anderen sogar ein breites Lächeln, das ihre Züge glättete und sie attraktiv wirken ließ. In Kindern sah sie jedoch quengelnde, gierige Mäuler, die ein schlechtes Licht auf ihren Imbiss warfen, wenn sie davor herumlungerten.

    Als David und Mia fast an der Kreuzung angelangt waren, bogen sie links ab, auf einen kleinen Trampelpfad. Sie lösten sich voneinander. Gingen hintereinander über Gras und Erde bis zu einer kleinen Öffnung in der bröckeligen Mauer rechts von ihnen.

    Geschwind schlüpfte Mia hindurch.

    David folgte ihr langsamer. Die Müdigkeit, die ihn nun, nach all den Schritten, auf einen Schlag ergriff, machte ihm schon wie am Vorabend zu schaffen. Seine Glieder fühlten sich butterweich an, er spürte sie kaum noch.

    Im dreckigen Innenhof angelangt, wäre er fast in die Müllsäcke gelaufen, hätte Mia ihn nicht im letzten Augenblick am T-Shirt zurückgezogen.

    Der Ruck ging durch seinen ganzen Körper. Davids Sicht wurde schlechter und ein einsetzender Kopfschmerz bohrte sich brutal in seine Schläfen. Mühsam drehte er dennoch den Kopf. Direkt in der Ecke neben ihm lag lieblos aufgehäuft ein ganzer Berg prall gefüllter Plastiksäcke auf dem festen Erdboden.

    Bum, bum, bum, dröhnte der Herzschlag in seiner Ohrmuschel, nur für ihn hörbar. Ein letzter Ansporn oder eine verzweifelte letzte Aufwallung.

    Die dunkelgrün gestrichene Tür, die direkt ins Innere des Imbisses führte, war geschlossen. Vor dem matten Fenster im ersten Stock, das zu den Wohnräumen der Dysons gehörte, hing ein dunkles Tuch. Wahrscheinlich schlief das Ehepaar noch. Umso besser.

    Allerlei Unrat lagerte im Hof. Darunter zwei blanke Liegestühle und ein kleiner, runder Plastiktisch mit einem gelbweißen Sonnenschirm. An der Hauswand stand Mr Dysons Heiligtum: der große schmiedeeiserne Grill. Der Geruch nach Fett ließ das Wasser in Davids Mund zusammenlaufen. Während er erschöpft dastand und einfach nur starrte, hatte Mia bereits angefangen, den Inhalt jeder einzelnen verheißungsvollen Mülltüte durch die äußere Plastikschicht zu begutachten.

    In Sekundenschnelle wurde sie fündig. Schon zog sie David wieder durch den Spalt in der Mauer, die Tüte mit den Abfällen von gestern in der linken Hand. Erneut im Grünen angekommen, sahen sie sich kurz in die Augen; schlossen die stille Übereinkunft, erst ein Stück zu gehen, bevor sie die Reste genauer besahen.

    Bereits im Sog des Deliriums wählte David den direkten Weg zwischen Sträuchern und Bäumen hindurch, wankte tiefer ins Dickicht. Er strauchelte, stolperte fast über seine eigenen Beine. Schmerzhaft krampfte sein Innerstes, während er hörte, wie Mia ihm mit dem kostbaren Sack folgte.

    Sie mussten sich beeilen.

    Seine Verfassung war kritisch, doch war die Situation nicht nur deshalb prekär. David wollte nicht riskieren, sich noch mehr Tadel der Tanten zuzuziehen, indem er und Mia zu spät zum Aufbruch zur Arbeit kamen.

    Ruckartig blieb er kurz darauf vor einem umgefallenen Baumstamm stehen. Seine Arme schlingerten. Die Beine zitterten vor Entkräftung. Er verlor immer mehr die Kontrolle über seinen Körper.

    Zwanghaft versuchte er sich auf die Umgebung zu konzentrieren. Auch hier hatte der Sturm sichtbare Schäden hinterlassen. Anders als auf der Straße störte dies im Wald aber keinen. Eisern beherrscht ließ er sich auf dem Holz nieder. Seine Glieder erschlafften, sein Oberkörper kippte gefährlich weit nach vorne und die Sehnen in seinen Beinen brannten.

    Der unsägliche Hunger in seinem Bauch rumorte wie ein Ungeheuer. Er stellte ihn sich vor wie eines von Tante Hylus Schattenwesen, die sie mit ihren Fingern formte, um ihre Geschichten zu illustrieren; eines der Wesen, das der Superheld tötete.

    Er würde ihn jetzt auch töten, wenn auch nur für kurze Zeit: den Hunger. Er musste einfach.

    Sterben war keine Option. Er musste leben, für sie!

    Mia war ebenfalls stehen geblieben. Geschickt riss sie mit den Fingern ein Loch oben in den zugeknoteten Sack. Dann ging sie in die Knie, fasste ihn unten, drückte sich auf die Beine und drehte den Müllsack in der Bewegung. Schwungvoll ergoss sich der komplette Inhalt auf den lehmigen Boden vor David.

    Sein Gehirn setzte aus. Instinktiv stieß sich sein Körper vom Stamm ab und fiel nach vorne, auf wackelige Knie und pochende Handgelenke, die schlagartig überbelastet wurden. Er brach ein, landete seltsam verrenkt mit dem Gesicht auf der Erde. Gras drängte zwischen seine Zähne. Etwas knackte.

    Seine Nase? Ein Zweig?

    Alles tat weh. Am meisten jedoch unverändert sein Magen. Jeder klare Gedanke verflüchtigte sich. Da war nur noch diese Gier, dieses Bedürfnis nach Essen. Dieser einzigartige Geruch vor ihm. So nah.

    Noch während David sich aufrappelte, begann er, linkisch mit den Händen im Abfall zu wühlen. Er tastete umher, wie mit Blindheit geschlagen. Der Gedanke an Nahrung beherrschte alles. Vereinnahmte ihn, steuerte ihn und machte seinen Körper zur Marionette.

    Der Wunsch zu überleben war übermächtig. Er war das Einzige, was zählte. Das höchste Ziel. Das Streben, das ihn seine allerletzten Kraftreserven mobilisieren ließ.

    Davids Körper kannte keine Zurückhaltung, keine Scham mehr. Er folgte nur noch dem Instinkt. Seine Augen suchten in der Masse aus Papptellern, Plastik, alten Servietten, gebrauchten Ketchup- und Mayonnaisepackungen. Und da! Zwischen dem Restmüll sah er etwas Schwarzes aufblitzen. Eine ganze Hand voll Schwarz!

    Fieberhaft griff er danach. Es waren mehrere Streifen.

    Er sah genauer hin. Erkannte, dass in seiner Hand verkohlter Speck lag.

    Gierig dreht er ihn. Tatsächlich, die andere Seite war noch nicht völlig verbrannt! Ohne zu zögern steckte er den kostbaren Fund in den Mund. Ein Rest seines klaren Verstands meldete sich zurück und er versuchte, langsam zu kauen. Er hatte die leidvolle Erfahrung gemacht, dass sein Magen empfindlich war, wenn er derart wehtat. Vorsichtig schluckte David und hoffte, dass der Speck nicht wieder hochkommen würde.

    Er schmeckte gut. Nicht so gut wie Brot. Auf keinen Fall so gut wie die seltenen Male, die Tante Selda kochte, aber definitiv besser als Gras. Und vielleicht gab er ihm genug Kraft, um den Tag zu überstehen.

    Bedächtig stieß er die Luft aus, die er unbewusst angehalten hatte. Er sah zu Mia, die inzwischen den restlichen Müll sortiert hatte und alles Unbrauchbare wieder in die aufgerissene Tüte stopfte. Sie lächelte ihn an. Es war ein liebevolles, ein glückliches, wenn auch vorsichtiges Lächeln. Ihre grünen Augen blitzten, ihr rosa Mund schien sich unendlich zu dehnen. So als sei er extra für genau dieses Lächeln geschaffen worden.

    Davids Herz machte einen Sprung. Tiefe Scham mischte sich in ihm mit Dankbarkeit. Scham über seine Schwäche. Darüber, dass gerade nicht er seinen Körper beherrscht hatte, sondern dieser ihn. Dankbarkeit, dass das kleine Mädchen ihn dafür nicht verurteilte. Ihm vielmehr das Leben rettete.

    Mia hatte durchaus bemerkt, dass es ihm nicht gut ging, und versuchte das auf ihre Art in Ordnung zu bringen. Er spürte die tiefe, noch unbegreifliche Verbundenheit zu ihr, die mit jedem Tag mehr wuchs. So wie sie bereit war, alles für ihn zu tun, wäre auch er bereit, alles für sie zu tun.

    Als sich seine Lippen bewegten, formten sie nur ein Wort. »Danke«, flüsterte David Mia zu. Es klang rau. Mühsam durch eine wunde Kehle gepresst. Schweren Herzens aus den Tiefen einer noch wunderen Seele gesprochen. Und er meinte es mit jeder Faser seines jämmerlichen Seins.

    Seine kleine Freundin verknotete unterdessen den Sack und setzte sich nach zwei kurzen Schritten zu ihm auf den Baumstamm. Geschwind schlang sie ihre dünnen Arme um den mageren Oberkörper des kleinen Jungen. So verharrten die beiden für den Flügelschlag einer nahen Fliege, dann löste Mia sich von David und zeigte stumm auf den Boden.

    Zu seinen Füßen lagen ein halbes weißes Brötchen, eine schwarze Wurst und eine Fantaflasche, die noch einen letzten Schluck Flüssigkeit enthielt. David schluckte schwer. Für manch einen mochte das nicht viel sein, doch für das kleine Mädchen war es alles, was sie dem kleinen Jungen geben konnte. Mia hatte ihm ihre Welt zu Füßen gelegt. Sie hatte alles säuberlich nebeneinander geordnet, ohne einen einzigen Bissen davon zu nehmen. Ihre selbstlose Geste war das wertvollste Geschenk, das David in seinem ganzen bisherigen Leben zuteilgeworden war.

    Als er sich bückte, um die Schätze aufzusammeln, wurde ihm kurz flau im Magen. Ein feuchter Film legte sich vor seine Augen und die Muskeln in seinen Waden streikten kurzzeitig, doch er schaffte es, das Unbehagen zu unterdrücken. Auffordernd reichte er zuallererst Mia die Limo und verschlang dann selbst das Brötchen mit der Wurst.

    Es war nicht abzusehen, was die Zukunft brachte. Lieber heute den Bauch voll, dachte David.

    Fast euphorisch beendeten sie das Mahl. Ein Festmahl der besonderen Köstlichkeiten – für ihre Verhältnisse. Dann war es Zeit zu gehen.

    Den Rückweg aus dem Wald, über ein paar Querstraßen legten sie schweigsam zurück. Sie gingen langsam, obschon stetig. Bis zum niedergetretenen Pfad, der am Rand der Ansiedlung zur Behausung der Tanten führte, war es nicht weit. Und tatsächlich schafften sie es anzukommen, bevor alle aufbrachen.

    Die Tanten sahen grimmig drein. Besonders Tante Yama schien maßlos von ihm enttäuscht zu sein. Mit der bloßen Faust schlug sie auf den wackligen Holztisch.

    Nicht nur David zuckte zusammen.

    »Das ist deine letzte Chance«, beschied sie ihn kalt.

    Nach dem Grund, warum er nachts nicht zur Hütte gekommen war, fragte keiner. Es gab Regeln, die es zu befolgen galt. Alles andere war Nebensache. Es spielte keine Rolle. Nicht hier. Hier zählte die einzelne Tat, nicht der Einzelne.

    Die Strafe, die David im Angesicht der anderen von Tante Yama verhängt bekam, fiel aus, wie Mia es prophezeit hatte: Die restliche Woche würde es kein Essen für ihn geben. Zu seinem Glück hatten sie bereits Donnerstag. Trotzdem würden es drei harte Tage werden und er wusste noch nicht, gerade erst von Mia vor dem Hungertod bewahrt, ob dieser ihn nicht am Ende der Woche trotzdem ereilen würde.

    Der Hunger war vorerst gestillt – die Furcht blieb.

    Er nickte eilfertig, indes ein Schauer seinen Rücken hinunterlief. Immerhin hatten sie ihn nicht verstoßen, wie er es einmal bei einem anderen Jungen erlebt hatte. Das wäre ein vernichtender Schlag gewesen. Er hätte seine Arbeit, das Essen, die Sicherheit und vor allem Mia verloren. Die bloße Vorstellung daran löste ein Grauen in ihm aus, das seine Glieder zu lähmen drohte.

    Von den anderen Kindern zeigte keines Mitleid. Das hatte David aber auch nicht erwartet. Abgesehen von Mia und ihm stand sich niemand besonders nahe. Sie alle kannten die Regeln und waren sich bewusst, was geschah, wenn sie sie missachteten. Loyalität und Freundschaft hatten keinen Platz, wenn es darum ging, täglich ums eigene Überleben zu kämpfen.

    »David!« Tante Hylus Stimme durchschnitt scharf die Luft.

    Er blinzelte. Der Bann des Augenblicks war gebrochen.

    Er durfte sich zukünftig nichts mehr zuschulden kommen lassen.

    Er musste kämpfen. Für Mia und für sich.

    Als alle ihre Ausrüstung für den Tag aufgenommen hatten und sorgsam gekleidet unter Tante Seldas Blick zur Tür hinaustraten, kam David das erste Mal der Gedanke, dass die Tanten eine übermäßige Machtposition hatten.

    Sie entschieden über Leben und Tod.

    Sein Leben. Seinen Tod.

    Und das, obwohl der Boden, auf dem die von rostigen Nägeln zusammengehaltene Unterkunft stand, ihr größtes und einziges Kapital, ihnen nicht einmal gehörte.

    3

    Vereinigte Mexikanische Staaten

    Bis zum Tod

    David wurde älter. Der Hunger entwickelte sich zu einer allgegenwärtigen, nie endenden Qual. Es geschah immer seltener, dass die Nahrung, die er an einem Tag zu sich nahm, das Bedürfnis in seinem Inneren stillte. Oft brannte sein Magen ob des nagenden Gefühls, das sich einfach nicht vergessen ließ. Sein Bauch blähte sich auf, Schmerzen durchzogen seinen Geist, verklangen dann jedoch. Die Gier seines Körpers allerdings, die offensichtliche Leere zu füllen, stritt sich damit.

    Durch Mia fand er stets die Kraft für einen weiteren Schritt. Manchmal tat er diesen mit einem seltsam leichten Gefühl im Kopf. In solchen Momenten meinte er wahrzunehmen, wie sich sein Geist von seinem Körper löste. Vielleicht war das aber auch ein Hirngespinst, das Tante Hylu mit einer ihrer fantasievollen Geschichten über den Tod und die Seele in ihm gesät hatte. Schnell richtete er dann seine Konzentration auf die bleierne Schwere seiner Füße oder die Betrachtung der Schönheit von Mias Gestalt und die Absurdität, die seine Gedanken ihm vorgaukelten, legte sich wieder.

    Jeden Tag gewann David so aufs Neue den Kampf gegen sich selbst, zog sich an und streifte mit Mia durch die Straßen der wachsenden Ansiedelung. Hauptsächlich tat er es für sie. Um ihr Lächeln zu sehen und vor allem damit er ein Auge auf sie haben konnte, während sie tanzte und sang.

    Seine Freundin schien ihre Lebensfreude nie zu verlieren. Auch ihr musste der Mangel an Essen inzwischen zu schaffen machen, doch funkelten ihre grünen Augen unverändert und ihre wiegenden Hüften zogen immer mehr Touristen an, je älter sie wurde. Meist Männer. Die Münzen klimperten in die gelbe Schale. Das inzwischen

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