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Black Rose: Die neue Gilde
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eBook585 Seiten8 Stunden

Black Rose: Die neue Gilde

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Über dieses E-Book

Der innigste Wunsch des Strassenjungen Corvu ist es, seine Eltern aus der Sklaverei, aus der er fliehen konnte, zu befreien. Doch dazu braucht er Verstärkung. Deshalb versucht er seit Jahren seine eigene Gilde zu gründen. Ob er die Hindernisse, die ihm in den Weg gestellt werden überwinden kann, und vor allem ob er mit den ungewollten Konsequenzen, die seine Aktionen in der umbruchsträchtigen Zeit auslösen, umgehen kann? Die Zeit wird es zeigen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Okt. 2015
ISBN9783738044645
Black Rose: Die neue Gilde

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    Buchvorschau

    Black Rose - Simon Misteli

    Kapitel 1

    Die zwei Diebe aus Elysstain

    Ein ohrenbetäubender Knall liess Professor Stroitel aus seinem Schlummer aufschrecken. Er war an seinem Schreibtisch kurz eingenickt, während er über einigen Schriftrollen brütete. Während er sich etwas Geifer vom Bart wischte, murmelte er verschlafen vor sich hin. „Nicht schon wieder. Der Schrecken, den er im ersten Moment verspürt hatte, war bereits wieder verflogen. Gemächlich verliess er sein Zelt und begrüsste gähnend seinen Leibwächter, der den Gruss respektvoll erwiderte. Stroitel betrachtete die schwarze Rauchwolke am Himmel, während er seinen Bauch von sich streckte, dann rückte er seine Brille mit den kleinen runden Gläsern zurecht und seufzte. „Na gut, dann wollen wir uns doch mal ansehen, was dieses unnütze Pack diesmal angerichtet hat.

    Mit grossen Schritten hastete Stroitel nun über den von hunderten schmutzigen und wunden Füssen zu Matsch getretenen Grund, vorbei an den ausgemergelten Arbeitern, die mit dumpfen Blicken in die Leere starrten. Keiner von ihnen schien sich für den Vorfall zu interessieren Auch wenn die Schreie, welche nun die Luft zerrissen, die ihrer Freunde oder Verwandten sein konnten, sie schienen sie nicht zu berühren. Die stummen Arbeiter gingen einfach weiter ihres Weges und verrichteten ihre Arbeiten.

    Anders erging es Professor Stroitel. Die qualvollen Schreie und die hysterischen Rufe trafen ihn bis ins Mark. Nicht, dass er Mitleid mit diesen armseligen Geschöpfen hatte, aber jegliche Art von Qualen löste in ihm immer ein Gefühl von Übelkeit aus, welches er am liebsten ausspeien würde.

    Nichtsdestotrotz oder eben gerade deshalb beeilte sich Stroitel den Unfallort zu erreichen. Er und sein Leibgardist schlängelten sich weiter durch die Reihen von Arbeitern, die im Takt der Hammerschläge, die von allen Himmelsrichtungen her zu erklingen schienen, ihre Arbeit ausführten. Die meisten, die der Professor auf seinem Weg kreuzte, waren damit beschäftigt schwere Lasten an ihre vorbestimmten Orte zu bringen, oder waren unterwegs zu den Lagern, um die nächsten solche Lasten aufzunehmen.

    Professor Stroitels Baustelle war riesig und nahm einen grossen Teil der Insel in Anspruch auf der gebaut wurde. Allerdings dauerte der Bau auch schon mehr als zwei Jahrzehnte und die Konstruktion war kompliziert und verbrauchte seltene wie auch gefährliche Materialien. So schien der Bau endlos zu sein und der Zirkel musste sich in Geduld üben. Doch langsam rückte das Ende in Sicht. Sie hatten mit dem Herzen und letzten Teil der Konstruktion begonnen. Bald war es so weit! Professor Stroitel war froh, doch wusste er, dass auch das letzte Stück seine Zeit beanspruchen würde.

    Vor allem häuften sich in letzter Zeit diese lästigen Unfälle, die den Bau nicht nur hinauszögerten, sondern ihm meistens gar einen Rückstoss versetzten.

    So war das Ende in Sicht, aber noch nicht in Reichweite.

    Schnaufend erreichte Stroitel den Beobachtungshügel, welcher am nächsten zu der Unfallstelle stand. Die Beobachtungshügel, die an bestimmten Orten der Baustelle aus dem Boden schossen, liess er eigens dafür aufschütten, dass er eine bessere Übersicht über die Vorgänge am Bau gewinnen konnte. Ein wenig ausser Atem stützte er sich erst mal auf den bereitstehenden Schreibtisch ab und versuchte sich zu erholen. Er war schliesslich nicht mehr der Jüngste!

    Die anderen Mitglieder des Zirkels waren bereits vor Ort und beobachteten das Spektakel, das sich vor ihnen abspielte. Brennende Menschen, die schreiend umher rannten, andere die ihnen hinterher jagten, im verzweifelten Versuch zu helfen. Wimmernde Kreaturen, deren Körperteile von Trümmern zerquetscht worden waren lagen, bewegungslos begraben und hofften das Feuer würde sie nicht erreichen. Einige fielen inmitten des Chaos auf die Knie und heulten hilflos vor sich hin. Das ganze spielte sich im roten Schein des loderten Feuers ab, um welches wiederum dutzende Sklaven wuselten, und hastig versuchten es zu löschen.

    Als die Zirkelmitglieder seine Ankunft bemerkten, wandten sie sich ihm zu und begrüssten ihn respektvoll.

    Stroitel winkte verächtlich ab. Er war nie gross begeistert gewesen von all dem formellen Firlefanz des Zirkels. „Schlimm?, fragte er nur. Ein grossgewachsener und bärtiger Mann, der nicht viel jünger war als Stroitel selbst, antwortete ihm. „Soweit ich es beurteilen kann, müssen wir mit dem Verlust einiger Dutzend Sklaven rechnen. Noch mal so viele werden verletzt sein. Ganz zu schweigen von den Materialverlusten. Wir werden wohl um einige Wochen zurück geworfen worden sein, Meister Stroitel.

    Stroitel knurrte mürrisch. Da war er schon wieder. Dieser herablassende Blick, der ihm Melek, sein Gegenüber, ständig zu warf. Der Professor wusste, dass er nur zum Meister gewählt wurde, weil er etwas von Architektur verstand. Der eigentliche Favorit war immer Melek gewesen. Er selbst hatte ihn nie leiden können.

    „Wir haben die Arbeitereinheit 23 dazu geholt, um ihnen zu helfen., fügte eine Frau hinter Melek hinzu. „Sie hatten gerade Pause, so ist der Rückstoss an einer anderen Stelle minimiert.

    Stroitel schüttelte den Kopf um die trüben Gedanken loszuwerden. Er konzentrierte sich auf die Aufgabe, die unmittelbar vor ihm lag.

    „Also gut, ihr wisst ja wie's läuft. Tötet die Verletzten, wenn sie nicht mehr arbeiten können, und lasst die Leichen ins Meer werfen. Sorgt dafür, dass aufgeräumt wird. Sendet eine Botschaft an Florentin, die besagt, dass wir mit der nächsten Lieferung exakt die selbe Menge der verlorenen Sklaven erwarten. Zusätzlich zur normalen Lieferung versteht sich. Und lasst die Materiallieferungen auch verdoppeln, bis unsere Verluste wieder wett gemacht worden sind.

    Los, los an die Arbeit.", scheuchte er seine Leute hinfort.

    Als die Zirkel-Mitglieder verschwunden waren, blieb eine Frau zurück. Ihr Gesicht war in den Schatten ihrer Kapuze gehüllt. Schlecht gelaunt liess sich Stroitel schwerfällig in den Sessel vor dem Schreibtisch fallen. Er seufzte. „Bitte sag mir dass du nicht auch noch schlechte Nachrichten überbringst."

    „Nein, Meister", antwortete die geheimnisvolle Frau mit einer angenehmen, weichen Stimme.

    „Wunderbar!, Stroitel war tatsächlich erleichtert. „Also, mein Kind. Wie sieht's denn da draussen aus?

    Die Frau trat vor den Schreibtisch und begann ihn aufzuklären.

    „Keinem ist etwas aufgefallen. Niemand scheint sich für diese Insel hier zu interessieren. Wir können also weiterhin unbehelligt arbeiten. Die Gilden auf dem Kontinent haben immer noch nichts besseres zu tun als ihre Streitigkeiten untereinander auszutragen. Der Magierrat macht weiterhin keine Anstalten sich dort einzumischen. Obwohl ihm beim Regieren des Kontinents offenbar so langweilig sein muss, dass sich die Mitglieder ihre Zeit mit Intrigespielchen vertreiben. Denen entgeht sogar die Gefahr von Norden, die um einiges offensichtlicher sein sollte als unser Schaffen hier. Der Orden wird immer grösser und mächtiger. Der Magierrat und der Orden haben zwar einen Friedensvertrag abgeschlossen, der noch immer gilt, aber ich bin mir nicht sicher, ob der Orden tatsächlich nur an den Dämonen interessiert ist.

    Die Inseln im Westen haben alle ihre eigenen Probleme und wollen nicht viel mit dem Kontinent am Hut haben. Für einfache Handelsbeziehungen reicht es gerade noch."

    Die junge Frau legte eine Pause ein. Nichts aus dem Bericht überraschte Professor Stroitel. Es war alles so wie es wahrscheinlich vor hundert Jahren gewesen sein musste. Ausser, dass der Orden damals noch nicht existiert hatte, aber auch von ihm hörte er immer dasselbe, seit sie begonnen hatten. Trotzdem hörte er geduldig zu, obwohl ihn nur eine einzige Frage brennend interessierte. Endlich brach sie aus ihm heraus. „Und der Junge?"

    Die Frau seufzte und schüttelte den Kopf. „Keine Spur von ihm."

    Der Junge nach dem der Professor fragte, war ein Sklavenkind, das auf der Baustelle geboren war und von klein auf für sie gearbeitet hatte. Eines Nachts allerdings gelang es dem Balg an den Wachen vorbei zu huschen und irgendwie von der Insel zu entkommen. Als Sklavenkind war der Bursche ausgemergelt und gebrechlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass er auf seiner Flucht auf See umgekommen ist, war hoch. Doch Stroitel wollte kein Risiko eingehen, Dieser Junge war bisher das einzige Leck, dass ihrer Sache wirklich schaden konnte. Es reichten nur Gerüchte, die dem Magierrat zu Ohren kommen mussten und es wäre aus mit Stroitels Traum und dem des gesamten Zirkels.

    Der Professor lehnte sich in den Sessel zurück. „Es ist schon ziemlich lange her, nicht wahr?", entsann er sich.

    Die Frau nickte. „Um die 3 Monate, ungefähr", bestätigte sie seinen Gedanken.

    „3 Monate", wiederholte Professor Stroitel abwesend.

    „Er wird längst von den Fischen gefressen worden sein, Meister.", versuchte ihn seine Spionin zu beruhigen.

    Der Professor schwieg, starrte einen Augenblick ins Leere und schüttelte den Kopf. Dann beugte er sich über den Tisch und blickte die Frau ernst an. Diese schreckte ein wenig zurück. Das plötzlich von Runzeln zerfurchte Gesicht ihres Meisters, die müden Augen, in denen Sorge lag und seine zitternde Stimme liessen den Mann viel älter und gebrechlicher erscheinen.

    „Er lebt. Ich spüre es. Dieses Gefühl, das ständig an mir nagt, das mir meine letzten Kräfte raubt, das mir Angst macht. Er legte eine kurze Pause ein um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Es sind nicht die ewigen Rückschläge, es ist nicht Melek, nein es ist dieser Junge. Er lebt, und er hat nicht vergessen. Du, Cassandra, du musst meine Augen und Ohren sein, du musst ihn suchen. Er darf nicht zerstören, was wir so lange aufgebaut haben, nicht jetzt wo wir so nahe an der Wahrheit sind. Finde ihn. Töte ihn., drängte er mit fast kreischender Stimme.

    Die Frau schluckte. „So sei es Meister.", antwortete sie.

    Dann entfernte sie sich vom Schreibtisch und stieg den Hügel hinab. Gedankenversunken und die Stirn in Sorgenfalten gelegt blickte er ihr nach, bis sie verschwunden war.

    Ungefähr zur selben Zeit wurde die Landebrücke eines Handelsschiffes im Hafen Elysstains heruntergelassen. Elysstain war eine schöne Hafenstadt mit einer vorteilhaften Lage an der Mündung des wichtigsten Flusses des Kontinents, der Drahm, im Meer. Der Handel florierte und Elysstain wäre eine reiche Stadt gewesen, wäre sie nicht politisch benachteiligt gewesen und müsste sie keine Tribute an andere, mächtigere Städte zollen. Doch wegen ihrer politischen Benachteiligung konnte sie sich so nur knapp über Wasser halten. Neben den reichen Kaufleuten und anderen Profiteuren, und neben der schwer arbeitenden Arbeiterklasse, fand man auf den Strassen Elysstains auch viel Gesindel. Strassenkinder, Diebe, Banden machten die Gassen des Nachts, wie oft auch am Tag unsicher. Auch der Hafen wurde von diesen Plagegeistern nicht verschont. So hefteten sich jede Menge verstohlene Blicke an die drei Männer, die ihre Füsse auf die Planke setzten. Den erfahrenen Adleraugen der Diebe fielen sie natürlich zuerst auf. Doch nach und nach verrenkten sich auch die beschäftigten Arbeiter ihre Köpfe nach den Neuankömmlingen.

    Natürlich waren Fremde nichts Unnatürliches an einem Hafen und würden lange keine derart grosse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Normale Reisende wurden nur kurz durch die kundigen Blicke der Taschendiebe geprüft, dann scherte sich niemand mehr um sie. Doch diese drei Männer die hintereinander die Kaimauer betraten, waren nicht gewöhnlich. Sie trugen glänzende Arm- und Beinschienen. Starke Brustharnische und breite Schulterplatten. An ihrer Seite hingen lange Stahlschwerter. Die drei Burschen, die sich ihren Weg durch den geschäftigen Hafen bahnten, waren Ordensritter.

    Die Hafenarbeiter und Matrosen beäugten die Neuankömmlinge misstrauisch. Retter der Menschheit, nannten sie sich selbst. Doch auch wenn ihre Arbeit, Dämonen aufzuspüren und für immer zu verbannen, nobel war, ihre Mitmenschen konnten sie nicht ausstehen. Keiner wollte was mit ihnen zu tun haben. Ihre Arroganz stiess die Leute ab. Ihr Benehmen machte sie unbeliebt. Sie dachten, sie könnten sich alles erlauben. Sie blickten auf alle anderen hochnäsig herab. Die Arbeiter, die die drei entdeckten, machten sich schleunigst daran weg zu kommen. Doch in dem Gedränge war dies ziemlich schwer. Die Ordensritter schoben und schubsten die armen Leute aus dem Weg. Dabei trugen sie ihre Geldbeutel dreist offen an ihren Gürteln. Sie brauchten sich nicht zu fürchten, dass sie jemand beklauen würde. Selbst das Gesindel hatte zu viel Angst vor ihnen. Und sollte es doch jemand versuchen, würden sie dies schon frühzeitig merken.

    Endlich schafften sie es den Tumult am Hafen hinter sich zu lassen. Sie bogen in eine ruhigere Gasse ein. Eine alte Frau kam ihnen entgegen. „Die Nahi segnen euch, edle Herren. Könnt ihr nicht einer alten Dame ein paar Münzen zurücklassen? Bitte. Ich muss drei Kinder aufziehen. Der erste Ritter stiess sie beiseite ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Die ausgemergelte Frau stolperte und fiel hin. Der zweite Ritter schenkte ihr einen abschätzigen Blick. „Du willst Geld? Verkauf dich doch als Hure.", bemerkte er und lachte. Die Frau fing an zu schluchzen. Nur der letzte Ritter blieb vor ihr stehen und langte nach seinem Geldbeutel.

    „Meine Börse. Sie ist weg., stellte er verblüfft fest. „Gestohlen.

    Der erste Ritter verdrehte die Augen. „Verdammt Hemming. Hast du nicht aufgepasst?, fuhr er ihn an. „Meine ist auch weg., bemerkte der Zweite verärgert. Nun überprüfte auch der erste Ritter seinen Gürtel. Es hing kein Geldbeutel mehr daran. Das Schluchzen der gebrechlichen Frau ging in ein Lachen über, als sie die belämmerten Gesichter der drei Ordensritter sah. „Willkommen in Elysstain.", krächzte sie.

    Oshu huschte durch den Wald voller Beine hindurch. In seinen Hosentaschen klimperten die Münzen der drei Ordensritter. Der unscheinbare Junge liess die geschäftige Menge hinter sich und erklomm eine etwas höhere Kaimauer. Er genoss kurz die Aussicht auf das Treiben unter ihm auf der einen Seite, und dem ruhigen Strandstück auf der anderen Seite. Dann widmete sich der schüchterne Junge seiner Beute. Neun Goldmünzen. Ein wahrer Schatz. Er wusste doch, dass die wuchtigen Krieger, so einiges bei sich trugen. Das wird gut zwei Wochen reichen. Wenn nicht mehr. Er liess die Münzen in seine Börse kullern. Da erweckte etwas in den Augenwinkel seine Aufmerksamkeit.

    Ein Floss passierte die Schiffe im Hafen und glitt auf den Strand unter Oshu zu. Interessiert beobachtete er die Nussschale auf ihrem Weg. Am Hafen schien es niemandem aufzufallen. Das Floss hatte den Anschein unbemannt zu sein, doch konnte er ein Durcheinander aus Stofffetzen darauf erkennen.

    Oshu kletterte die zwei Mann hohe Mauer auf der anderen Seite hinab, und bewegte sich neugierig zur Küste.

    Tatsächlich setzte das Floss auf den aufgeschütteten Kieselsteinen auf. Oshu blickte sich um. Er war allein. Er zog die zusammengeflickten Bretter an Land. Vorsichtig umrundete er das Floss und inspizierte es sorgfältig. Dann zog er die Decken zurück. Oshu stolperte erschrocken zurück. Unter den zusammengeflickten Stofffetzen kam eine Leiche eines Knaben zum Vorschein.

    Auf den zweiten Blick bemerkte er wie sich der ausgemergelte Brustkorb des Jungen noch immer auf und ab bewegte. Vorsichtig näherte sich Oshu wieder. Neben dem abgekämpften Jungen befand sich ein Körbchen, dass Oshu nun inspizierte. In dem schmutzigen, schlecht geflochtenen Korb befand sich lediglich ein zerfetztes Stück Papier. Er las die mit kümmerlichen Schrift gezeichneten Zeilen darauf.

    Mein liebster Corvu

    Wir lieben dich.

    Es tut uns Leid.

    Geniesse die Freiheit.

    Wir sind sicher, du wirst uns stolz machen.

    Wir vermissen dich.

    Sorge dich nicht um uns.

    Vergiss uns.

    Mama und Papa.

    Oshu las die spärlichen Zeilen wieder und wieder durch. Vor seinem inneren Auge blitzen Bilder auf. Die offene Geheimtür im Kamin. Seine Eltern draussen. Sie weinten. Vater winkte ihm. „Wir sind stolz auf dich. Werden es immer sein., hauchte er. Mutter schloss die Tür. Oshu streckte die Hand aus. Ein letztes Mal berührte er ihre Hand. „Wir lieben dich., flüsterte sie. Dann schloss die Tür und Oshu war allein. Allein in der Dunkelheit.

    Der schüchterne Junge putzte mit seinem Ärmel die Tränen aus den Augen. Und atmete tief ein und aus. Sein neuer Freund schien ähnliches durchgemacht zu haben. Nun, er würde nicht mehr alleine sein, wenn er aufwachte.

    Oshu hob den kraftlosen Körper auf und nahm ihn mit sich. Dann würden die Goldmünzen halt nicht so lange hinhalten. Er konnte Corvu zwar kein Dach über dem Kopf bieten. Nicht einmal ein anständiges Bett. Aber mit dem soeben gestohlenen Gold, konnte er Medizin kaufen. Er würde ihn wieder gesund machen. Und er würde darauf achtgeben, dass er auch gesund blieb. Wie auf seinen kleinen Bruder.

    Die Tage zogen ins Land, und Oshu schaffte es tatsächlich den gefundenen Jungen wieder aufzupäppeln. Corvu kam nach und nach wieder zu Kräften. Bald konnte er wieder sitzen, bald darauf sogar stehen. Doch sprechen wollte er lange nicht. Er trauerte seiner Vergangenheit nach. Die Bilder von der Insel, von der Baustelle und von den Eltern. Viele Nächte sass er an der Kaimauer und blickte in die endlose Weite des Ozeans, als ob er hoffen würde, dass jeden Moment ein Schiff am Horizont auftauchen würde, auf dem seine Eltern segelten. Noch lange plagten ihn Albträume. Und sie hörten auch Jahre danach nicht auf.

    Als es Corvu dann wieder einigermassen gut ging, fing Oshu an ihn zu unterrichten. Der Junge schien keine Amnesie zu haben, doch wollte er nicht über seine Herkunft sprechen. Das war Oshu nur recht, er wollte auch nicht über die seine sprechen. Doch Corvu schien von weit her zu kommen, denn er hatte keine Ahnung über die Gesellschaft, über ihre Geschichte, nicht einmal wie der Kontinent und die Inseln aussahen. Nebst dem Erklären ganz normalen Dingen, brachte Oshu ihm auch die Grundsätze des Stehlens bei und sobald er Corvus magische Fähigkeiten entdeckte, überredete er ihn mit ihm zu üben.

    Irgendwann einmal fing Corvu an sich von Oshu zu lösen und die Stadt alleine auszukundschaften. Von da an fingen die Probleme an. Corvu geriet an andere Strassenkinder, stritt sich mit ihnen, prügelte sich. Sein Grossmaul bescherte ihm viele Auseinandersetzungen mit den Banden.

    Oshu sah das nicht gerne, aber mit der Zeit liess er seinem kleinen Bruder freien Lauf. Sollte er doch tun, was er für richtig hielt. Auf sich selbst aufpassen konnte er nun mehr oder weniger.

    So kam es, dass Corvu zu einem selbstbewussten jungen Mann aufwuchs, der mit den harten Bedingungen der Elysstainer Strassen umzugehen wusste. Während Oshu sich einen Ruf als Meisterdieb erarbeitete, wurde Corvu mehr durch sein grosses Maul und die daraus folgenden Schlägereien bekannt. Obwohl er mit seinen Fähigkeiten auch einen meisterlichen Dieb abgab. Allerdings liess er sich öfters erwischen als Oshu, was in turbulenten Fluchten und kleinen Gefechten mit der Stadt- oder Marktwache endete.

    So wie an dem Tage, zehn Jahre nach Oshus Fund, als ein schüchternes, kleines Mädchen vor einer riesigen Holztür in einem der Stadthäuser stand. Verstohlen blickte es sich um. Es war ungefähr das fünfzehnte Mal, und noch immer war niemand in Sicht. Wunderbar! Nun durfte die Tür einfach nicht verschlossen sein. Das Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich um die hohe Klinke zu greifen. Das leise Klicken verriet ihm, dass der Weg frei war. Die Tür schwang schneller auf als es erwartet hatte und es stolperte ungeschickt in das Schlafzimmer seiner Eltern. Erschrocken hielt es den Atem an und horchte. Doch im Haus schien sich nichts zu regen. Mit neu gefasstem Mut setzte es seinen Weg fort. Mit seinen kurzen Beinchen tapste das Mädchen zu Mutters Kommode, worauf der grosse, mit Schnörkel verzierten Spiegel stand. Mühselig kraxelte das Mädchen auf den hölzernen Stuhl, welcher davor stand. Auf der Sitzfläche stehend, waren seine Schultern knapp im Spiegel zu sehen.

    Zur Linken des Mädchens befand sich ein Fenster, das seine Mutter wohl am Morgen geöffnet hatte um das Zimmer ein wenig durchzulüften. Immerhin war es Frühsommer und die Luft draussen frisch und warm. Das Mädchen blickte kurz hinab auf die Strasse, die am Haus vorbei zog. Es herrschte reger Betrieb da unten, obwohl sie nicht einmal an der Marktstrasse wohnten. Der Wind trug die Klänge von fröhlichen Plaudereien und Gelächter zu dem Mädchen ins Fenster hoch. Dutzende Leute liefen über die gepflasterten Strassen um ihren Geschäften nach zu gehen, doch hie und da blieben einige stehen, wenn sie jemanden trafen den sie kannten, um kurz die neuesten Neuigkeiten und den letzten Tratsch auszutauschen. Schnell wurde dem Mädchen das Schauspiel zu langweilig und es wandte sich wieder der Kommode zu.

    Der wahre Schatz, den das Mädchen suchte, befand sich im hölzernen, reich verzierten Kästchen, das am Fusse des Spiegels stand. Auf einem Bein balancierend griff es sich die Schatulle und öffnete sie. Glänzende Steine, kostbare Metalle und herrlich verzierte Amulette glitzerten in seinen vor Staunen geweiteten Augen.

    Bei der Schatulle handelte es sich nämlich um das Schmuckkästchen seiner Mutter. Die verschiedensten Ohrringe, Halskettchen und Armreifen befanden sich darin. Das Mädchen krallte sich die erste Halskette und begutachtete sie in seinen kleinen Händen. Es war eine sehr schöne, wenn auch schlichte Kette aus silbernem Faden an dem fünf silberne Flächen aufgereiht waren, die zusammen geschoben eine silberne Feder darstellten. Ohne es länger hinauszuzögern zu wollen legte das Mädchen sein Fundstück um den Hals. Obwohl ihm die Kette ein wenig zu gross war, gefiel ihm der Anblick im Spiegel sehr gut. Es kicherte leise, wendete sich ein paar Mal vor dem Spiegel hin und her und stellte Gesten dar, die es sich bei seiner Mutter abgeguckt hatte. Nach einer Weile wurde es ihm aber zu langweilig und es legte das Schmuckstück auf die Kommode neben die Schatulle.

    Das Mädchen wühlte bis zu den Ohren grinsend und mit leuchtenden Augen in dem Kästchen herum. Es war so eingenommen von seinem Schatz, dass es beinahe nicht einmal bemerkt hatte, wie das Feder-Amulett sich selbständig von der Oberfläche der Kommode hoch hob. Gleichermassen fasziniert wie erschrocken beobachtete das Mädchen ungläubig das vor ihm schwebende Schmuckstück. Als es sich von der Verwirrung ein wenig erholt hatte, streckte es vorsichtig sein kurzes Ärmchen aus und wollte nach dem sich seltsam verhaltenden Ding greifen. Doch bevor es den Faden überhaupt mit der Fingerspitze berühren konnte, zischte die Kette blitzschnell aus dem Fenster.

    Eine Weile stand das Mädchen noch verdutzt da und blickte aus dem Fenster. Doch das verhexte Ding wollte wohl nicht zurückkehren. Als das Mädchen realisierte, was geschehen war, kletterte es schleunigst von seinem Stuhl und eilte aus dem Zimmer. Es kehrte in sein Zimmer zurück, verkroch sich unter der Bettdecke und fing an zu schluchzen.

    Schmunzelnd schlängelte sich Corvu durch die Menschenmenge. Seine rechte Hand behielt er in der Hosentasche um die soeben erbeutete Halskette vom Klirren abzuhalten. Hoffentlich hatte er das arme Mädchen nicht zu sehr erschreckt. Aber der Anblick seines Gesichtes war einfach zu köstlich. Morgen wird der Schrecken sowieso schon wieder vergessen sein.

    Endlich erreichte er die Kreuzung zur Marktstrasse. Hier verdichtete sich die Menschenmasse und es wurde noch schwieriger durch zu kommen. Manchmal blieb einem sogar nichts anderes übrig als einfach stehen zu bleiben und abzuwarten, bis sich irgendwo eine Lücke auftat. Die Rufe der Marktschreier, die sich gegenseitig zu übertönen versuchten, die lautstarken Verhandlungen an den Ständen und das fröhliche Plappern der Marktbesuchern erfüllten die Luft und kämpften um die Vorherrschaft, doch am Ende konnte man keines der dreien richtig verstehen. Ausserdem mischten sich Düfte von Gewürzen, Parfüms und geräucherten Fische mit den Gerüchen von Schweinen, die verängstigt vor sich hin quiekten, und anderem Vieh, das mit auf den Markt gebracht wurde.

    Corvu blieb in dem Gerangel der Menschenmasse kurz stehen und liess die Kulisse auf ihn wirken. Er liebte die Marktstrasse an Samstagnachmittagen. Es war ein wahres Paradies für Diebe.

    Einfache Taschendiebe können hier ein Vermögen erbeuten. Nicht auszumalen was er hier erreichen könnte.

    „Stehle nur das, was wir benötigen um zu überleben., ermahnte ihn sein grosser Bruder an dem Tag an dem Oshu Corvu auf die Gesellschaft los liess und er auf den ersten Streifzug durfte. „Und geh kein unnötiges Risiko ein. Notfalls kommst du ohne Beute zurück. Ich bringe uns schon etwas Nachhause.

    Corvu machte eine unscheinbare Handbewegung und „Schwupps", landete ein praller Geldbeutel in seiner geöffneten Hand. Für ihn gab es doch keine Risiken. Seine telekinetischen Fähigkeiten waren wie geschaffen für Diebstahl!

    Tatsächlich, dass musste Corvu gestehen, war das Talent seines Freundes noch besser für ihre Lebensweise geeignet. Die Stadt konnte von Glück reden, dass sie so bescheiden waren. Sie beide als Team könnten ohne grosse Probleme reicher werden als die Stadt selbst. Doch Oshu konzentrierte sich lieber auf sein Training, draussen im Wald.

    Corvu seufzte und schob sich einige weitere Münzen, die er soeben von einem der Marktstände stibitzt hatte, in die Hosentasche.

    Eigentlich musste er seinem Freund schon Recht geben. Geld war lediglich ein Mittel zum Zweck. Um zu überleben. Weiter nichts. Sie Beide hatten andere Ziele. Wichtigere. Eines Tages würde er mehr als ein Dieb sein. Er würde in einer Gilde sein. Nicht in irgendeiner Gilde, sondern in seiner eigenen Gilde. Seit Oshu ihm das erste Mal von den Gilden erzählt hatte, wie sie das Volk vor Bedrohungen schützen, war er fasziniert von den Magierverbänden. Natürlich gab es da noch die Stadt- und Marktwache, die jede Stadt besass, doch die schützen das Volk lediglich vor sich selbst und nicht vor irgendwelchen Bestien ausserhalb der Stadtmauern.

    Ausserdem, gab es zwischen den Gilden grosse Rivalität, und dadurch entstehen die epischen Arenakämpfe, die festlegen welche der Gilden die stärkste ist. Corvu wollte unbedingt selbst starke Magier um sich sammeln, und sich mit den anderen Gilden messen, bis sie zu Ruhm und Ehre gelangten und er sicher sein konnte, dass er und seine Freunde stark genug sein würden, um zurückzukehren. Gerade jetzt war er auf dem Weg zu einer Dame, die er als Mitglied der Gilde einspannen wollte. Wenn sie einwilligen würde, wäre er schon einen Schritt näher an der Gründung der Gilde. Und ein Schritt näher an der Rückkehr zur Baustelle. Er würde seine Eltern wiedersehen, und er würde sie befreien. Sie alle.

    „Hey!", ertönte es plötzlich hinter ihm und Corvu zuckte zusammen als sich eine mächtige Pranke schwer auf seine Schulter legte. Corvu wusste sofort zu wem die Hand gehörte. Hato, dem Kommandant der Marktwache. Blitzschnell fuhr Corvu herum und versetzte dem grossgewachsenen Mann einen Schlag mit der flachen Hand. Die Druckwelle die Corvu auslöste, riss selbst Hato von seinen stämmigen Beinen und schleuderte ihn in zwei seiner Wachen hinter ihm, wobei er sie und etliche Passanten mit sich ein Stück die Strasse runter riss. Erschrocken stoben die restlichen Leute auseinander und versteckten sich an die Häuserwände gedrängt hinter den Marktständen. Es war nicht das erste Mal, dass ein Gerangel die Geschäfte des Marktes störte, so wussten die Leute, was zu tun war. Die zuvor noch überquellende Strasse vor, wie auch hinter ihm war im Nu frei. Corvu machte auf dem Absatz kehrt und fing an zu rennen.

    „Na los!", knurrte Hato, während er sich aus dem Menschenknäuel zu befreien versuchte. Seine noch auf den Füssen stehenden Männer, die zuerst Anstalten machten ihrem Kommandanten zu helfen anstatt den Dieb zu verfolgen, machten synchron kehrt und preschten Corvu hinterher.

    Die Marktwachen trugen lediglich leichte Lederrüstung und waren auf Verfolgungsjagden von Dieben spezialisiert. Sie waren schnell und gelenkig. So holten die drei Wachen gefährlich schnell auf. Ohne über die Schulter zu blicken schleuderte Corvu mit einer fahrlässigen Handbewegung die Töpfe, die auf einem Marktstand ausgestellt waren, scheppernd seinen Verfolgern in den Weg.

    Jedoch wichen die drei Männer leichtfüssig den heran sausenden Hindernissen aus. Die Seitenstrassen, die von der Marktstrasse abzweigten waren, durch die Menschenmenge die sich an den Strassenrand drängten, versperrt. So blieb Corvu nichts anderes übrig als geradeaus weiter zu laufen, auf das Stadttor zu.

    Mit einem Wink öffnete er das Tor eines Schweinegeheges am Strassenrand. Vor Freude quiekend und grunzend stoben die Schweine hinaus auf die Strasse. Corvus Verfolger hatten nun grössere Schwierigkeiten an den herum wuselnden Schweinen vorbei zu kommen. Einem der Soldaten rannte eine grössere Sau direkt vor die Beine. Er strauchelte und fiel zu Boden. Seine Kollegen hetzten weiter Corvu hinterher. Dieser warf alle möglichen Gegenstände auf die Strasse um seinen Verfolgern das Leben zu erschweren. Doch sie schienen nicht aufzugeben.

    Ein Blick über seine Schulter verriet ihm, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie ihn eingeholt haben. Er atmete tief durch und blieb stehen. Die Beiden legten in jedem Augenblick, den er weiter abwartete, weite Stücke des Weges zurück. Doch dann breitete er die Arme aus, erfasste auf beiden Seiten der Strasse einen Marktstand und schwang sie ruckartig aufeinander zu, in die Strassenmitte. Seine Verfolger waren zu nah und seine Bewegungen zu schnell um darauf reagieren zu können. Fast gleichzeitig wie die hölzernen Geschosse aufeinander prallten und zerbarsten, rannten die Soldaten in die plötzlich aufgetauchten Hindernisse. Der Aufschlag riss sie von den Füssen und sie krachten hart auf den Boden.

    Verkaufsgegenstände und Holzsplitter wirbelten wild durcheinander durch die Luft. Nachdem alle Projektile rund um die Kollisionsstelle auf den Boden aufgeschlagen waren und das Scheppern und Klacken verhallte, kehrte Stille ein. Lediglich das Stöhnen und Jammern der geschlagenen Wachen war zu hören.

    Corvu blickte in die Staubwolke, die aufgewirbelt worden war und sich langsam wieder auf die missbrauchten Marktstände legte. Um die Wracks der Stände war das reinste Chaos aus abgesplitterten Holzteilen und Tonscherben, die wohl von zerbrochenen Krügen entstammten. Irgendwo in den Trümmern lugte auch noch ein Bein oder ein Arm der wimmernden Wachen heraus. Corvu lächelte. Es war zu einfach. Er hatte nie verstanden warum die Stadt nur Nichtmagier als Wachen einsetzte.

    „Was fällt dir ein meine ganzen Waren zu zerstören? Jetzt reicht es mir aber mit euch Gesindel!, ein wütender Mann aus der Menge am Strassenrand stürmte mit erhobenen Fäusten auf Corvu zu. Doch plötzlich verlor der Mann den Boden unter seinen Füssen und schwebte immer höher in die Lüfte. Verdutzt blickte er sich um und fing wild an mit den Armen und Beinen zu rudern. Corvu hielt einen Arm ausgestreckt auf den Mann gezielt. Mit dem anderen Arm kratzte er sich am Nacken und lachte verlegen. „Tut mir Leid alter Mann, ganz ehrlich. Aber Sie wissen doch bestimmt, in der Not muss man alles gebrauchen, was einem hilfreich erscheint.

    Er setzte den Mann sanft wieder bei den anderen ab und wollte weiter gehen.

    „Corvuu!", Hatos wütende Stimme donnerte in Corvus Ohren. Erschrocken fuhr er herum, doch die hünenhafte Gestalt Hatos stand bereits vor ihm. Mist. Er war doch nur kurz abgelenkt gewesen, wie konnte er so schnell...? Schon landete Hatos wuchtige Faust in Corvus Gesicht. Der Aufprall war heftig genug, ihn zu Boden zu schleudern. Benommen blickte er wieder auf. Hato stand breitbeinig mit grimmigem Grinsen vor ihm, und seine fünf Lakaien waren auch alle wieder auf den Beinen, wenn auch auf wackeligen.

    „'tschuldigung Corvu, aber ich hab' schon lange darauf gewartet, dir mal eine reinzuhauen.", brummte Hato als er auf ihn zu gestampft kam.

    „Versteh' ich, versteh' ich., stöhnte Corvu. „Und mir tut's leid dass ich euch immer wieder aufmischen muss., fügte er dreist hinzu.

    Mit einem Kraftstoss von seinem Fuss, schleuderte er sich ein paar Meter von Hato weg und riss diesen gleichzeitig von den Beinen. Drei der Soldaten rannten schon auf ihn zu während die anderen zwei erschöpft vom vorigen Zusammenstoss zurückblieben. Doch bevor ihn irgendjemand erreichen konnte, schob er Marktstände, Karren, alles was er so finden konnte, vor sich hin und errichtete eine mannshohe Barrikade zwischen ihnen. Dann stiess er sich mit einem weiteren Kraftstoss ab und landete auf einem Hausdach, wo er auf den Dachschindeln ein wenig ausrutschte, doch bevor er vollständig den Halt verlor, setzte er seinen Weg fort, hinab in die nächste Strasse.

    Hato und seine Männer blieben vor der Barrikade stehen. Der Kommandant schüttelte im Unglauben den Kopf. „Dieser Junge überrascht mich doch immer wieder.", murmelte er vor sich hin.

    „Los Jungs, räumen wir erst die Unordnung hier auf. Dann wird Bericht erstattet.", befahl der Kommandant mit gespielter Freude.

    So machten sich die Soldaten an die Arbeitet und fingen an die Teile der Barrikade wegzuschieben. Bald erhielten sie Hilfe von den Umstehenden, während die restlichen Leute wieder dort weiterfuhren, wo sie von dem Störenfried unterbrochen wurden.

    Es dauerte nicht lange und der chaotische Alltag des Marktes kehrte wieder ein.

    Einzig ein Mädchen blieb im Schatten der Häuser zurück.

    „Wer ist der Junge?", zischte eine summende Stimme aus der Dunkelheit hinter ihr.

    „Er hat interessante Kräfte." stellte eine andere Stimme trocken fest.

    „Folgen wir ihm deswegen?", wollte die erste wissen.

    „Ich weiss es nicht. Vielleicht hat sich auch einfach jemand verliebt." antwortete die zweite Stimme. Hohn schwang im Unterton mit.

    „Verliebt? Kennt die das überhaupt?", lachte die erste.

    „Schweigt!", ertönte die helle aber verärgerte Stimme des Mädchens.

    „Schweigt?, wiederholte die erste Stimme. „Und was wirst du tun, wenn niemand schweigen wird?

    Die erste und die zweite Stimme lachten hämisch.

    Das Mädchen setzte sich in Bewegung, Richtung Haupttor. „Schweigt, schweigt, schweigt...", murmelte es immer wieder hilflos vor sich hin, während ihre baren Füsse über die Pflastersteine schlurften.

    Kapitel 2

    Von Freunden, Feinden und Fremden

    Corvu stiess missmutig die Tür auf, die zu der kleinen Hütte führte, in der er und Oshu seit einigen Monaten hausten. Sobald er eingetreten war, schlug er sie mit dem Fuss wieder zu, ohne sich dabei die Mühe zu machen sich umzudrehen. Nun befand er sich in einem kleinen Raum, der mit einem Tisch und zwei Stühlen ausgestattet war, mehr konnten sie sich nicht leisten. Auch wenn es für sie beide kein grosses Problem darstellte Geld zu beschaffen, so war das Ausgeben eine ganz andere Sache. Die Leute wurden misstrauisch wenn zwei Strassenkinder plötzlich mit einem Vermögen aufwarteten. Sie mussten sich jeden Verkäufer sorgfältig aussuchen, um sicher zu sein, nicht verpfiffen zu werden. Zu Corvus Leidwesen musste er feststellen, dass Oshu bereits auf einem der Stühle sass. Corvu seufzte. Er hatte gehofft, Oshu wäre noch immer unterwegs. Nun würde er sich wohl oder übel was anhören müssen. Er legte sein schwarzes Jäckchen ab und warf es auf den Kleiderständer neben der Tür. Allerdings traf er daneben und das Jäckchen landete auf den staubigen Dielen. Einen Moment blickte er das unfähige Stück Stoff böse an, dann wandte er sich ab und durchquerte mit wenigen Schritten den Raum. Oshu schlürfte an einer Tasse mit herrlich duftendem Tee. Als Corvu hinter seinem Rücken vorbei stapfte, fragte er den Teetrinker beiläufig: „Trainierst du heute nicht?"

    Oshu setzte die Tasse auf den Tisch, so dass das Klirren die Stille wie ein Donnerschlag durchbrach. „Ich mach eine kleine Pause.", erklärte Oshu.

    Corvu war in der Küche angelangt und bückte sich um etwas Kühles aus der Bodenluke, die ihre Vorräte frisch halten sollte, zu nehmen.

    „Eine Pause? Bist du krank?", fragte er ein wenig irritiert. Eigentlich hielt nicht einmal Fieber Oshu ab auf die Lichtung im Wald vor den Stadtmauern zu gehen und dort bis zum Umfallen irgendwelche neue Kampftechniken zu üben. Corvu konnte sich noch gut daran erinnern, wie er Oshu schon einige Male halb tot, vom Fieber erschlagen, von der Lichtung nach Hause tragen musste.

    Corvu fand einen Sack voll gekühlten Erbsen und drückte ihn sich auf das blaue Auge und setzte sich auf den freien Stuhl Oshu gegenüber. Natürlich erwartete er einen Kommentar, oder gar einen Vortrag von Oshu. Doch der griff nur nach der zweiten Tasse und der Teekanne, die auf dem Tisch bereit standen. „Tee?", fragte er Corvu. Ohne eine Antwort abzuwarten goss er ihm Tee ein, und stellte die Tasse vor Corvu hin. Corvu nahm dankbar an und gönnte sich einen Schluck.

    Sie tranken oft Tee zusammen. Diese Stunden mit seinem Freund gehörten zu Corvus liebsten Erinnerungen. Es waren diese viel zu seltenen Momente, in denen Oshu mehr als nur ein, zwei Sätze sprach.

    Seit Corvu nach seiner Flucht eines Morgens in Oshu's Bett aufgewacht war, waren die zwei wie Brüder. Corvu hatte schnell gemerkt, dass Oshu nicht ein Mann grosser Worte war, doch sie brauchten keine Worte um sich gut zu verstehen. Tatsächlich wussten sie nichts über die Vergangenheit des anderen. Oshu hatte ihn nie gefragt, wieso er ihn bewusstlos und ganz durchnässt am Strand vor gefunden hatte. Doch Corvu vermutete, dass Oshu eigene Gründe hatte, nicht über die Vergangenheit zu sprechen.

    Auf der anderen Seite träumten sie oft zusammen von der Zukunft. Sie teilten ihre Pläne mit einander, und besprachen ihre Ziele. So wusste Oshu von Corvu's Vorhaben eine Gilde zu gründen, sowie Corvu wusste, dass Oshu eines Tages der gefährlichste Krieger im ganzen Kontinent sein würde.

    Sie versuchten sich auch gegenseitig bei ihren Vorhaben zu unterstützen. So verbrachte Corvu viele Stunden damit bei Übungskämpfen von Oshu verprügelt zu werden. Und Oshu hielt immer Augen und Ohren offen um potenzielle neue Mitglieder für Corvu zu finden.

    Eine Gilde zu gründen mochte sich einfacher anhören als Reihen von mächtigen Kriegern und geschickten Kämpfern zu übertrumpfen, doch so war es nicht.

    Während Oshu ungestört auf sein Ziel hinarbeiten konnte und jeden Tag Fortschritte erzielte, scheiterte Corvu Tag für Tag an der scheinbar einfachen Aufgabe, genügend Mitglieder für die Gründung zu finden.

    Vier. Vier Leute wurden benötigt. Ein Gildenmeister und drei Mitglieder.

    Oshu hatte ihm bereits zugesagt. Es fehlten also nur noch zwei weitere Leute.

    Doch offenbar war es unmöglich solche ausfindig zu machen. Selbst in Elysstain, eine der Städte, die selbst keine Gilde besitzen.

    Doch all die Leute, die er anfragte, lachten ihn aus, oder sahen ihn einfach kurz schräg an, taten ihn als verrückt ab und ignorierten ihn fortan. Naja, er konnte es ihnen nicht gross verübeln. Immerhin ist es über hundert Jahre her, seit eine Gilde gegründet worden war. Doch noch hatte er den letzten Funken Hoffnung nicht verloren.

    „Was ist,, eröffnete Corvu das Gespräch, „Keinen Kommentar?

    Oshu's Lippen deuteten ein schüchternes Lächeln an. „Ich nehme an, ich muss mich nicht über den Ausgang des Gespräches mit dieser Frau erkundigen."

    Corvu erinnerte sich wieder. Ach ja! Er wollte eigentlich diese Trinkerin fragen, ob sie seiner Gilde beitreten wollte. Das hatte er durch den Tumult an der Marktstrasse völlig vergessen.

    „Es … Es war nicht die Frau, erklärte er zögernd. „Ich wurde bereits auf dem Weg zu ihr aufgehalten Ich konnte sie gar nicht fragen., gestand er niedergeschlagen. „Ich traf auf Hato am Markt. Du weisst ja, wie das abläuft."

    Oshu nickte. „Ich hab's gesehen. War ziemlich unterhaltsam."

    „Du warst da, und bist mir nicht zur Hilfe gekommen?", fragte Corvu mit gespielter Empörung.

    „Ich bin dein Bruder, nicht dein Kindermädchen. Du weisst, du kannst auf mich zählen, sobald es ernst wird. Vorher lasse ich dich einfach spielen.", verteidigte sich Oshu.

    „Schon klar. Ich brauchte ja auch keine Hilfe. Ich hatte alles im Griff. Das war schliesslich bloss Routine.", behauptete Corvu cool.

    „Dass mit der Routine glaube ich dir sogar.", meinte Oshu.

    Nach dem kurzen Gespräch kehrte wieder Stille ein. Die jungen Männer sassen in dem kleinen Raum, blickten aneinander vorbei an die heruntergekommenen Wände und nippten gedankenversunken an ihrem Tee, der vor sich her dampfte.

    Corvu schielte zu Oshu hinüber. Es war seltsam. Wenn schon kein Schimpfen, dann mindestens ein enttäuschtes Kopfschütteln hätte er schon erwartet. Oshu war unnatürlich gnädig. Irgendwas muss vorgefallen sein.

    Corvu wusste, dass er sich immer auf seinen Freund und Adoptivbruder verlassen konnte. Er hatte es ihm schon einige Male bewiesen. Auch wenn es im Rückblick eher unbedeutende Dummheiten waren, aus denen er ihn gerettet hatte und meistens folgten darauf Worte der Unstimmigkeit. Trotzdem war Oshu immer zur Stelle, wenn Corvu ihn brauchte. Und auch Corvu würde seinen Bruder nicht im Stich lassen. Zu viele Leute hatte er schon hängen lassen. Zu viele enttäuscht. Doch das würde nie mehr vorkommen. Das hatte er sich nicht einfach so vorgenommen, auch geschworen hatte er es sich nicht. Ebenso wenig war es ein Versprechen, dass er jemanden Gegenüber einhalten musste. Es war einfach so. Es war sein Leben.

    Genauso wie es Oshu's Leben war zu trainieren. Er sagte sich nicht jeden Abend: „Morgen früh werde ich diese Technik üben und werde nicht aufhören bis ich sie makellos anwenden kann."

    Nein, er tat es einfach. Er kannte nichts anderes. Er wird seine Gründe dafür haben, doch muss er sie sich nicht jedes Mal vor Augen halten. Es war eine Selbstverständlichkeit. Ob Schnee, Regen, Sturm, Gewitter oder Hitze. Jeden Tag, oftmals auch in den Nächten, fand man Oshu verschwitzt, abgekämpft und übernächtigt, jedoch immer bereit seine nächste Übungsstunde zu bewältigen, in der Lichtung vor.

    Was Corvu wieder zurück in die Realität brachte. „Warum trainierst du heute nicht?, wunderte er sich. Oshu blickte in die Tasse, in der sich der Tee langsam abkühlte. „Lass uns erst den Tee austrinken., wich er der Frage aus.

    „Was hast du denn zusammentreiben können, bevor du erwischt wurdest?", fragte er um von Corvu's weiteren Fragen abzulenken, bevor er sie überhaupt stellen konnte.

    Corvu erinnerte sich an das Diebesgut in seinen Taschen und er entleerte sie auf den Tisch. Einzelne Münzen klimperten auf der Holzplatte und ein Geldbeutel schlug dumpf auf den Tisch. Als seine Hand die Halskette berührte, zögerte er kurz, doch dann legte er auch sie vor Oshu hin.

    Sein Freund gönnte sich einen langen Zug von seinem Tee und setzte dann langsam die Tasse ab. Neugierig beäugte er das Diebesgut. Die Münzen schienen ihn nicht gross zu interessieren, denn er griff bald nach dem Amulett und hielt es vor sich hin um es im Schein des spärlichen Sonnenlichts, das durch das einzige Fenster im Raum fiel, zu begutachten.

    Corvu beobachtete ihn dabei mit böser Vorahnung. Geld war das einzige, was erlaubt war zu stehlen. Alles andere brauchten sie nicht, und brachte nur unnötiges Leid über die Bestohlenen. Stahl man von den richtigen Leuten ein paar Münzen oder auch mal ein Säckchen voll Gold, so mochte dies den Bestohlenen zwar kurz verärgern, doch das ist schnell wieder vergessen. Gestohlene Gegenstände aber brachten wesentlich grössere Konsequenzen mit sich. „Objekte, hatte Oshu ihn gelehrt, „haben einen weit grösseren Wert als die Münzen gegen die man sie eintauschen kann. An Gegenständen hängen Erinnerungen. Sie verbinden Menschen miteinander oder sie schenken ihren Inhabern Gefühle, die sie sonst nicht mehr verspüren können. Das Entwenden solcher Dinge bringt Schmerzen, Trauer oder, das schlimmste Übel, Vergessenheit. Also konzentriere dich auf einfache Münzen und Gold. Und lass die Finger von allem anderen.

    Corvu biss sich auf die Unterlippe. Er wusste nicht mehr was ihn dazu getrieben hatte die Kette zu stehlen. Er schämte sich ein wenig. Oshu wird bestimmt nicht erfreut darüber sein. Corvu ärgerte sich über sich selbst. Sein Bruder schien so guter Stimmung zu sein. Und er musste natürlich mit einer Dummheit alles wieder kaputt machen.

    Abwartend beobachtete er Oshu.

    „Sie ist sehr schön.", bemerkte Oshu lediglich. „Schlicht und dennoch elegant.

    Trotzdem, solche Dinge sollten geschenkt werden, nicht genommen."

    Er legte sie wieder vor Corvu hin. „Vielleicht kannst du sie einmal jemandem verschenken. Allerdings solltest du es nicht einfach irgendwem schenken. Du solltest dir sorgfältig die richtige Person dafür aussuchen."

    Corvu runzelte die Stirn. Er wusste nichts darauf zu antworten. Überhaupt war er irritiert. Etwas war nicht richtig. Oshu sollte eigentlich auf der Lichtung sein und trainieren. Doch er war hier gemütlich am Tee trinken. Zudem gab es keine Schelte wegen des blauen Auges und Oshu forderte keine Rückgabe des Amulettes. Mit ihm stimmte etwas nicht. Er war anders. Was war hier los?

    „Warum bist du noch mal nicht auf der Lichtung?, fragte Corvu ein weiteres Mal. Argwohn mischte sich in seine Stimme. Abermals blickte Oshu tief in seine Tasse. „Ich hab' noch Tee. Wie sieht's bei dir aus?, fragte er, ohne auf Corvus Frage einzugehen. Corvu untersuchte seine Tasse. Sie war noch immer fast halb voll. Doch mittlerweile war der Tee ein wenig abgekühlt. Er trank ihn mit grossen Schlücken aus und wiederholte seine Frage. „Ich bin leer. Warum bist du nicht im Wald, Oshu?"

    Oshu nahm genüsslich den letzten Schluck aus seiner Tasse und stellte sie vorsichtig zurück auf den Tisch. „Na gut. Gehen wir.", meinte er nur und streckte sich.

    Verwirrt blickte ihm

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