Todesangst
Von Daniel Wachter
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Buchvorschau
Todesangst - Daniel Wachter
Prolog
22. Juli 2012
17:45 Uhr
Die Sonne war gerade im Begriff unterzugehen und tauchte den gesamten Himmel über der Stadt gelbrot. Die dunkelroten Pylone der Ponte 25 de Abril, welche auch um diese Uhrzeit unerlässlich Autos und Zügen den Weg über den an dieser Stelle zwei Kilometer breiten Tejo ebnete, bildeten einen dunklen Kontrast zum Abendhimmel. Der Tejo war ruhig, wurde allerdings durch einen leichten Wind aus Richtung Atlantik aufgewirbelt, der Wind liess auch die Temperaturen in Lissabon leicht kühler wirken, als das Thermometer beispielsweise im Alentejo jeweils anzeigte. Einige Wolken zogen am Himmel auf, was dem Schauspiel einen weiteren atemberaubenden Aspekt hinzufügte, doch die Gefahr auf Regen in der Nacht würde wie in den Tagen und Nächten zuvor verschwindend gering bleiben.
Lúcia Soares schloss ihre Bäckerei in der Alfama, nur unweit des Castelo São Jorge gelegen. Ihre Haupteinnahmequellen waren Touristen, für die das Schloss mit dem Ausblick auf die gesamte Stadt ein Höhepunkt ihres Lissabon-Aufenthalts darstellt. Heute hatten sie und ihre zwei Angestellten alle Hände voll zu tun, bei Sonnenschein und dank dem kühlen Atlantikwind recht angenehmen 24 Grad Celsius auf dem Thermometer hatten sich zahlreiche Besucher entschieden, diesen Mittwoch auf dem Castelo zu verbringen, so dass Lúcias Bäckerei vor allem zur Mittagszeit die Tür eingerannt wurde.
Der Lichtschalter klackte und sofort wurde die Bäckerei in Dunkelheit gehüllt, die Tür fiel ins Schloss und die Schlüssel klapperten. Lúcia atmete durch. Endlich Feierabend.
Sie trat auf die Rua do São Tome, welche ein wenig die Hauptstrasse des eng verschachtelten Stadtviertels darstellte und auch von Strassenbahngleisen durchzogen ist. Just zu dieser Zeit klapperte und quietschte einer der nostalgischen, in gelber Farbe gehaltenen Triebwagen der Linie 28E durch die Strasse und quälte sich den Hügel hinauf.
Ein Blick auf die Aushänge am Kiosk auf der linken Strassenseite liessen Lúcia wissen, dass die Schlagzeilen der grossen portugiesischen Sportzeitungen immer noch von der bereits über drei Wochen zurückliegenden Fussballeuropameisterschaft handelten, mit der Feststellung, dass die Portugiesen der Sehnsucht und den Erwartungen der Landsleute mal wieder nicht gerecht wurden, und sich das ganze Land wieder mit Tränen füllte, wie 2004, als man als Gastgeber den sicher geglaubten Titel im Finale im Estádio da Luz noch an Griechenland verlor. Obwohl sich Lúcia die Spiele der Nationalmannschaft am diesjährigen Turnier angesehen hatte, war ihr Interesse am runden Leder nach dem Ausscheiden im Halbfinal ausgerechnet gegen den iberischen Rivalen Spanien wieder verblasst, wo sie vor allem bei ihrem Mann und ihren beiden Söhnen auf massives Unverständnis stiess. Für sie waren diese Herren keine Männer, sondern überbezahlte Weicheier.
Als die Bäckerin am Miradouro de Santa Luzia vorbeischlenderte, bemerkte sie, dass der ansonsten lebendige Platz mit der bepflanzten Pergola trotz des warmen Sommerabends wie ausgestorben wirkte. Neugierig wie sie war, überquerte Lúcia die Strasse und ging auf den Aussichtspunkt zu. Unten am Tejo versuchte ein grosser Frachter an den Docks an der Avenida Infante Dom Henrique anzulegen. Die unentwegt aus Mittelspanien Richtung Atlantik fliessenden Wassermassen des Tejo erschwerten aber seinen Plan, denn die Wellen wurden durch den aufwehenden Ostwind aufgewirbelt.
Als Lucía auf die Schnelle einen Blick durch ihre Augenwinkel auf die nächstgelegene Sitzbank wagte, stockte ihr der Atem.
Sie musste zweimal schauen, um sich zu vergewissern.
Kapitel 1
22. Juli 2012
18:10 Uhr
Die Rua do Conceição in der Baixa glich einem Schauplatz einer amerikanischen Polizeiserie, als zahlreiche Streifenwagen der Polizei über ihren Belag rasten und mit ihren Blaulichtern und Sirenen die Szenerie in gespenstisches Licht hüllten.
Etliche Ladenbesitzer und Touristen waren an den Strassenrand getreten, um dem hektischen Treiben die Ehre als Augenzeugen zu geben. Das Blaulicht wurde an den ockerfarbenen Fassaden der Gebäude reflektiert und aufgrund des schachbrettartigen Grundrisses der Baixa waren die Sirenenlaute weithin hörbar. Die Wagen erklommen die Rua de Augusto Rosa und kamen am Miradouro de Santa Luzia zum Stillstand.
Im zweitvordersten Wagen, anders als die Streifenwagen eine schwarze Mercedes-Limousine, knallte Polizeikommissar João Carvalho da Luz die Autotür zu und schritt auf die weinende Frau zu, welche neben einer auf der Sitzbank liegenden Leiche stand.
„Guten Abend, ich bin João Carvalho", stellte er sich vor und reckte der Frau seine Hand entgegen. Sie ergriff sie und sprach:
„Lúcia Soares, sehr erfreut." Sie räusperte sich und war bemüht, eine feste Stimme zu erhalten.
„Sie haben also die Leiche entdeckt?", brachte Carvalho den Sachverhalt auf den Punkt. Lúcia nickte nur und begann unverzüglich wieder an zu weinen. Immer wieder hegte sie die Hoffnung, dieser Sommerabend in Lissabon wäre Teil eines Albtraumes, aus dem sie gleich erwachen würde und sich zwar schweissgebadet, aber ohne eine solche traumatische Erfahrung, in ihrem Schlafzimmer in Madre de Deus wiederfinden würde.
Carvalho, nicht gerade der gefühlsdusselige Portugiese in Person, schob sich ohne ein Wort zu verlieren an Lúcia vorbei und betrachtete die Leiche. Die Frau war jung, vermutlich noch minderjährig. Ihr hellblaues Sommerkleid war von den mehrmaligen Messerstichen zerfetzt worden. Das Blut war noch nicht geronnen, es glänzte in den letzten Strahlen der in Atlantikrichtung untergehenden Sonne, ebenso die gebräunte Haut der Toten, welche nun von einem Beamten der Spurensicherung, der sich neben die Sitzbank gekauert hatte, beäugt wurde.
„Was meinen Sie?", wurde er von Carvalho gefragt.
„So auf die Schnelle gesagt, ist sie im Verlauf der letzten Stunde gestorben. Das Blut fliesst zwar bis zu 12 Stunden nach dem Tod, jedoch werden die Totenflecken erst nach einer Stunde auftauchen, was bisher noch nicht geschehen ist"
Carvalho nickte kurz und blickte abermals auf die Leiche.
„Wieso musstest du so jung sterben?", murmelte er leise zu sich. Er wartete, bis die Spurensicherung ihre Arbeit beendet hatte, damit er die Identität des Opfers in Erfahrung bringen konnte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit signalisierte der Beamte der Spurensicherung Carvalho mit einem Nicken, dass seine Arbeit getan war und nun o Chefe zur Tat schreiten durfte.
„Sie hat drei tödliche Stiche in die Magengegend erhalten, die Klinge war zwischen fünf und zehn Zentimeter lang. Sie schien verblutet zu sein" Mit diesen Worten verabschiedete sich die Spurensicherung.
Der Kommissar kauerte neben die Sitzbank, so dass die Tote dank seiner relativ kleinen Körpergrösse von knapp einem Meter siebzig auf Augenhöhe lag. Die Augen starr vor Schreck aufgerissen, langsam bildende Totenflecken. Die durch die bepflanzte Pergola erweckte paradiesische Idylle des Miradouro wurde durch die ermordete Person auf einen Schlag zerstört.
Carvalho zog sich einen Gummihandschuh über und begann in der Kleidung der Toten zu wühlen. Eine Handtasche hatte sie nicht bei sich, entweder besass sie keine, oder der Täter hatte sie geklaut. Beweggründe für letzteres gab es zuhauf, zu erbeutendes Geld oder das Vertuschen der Identität des Opfers.
In der ungewöhnlichen Brusttasche des Kleides stiess Carvalho auf einen harten, fast kartonierten Gegenstand. Er griff nach ihm – es war eine Identitätskarte. Die Tote trug den Namen Terésa Pereira de Vila und war laut dem Papier im brasilianischen Belo Horizonte geboren worden.
Das Geburtsdatum liess das Blut in seinen Adern gefrieren: 15. Oktober 1996. Die Kleine war nicht mal 16 Jahre alt!
Carvalho hatte gefunden, was er wollte, so stand er auf und richtete seine Aufmerksamkeit auf seine Kollegen.
„Wir können gehen. Schafft die Leiche in die Pathologie nach Anjos!", sagte er und begab sich auf den Weg zu seiner Limousine.
Plötzlich winkte ihn einer der jüngeren Streifenbeamten zu sich.
„Was ist?", bellte Carvalho.
„Sehen Sie sich das an!", entgegnete der Beamte ungerührt und wies auf den sandigen Boden. Eine Spur getrockneten Blutes führte auf die Strasse, verlor sich aber in der Mitte der Rua do Limoeiro.
„Gut gemacht Carvalho rang sich tatsächlich zu einem Lächeln durch. „Das erklärt auch, wieso keine Blutspuren auf der Sitzbank zu finden waren
„Der Fundort ist nicht identisch mit dem Tatort", erwiderte er auf den irritierten Gesichtsausdruck des Streifenbeamten.
Einige Autominuten später fand sich Carvalho gemeinsam mit seinen Kollegen wieder im Hauptquartier der kriminaltechnischen Abteilung der Polícia Segurança Pública an der Rua da Cintura do Porto de Lisboa direkt im Hafen Alcântara wieder. Vom Fenster seines Büros bot sich zwischen den beiden vorstehenden Gebäuden eine Sicht über den Jachthafen, das Kreuzfahrt- und Containerterminal Alcântaras, über den Tejo in Richtung Atlantik und auch auf die andere Seite des Flusses, wo im sanften Abendhimmel am Brückenkopf der Ponte 25 Abril in Almada die beleuchtete Cristo Rei-Statue in