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Camp Change
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eBook369 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Der Teen Triple A aus reicher Familie steckt mitten im Insellager, wo die Pubertierenden jahrelang in Quarantäne leben, ob sie mutieren wie die wildgewordene Natur ausserhalb der Kuppeln. Wer überlebt, soll danach eine Innovation zur Gesellschaft beisteuern und kann dadurch Karriere machen. Ungeschicktes Verhalten aus Rachegefühlen gegen ständige Tests machen ihn zur peinlichen Figur, aber nachdem der gute Karl und der fiese Morley mit ihrem Umsturzplan scheitern, bleibt alles an ihm und seinen tatkräftigen Nicht-Freundinnen hängen. Doch es kommt alles schlimmer, bis sie etwas entdecken.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. März 2017
ISBN9783742794307
Camp Change

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    Buchvorschau

    Camp Change - Flower U

    TEIL I

    Tag 1

    AAA lehnte mit der ganzen Vorderseite seines sich streckenden Körpers an den nackten Fels vor ihm, der wie ein Ausguck über den Strand darunter wachte, und schaute mit zusammengekniffenen Augen durch die verschmierte Gasmaske ans ferne Ufer jenseits des vereisten Meeresarms, Hände in den Taschen trotz Handschuhen. Er spürte die Kälte durch die hochwertige Jacke, die er immer noch besass, seit damals vor vier Jahren, als auch er da unten gelandet war. Er war froh um diese Jacke, ein Geschenk seiner Eltern, um die ihn viele beneideten und die er hartnäckig verteidigt hatte. Sie war nicht besonders modisch, aber isolierte ihn besser als der Coverall, den alle trugen, allerdings im doppelten Wortsinne. Genau wie sein doofer Name, Atticus Albin, und an das dritte A wollte er gar nicht denken. Amateur, wie Anfänger, oder Liebhaber. Was hatten sich seine Eltern bloss dabei gedacht? Er nannte sich Triple A, auf Englisch, das signalisierte den Kennern beste Qualität und versprach hohe Überlebenschancen. Jedenfalls war das die Erwartung. Die Realität hielt sich gemeinerweise nicht immer an die Statistik, sogar bei einem aus der Elitenfamilie der von Ockham. Frechheit.

    Das Gewicht seines Namens hatte er zunehmend zu spüren bekommen hier im Jugendlager auf der Insel des Übergangs. Offiziell hiess die Insel Morphos, ein Begriff der alten Griechen, die für fast alles Vorbilder überliefert hatten. Wie für seinen ersten Vornamen Atticus: nicht der sehr gerechte Anwalt aus einem Film längst vergangener Tage („to kill a mockingjay" oder ähnlich hiess der Titel), sondern abgeleitet von der Gegend um Athen, Attika, wo die ersten Bürger ihre Geometrie und Demokratie im Sand skizziert hatten. Die aber nur für wenige galt, gelten konnte. Nichtmitglieder bitte draussen warten. Und macht bitte unter euch aus, wer als Gewinner wieder vorsprechen darf für eine Rolle in der besseren Gesellschaft.

    Ungefähr so war es auch heute noch, etwa dreitausend Jahre später, wenn man den Gerüchten trauen konnte, die unter den Älteren wie ihm im Lager kursierten, die sich auf den Übertritt in die Welt der Erwachsenen vorbereiteten. Oder mindestens bald vorzurücken hofften ins Lager 2. Wieder dort drüben auf dem Festland, beinahe daheim. Daheim, wo sie ihre sorgenfreie Kindheit verbracht hatten, und wo sie nach überstandenem Insellager ihre Stellung in der Kultur von Dawkinsonia einnehmen würden, das war das sich nach oben verjüngende Schneckengehäuse des riesigen Stadturms, der wie ein Mahnfinger im Hintergrund aufragte, gekrönt von der Scheibe der Oberen, so dass das Ganze eher wie ein Pilz aussah. Weil das Haupt der Gesellschaft häufig in Wolken gehüllt war, hiess es entsprechend The Cloud, wie sonst.

    Das gleissende Licht des Frühlings blendete ihn, so dass er nicht sehen konnte, ob die breite Reihe an Gestalten am anderen Ufer die Neulinge waren oder ihre Eltern. Diejenigen, die sich getrauten, zu dieser ersten grossen Prüfung ihrer Sprösslinge mitzukommen, vielleicht zum letzten Mal die feuchten Patschhändchen zu halten. Den Rucksack zu richten, in dem alles Platz haben musste, was man mitnehmen durfte auf die Reise ins Lager 1. Ausser natürlich dem, was man in den Genen und im Kopf hatte. Darin wurde viel investiert, jeder nach seinen Möglichkeiten natürlich. Seine wohlhabenden Eltern hatten sein Schicksal wohl per Drohne von ihrer hohen Warte aus beobachtet. Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder hatte er es geschafft, bis hierhin jedenfalls, es war noch ein weiter Weg.

    Davon wussten die Neulinge zum Glück noch nichts, die sich jetzt zögerlich von ihrer kindlichen Vergangenheit lösten und Richtung Eis strebten. Rund 500 Meter mussten sie überqueren, um auf die Insel ins Survival Camp der Pubertierenden zu gelangen. Ein Zurück gab es nicht. Dafür sorgten die automatischen Wächter mit ihren Projektilen. Das wussten die Kids, nicht gerade aus der Werbung, aber sowas machte die Runde in den Pausen der geschützten Schule. Nur für die Besten hatte die bedrohte Gesellschaft am Ende eine Verwendung, um gegen die wildgewordene Natur zu bestehen. Darauf konnte man dann stolz sein. Was für eine Scheisspropaganda der alten Säcke, schimpfte AAA laut vor sich hin.

    Die Frühlingssonne schien zu wärmen, aber es reichte nicht bis in sein frierendes Inneres, nur um das Eis dünn und brüchig werden zu lassen. Unten am Steg, ganz vorne, wo er natürlicherweise hinzugehören schien, stand Karl Harissian, wie eine Statue, ohne Kopfbedeckung, damit seine schwarzen Haarwellen glänzen konnten, und sah hinüber. Sein Blick unter der Schutzmaske war sicherlich ernst. Der Kerl hatte einfach keinen Humor. Dafür hatte er seine Schwester Elvissa, die nervös am Strand herumirrte. Sie hatte auch ihn gesehen am Hang, ihr entging wenig. Er hatte nicht gewinkt. Morley hatte sich zum Glück nicht die Mühe gemacht hier zu erscheinen, es war ja jedes Jahr dasselbe, oder nicht? Der würde schon bekommen, was er wollte. Und auch von Morley Maldoons Königin Hekaterina Moravic war nichts zu sehen. Sie hätte sicher auch im Schutzanzug noch niederschmetternd attraktiv gestrahlt. Ihr Fehlen war allerdings seltsam, weil sie sich doch sonst an allen Brutalitäten ergötzte. Genau deshalb war seine Freundin Lilula, richtig Lilith Lua Lagrange, nicht bei ihm. Sie ertrug das Drama nicht mehr, das sich gerade entfaltete und seinen vorhersehbaren Verlauf nahm.

    Ein Kind, ungeschickt in der ungewohnten, vor den Giften und Kleinstlebewesen der freien Natur schützenden Kleidung, wählte die Taktik, so schnell wie möglich über das Eis zu rennen. AAA meinte das Keuchen des Atems, das Pochen des Herzens und den Gestank der Angst bis hierhin zu spüren. Es schaffte es bis kurz nach der Mitte. Dann brach es ein und die Eisschollen schlossen sich schmatzend über ihm. Der erste Strich. Im Schnitt würde er fünf Striche machen müssen. Immerhin, tröstete AAA sich grimmig, nicht die ungefähr hundert, welche die erste Hürde in Angriff nahmen. Gewarnt durch das Opfer des Ungeduldigen tasteten sich die Jugendlichen nun vorsichtiger voran.

    Geht auseinander, haltet Abstand, schrie AAA einer ängstlich sich aneinander klammernden Gruppe in Gedanken zu und machte schwimmende Bewegungen mit seinen Armen. Ein lautes Knacken, dann rutschte der Pulk über die schiefe Ebene einer kippenden Scholle ebenfalls ins Eiswasser. Doch sie waren offenbar vorbereitet und hatten sich aneinander geseilt. Die Idee war gut, aber nur, wenn einige auf dem Eis blieben und die anderen herausziehen konnten. Hier hätten das die Nachfolgenden leisten müssen, aber die waren in Schockstarre. Nach einer Minute war es vorbei. Schon sechs Striche, seine behandschuhte Hand zitterte. Leider war die Statistik keine Garantie zur Velustbegrenzung.

    Die übrig Gebliebenen befolgten zu seiner Erleichterung seinen Rat und gingen einzeln und in grossem Abstand, schön langsam, watschelnd wie Pinguine oder auf dem Bauch robbend. Das klappte ganz gut, die letzten hundert Meter brachen für die meisten an. Ein Mädchen, soweit er schliessen konnte von den langen Haaren, die unter der Schutzkappe hervorkringelten, ging mutig voran. Und beschleunigte dann seinen Schritt. Aufstampfen statt Leisetreten, keine gute Strategie, AAA verkrampfte sich. Krack, und das Kind stand halb im Wasser. War es auf einer Sandbank? Nein, es hatte schlau einen langen Wanderstab quer vor sich gehalten, der auf den Eisrändern auflag. Aber nun strömte die Herde in Panik gnadenlos an ihr vorbei Richtung rettenden Strand, wo Elvissa herumsprang, fuchtelte und schrie, um die verängstigten Kinder davon abzuhalten, vergeblich. Aber manchmal spielte das Glück mit, das Eis in Strandnähe hielt der Stampede stand. AAA atmete durch. Dann sah er wieder das Mädchen halb im todbringenden Wasser. Zurückgelassen von der Meute. Er traute seinen Augen nicht, als ein kleines Kerlchen sich wieder zurück aufs Eis wagte und der Eingebrochen half. Zusammen schafften sie es, dass sie sich befreien konnte. Einen Kopf grösser als ihr Retter schlurfte sie von ihm unterstützt ins Ziel.

    AAA wollte schon den Abhang hinunterpoltern an den Strand. Mindestens diese beiden wollte er haben für sein Habitat. Obwohl Mut und Altruismus dumm waren. Karl würde die Ersten schon abführen in sein Reich. Aber was das beste Material war, darüber gingen ihre Meinungen auseinander. Dann rissen ihn sein eigener Schwung des Abstossens und eine Hand an seinem Jackenkragen herum und zu Boden. Perplex blickte er auf die Gestalt, die breitbeinig über ihm stand. Die künstlich silbergraue, einseitige Mähne wehte und ihre echt dunkelblauen Augen blitzten unter einem Filzhut, der breite Mund mit den vollen Lippen und dem fein modellierten Kinn lugte unter der riskanten Halbmaske auf den hohen Wangenknochen hervor, weil sie ihn auslachte.

    „Kriechst du jetzt vor Karl schon im Dreck, oder erweist du mir deine Ehre, oh Attackus?" Hekaterina hatte ihren Auftritt. Ihre verächtliche klingende, aufregende Stimme. Er rappelte sich hoch, zupfte seine Jacke zurecht und versuchte, mit ihren langen Beinen in den gewohnten Kampfstiefeln Schritt zu halten. Ihr Schutzmantel wehte verhöhnend vor ihm wie beim Stierkampf. Darunter trug sie einen… war das ein Taucheranzug? Im Winter war die Bioaktivität geringer, aber kein Badewetter. Eigentlich nie mehr.

    Hekaterina steuerte zielstrebig die grössten Neuankömmlinge auf der Insel an und rauschte nach kurzer Zeit mit ihren Erwerbungen davon, die ihr treu wie eine Strafkolonne folgten, ins Habitat der Starken, in dem Morley regierte. Der bildungsfernen Muskelmasse, wie AAA gerne spöttisch gesagt hatte, als er selber noch bei den Besten in Karls Zelt gewesen war, letztes Jahr. Er musste ihr hinterherschauen, weil nur wenige Menschen in Taucheranzügen so gut aussahen. Dann schaffte er es, das Mädchen und den Kurzen, einen Jungen, die sich immer noch gegenseitig festhielten, für seine Absteige der Zweitbesten in der Rangliste zu rekrutieren, krallte sich wahllos noch ein paar verlassen Dastehende, und zog auch ab. Die Spreu würde sich erst später vom Weizen trennen. Er wollte raus aus diesen Klamotten, wieder frei atmen unter der Schutzkuppel.

    Einige blieben am Strand zurück, sie würden hoffentlich ihren Weg in eines der mittelmässigen Habitate finden, deren Chefs dauernd wechselten und von denen nur noch einer zur Strandparty der schlechten Laune erschienen war, um Flowers abzuholen. Nein, auszuwählen, damit sie das Team in den Wettbewerben am wenigsten schwächten. Alle wollte er nicht kennen. Alle konnte niemand retten. AAA realisierte, dass er schon dachte wie die verhassten Tester der Erwachsenen.

    Als er die nach dem Adrenalinkick geknickten neuen Flowers in seine Habitatkuppel lotste, fiel AAA wieder unangenehm auf, dass er seit der letzten Habitatsumteilung zu seinem Leidwesen auch in eine Leitungsfunktion gerutscht war. Nicht wegen guter, sondern wegen nachlassender Leistungen. Chef von Habitat 2, die Nummern und jungen Insassen wurden nach unerbittlichem Leistungsranking absteigend verteilt von der Lagerleitung. Das hatte er nie gewollt. Andererseits musste er sich nun nicht dauernd mit dem grossen Karl vergleichen lassen, der die Punktebesten mit einer Selbstverständlichkeit anführte, als sei er dazu geboren, und keinen Anlass sah, damit prahlen zu müssen wie ein gewisser Gorilla und seine Lady.

    Gut, Karl hatte seine Fähigkeiten, und war körperlich gut entwickelt, um es mit Morleys Truppen aufzunehmen - und um von den Mädchen umschwärmt zu werden. Aber der Typ nervte einfach, genau wie seine ein Jahr jüngere Sis Elvissa, sein Kommunikations-Fachgirl, die sehr souverän wirkte, aber ein totaler Komplexhaufen war, seiner Einschätzung nach. Und nicht zu vergessen, war er nun wieder mit Lilula vereint. 2:1 für den Abstieg.

    Die Wiedervereinigung mit seiner bereits ein Jahr zuvor herabgestuften Freundin seit Anbeginn ihrer gemeinsamen Lagerzeit bereitete AAA allerdings nicht nur Freude, sondern zunehmend Sorgen. Lilula war zwei Jahre vor ihm auf Morphos in die Pubertätsquarantäne geworfen worden und damit überfällig für den Übertritt in Lager 2. Sie hatte ihn aufgepäppelt nach der traumatischen ersten Erfahrung der Aufnahmeprüfung ins Insellager, der gerade wieder durchlebten Meeresarmquerung. Bei ihm war es allerdings etwas später im Frühling gewesen, in einem Hoch der Bioaktivität nach der Schneeschmelze. Er hatte es mit einer aufblasbaren Matratze aus seinem gut gefüllten Rucksack geschafft. Ein anderer, der es mit Schwimmen versucht hatte, war dagegen regelrecht aufgefressen worden. Wenn diese Algen und Mikroben einmal ein Opfer gewählt hatten, schrien sie ihren Triumph chemisch hinaus und alarmierten so ihre Millionen von Verwandten. Kommt her, hier ist das angezählte Fressifressi. Eine etwas andere Ethik als bei den vom Aussterben bedrohten Menschen, wo jeder für sich zu kämpfen lernte. Aber auch nicht wirklich sympathischer. Ausser Lilula, die eine einzige Wärmequelle für die geschundenen Kinderseelen war. Und die als einzige seine Zweifel zu verstehen schien, an der ganzen Übung und an sich selbst. Die ihn nicht einfach als Reichensöhnchen ansah und bestenfalls von seinen heimlichen Verbindungen zur Familie profitieren wollte. Die Hoffnungen in ihn setzte und ihn interessierte, weil sie anders dachte als die Geschlechtsbessessenen. Er vermisste ihre Liebkosungen.

    Lilula stand schon vor dem Habitat, ganz ohne Schutz. Das war einer der Aspekte, die ihn beunruhigten. Sie schien sich nicht mehr vollständig im Griff zu haben und lebte lieber in ihrer reichhaltigen Gedankenwelt als in der feindseligen, aber realen. Er scheuchte die Neulinge durch das Eingangstor mit ihrem neunmalklugen Motto „2 ist grösser als 1"„ und legte seine Hand auf den mageren, knochigen Rücken seiner grossgewachsenen besten Freundin, die er über alles mochte…liebte, schätzte?

    „Hej Lil". Nur ein dunkler Blick. AAA wurde unsicher. Wie auf der Suche nach Bestätigung liess er seine Hand etwas weiter nach unten rutschen. Da war noch rundes Fleisch. Er wollte sie ja nur in Sicherheit bringen. Sie schlug ihm in Zeitlupe seine Hand weg mit einem tadelnden Blick und einem fatalistischen Trauerschleier darüber. Sie entzog sich ihm, wie oft in letzter Zeit, seit sie sozusagen wieder zusammen wohnten. Es gab zwar wie immer auch eine logische Erklärung, die verängstigten Jungs und Mädels mussten aufgenommen und versorgt werden. Das war Lilulas Domäne, zum Glück für AAA, der keine Ahnung hatte, was er mit den Flowers – diese Bezeichnung stammte auch von ihr und hatte sich im Lager durchgesetzt - hätte anstellen sollen, ausser sie auf einen Putzplan zu setzen und bei guter Laune bei den Hausaufgaben zu helfen. Er musste sich schliesslich als Chef strategisch auf die Tests vorbereiten, oder nicht?

    Strategisch unklug versuchte er, Liluala noch etwas quality time abzuringen, indem er sich neben sie stellte, als sie jedem einzelnen des Dutzends Frischlinge, die verloren direkt nach dem Habitatseingang stehengeblieben waren und energielos versuchten, ihre Schutzanzüge loszuwerden, eine innige Umarmung schenkte. Dazu musste sie sich bücken oder ging in die Knie. Das brachte seine mutierenden Hormone bereits wieder auf den falschen Pfad. Sie half Ihnen beim Anziehen der blauen Coveralls. AAA machte tapfer mit.

    „Lilula, hör mal. Wir sollten uns besprechen. Die anderen Älteren können doch hier weitermachen, sie kennen das ja. Die Flowers sind sowieso stehend K.O. für heute". Sie sah ihn zuerst nur an, ihre braunen Augen konnten schwarz und kalt sein. Sie liess ihn warten. Als er sich wieder zu Wort räuspern wollte, legte sie ihm die Hand auf die Schulter, eher um Abstand zu wahren als mit Zuneigung.

    „Mein Amateur, was ist? Mach diesen Moment nicht noch schwerer bitte. Die Neuen brauchen jetzt meine Energie und Liebe von uns allen. Sie war die Einzige, die ihn so nennen durfte. Nur lösten ihre letzten Worte in AAA gleich wieder den Widerstand gegen esoterische Sprüche aus, obwohl er wusste, was sie meinte, und dass sie recht hatte. „Tut mir leid, aber es wichtig. Auch wichtig. Natürlich nicht wichtiger als dein Empfang hier, aber...

    Sie fiel ihm ins Wort, das war selten. „Lass uns heute Abend sprechen, wenn alle versorgt sind, okay Chef?" Danach wies Mutter Lilula ihren Kinder mit ihrem alles überstrahlendem Lachen über riesigen weissen Zähnen den Weg zu den vorbereiteten Schlafplätzen und ihrem Essplatz, wo andere Helfer sie einwiesen.

    Also gut, gab AAA nach. La Lagrange war oft nachtaktiv. Er hatte gute Erinnerungen an ihre Gespräche unter dem Sternenhimmel. Obwohl es meistens bewölkt war. Als einige Nachzügler vor ihrem Habitat standen, machte er eine kleine Show daraus, diese herzlich aufzunehmen. Gewöhnt euch lieber gleich an das wahre, harte Leben, wollte er sagen. Aber er spürte Lilulas Geist auf sich und war nett, ausnahmsweise. Danach legte er sich zufrieden hin, nur für ein Stündchen.

    Tag 2

    Beinahe hätte er am nächsten Morgen, als er alleine in seinem Schlafsack erwachte, die wichtigste anstehende Aktivität vergessen. Diese fand im zentralen grossen Habitatsdom statt. Die sogenannten Zelte der Habitate waren durchsichtige, nur bei Regen schimmernde Polynanokuppeln, die im Innern ein menschenwürdiges Klima aufrechterhielten, mit leichtem Überdruck, um die ungebetenen, munter immer weiter mutierenden Kleinstlebewesen draussen zu behalten. Genauso wie die Insel des Übergangs ein Schutz der Gesellschaft der Zehntausend des Stadtturms von Dawkinsonia war vor möglicherweise gefährlichen neuen Mutationen in ihrem Nachwuchs, die sich seit einigen Jahrzehnten in der Pubertät zu zeigen begonnen hatten.

    AAA hatte miterlebt, wie andere Jugendliche krebsartige Wucherungen bekamen, oft um den Hals, und starben oder plötzlich massive Verhaltensstörungen zeigten und eines Tages aus dem Lager 1 verschwunden waren. Vorzeitig ausgeschieden. Niemand sprach darüber. Der Blick in ihren Augen, wenn die Gebrandmarkten realisierten, dass es soweit war. AAA schauderte. In solchen Momenten waren die Haustiere noch wichtiger als sonst. Und die Verteilung der Haustiere an die Neuankömmlinge stand an, er rappelte sich auf. Ein bisschen Trost. Möglichst pelzig. Die Auswahl war allerdings begrenzt, und natürlich durften die zuerst Gestrandeten auch zuerst wählen, das war das ewige Prinzip.

    Es irritierte ihn, als das beinahe ertrunkene Mädchen seine Hand nahm, ihr treuer Begleiter schnappte sich die andere Seite. Ihre Hand war trocken, seine feucht. Sie schwiegen scheu.

    „Wie heisst ihr zwei denn?" gab sich AAA einen Ruck.

    „Das da ist Tomislav, ich bin Anakin sagte das wahrscheinlich 12-jährige Girlie. Und, nach einigem Zögern, „Und du?

    Er musste lachen. „Nennt mich Triple A. Dann gingen sie wieder eine Weile. Die Insel war nicht klein. „Wenn ihr meinen Rat wollt, nehmt kein zu kuschliges Tier, auch wenn es euch schwerfällt. Vielleicht hat es gar keins mehr übrig, wenn ihr an der Reihe seid. Und falls es nicht gut rauskommt… Dann merkte er, dass die Kids noch gar nicht so genau wussten, was sie gleich erwartete. Oder doch? Sie schauten ihn entgeistert an, und liessen schliesslich seine Hand los. Der Wärmeabdruck ihrer Pfötchen verblasste und AAA fühlte sich nicht besonders, höchstens alt mit seinen 16 Jahren.

    Er trottete hinter seiner Schar her als Schlusslicht, Lilula ging gemessen elegant vorneweg. Von allen Seiten strömten die rund 90 Neulinge durch die gläsernen Tunnel ins Zentrum, wo die Lagerleitung schon mit den Armen in die Hüften gestützt bereitstand, um ihre Show der Liebenswürdigkeit abzuziehen, in unglaublich schlecht vorgetäuschten bequemen, sich an die Teenager anbiedernden Kleidern, die trotzdem wie eine Art Uniform aussahen, die sie im Alltag trugen. Wie sie alle, nur in verschiedenen Farbtönen. AAA war nun in ihrem blauen Coverall ohne seine Jacke unterwegs und trug drei weisse Streifen auf der Schulter für seine drei Jahre im Lager. Die waren fest angenäht, Abreissen bei Strafe verboten, wie er hatte feststellen müssen. Die Gleicheren unter den Gleichen mussten erkennbar sein und Vorbilder, als Ältere, als Chefs, als Gewinner der Wettbewerbe. Nichts lag AAA ferner. Das Spiel entschied sich im Kopf, nur dass es eben leider kein Spiel war hier.

    Coach Siegler mit seinen behaarten ärmellosen Unterarmen und seiner maskulinen Glatze stand in einer Manege aus Käfigen mit verschüchterten Tieren. Er hob die Hand und seine verstärkte Stimme hallte durch die dichte Luft unter der Kuppel.

    „Willkommen, liebe Kinder, willkommen im Namen der versammelten Leitercrew im Camping unserer Schule des Lebens auf Morphos. Die Kindheit habt ihr erfolgreich gemeistert, jetzt wartet das nächste grosse Abenteuer auf Euch. Strengt euch weiter an, und alles wird gut. Werdet zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft, die euch braucht. Eure Ideen sind gefragt, wir werden euch in den nächsten Jahren dabei helfen, sie zu finden. Strengt euch an, und ihr könnt in ein besseres Habitat aufsteigen. Wenn ihr faul seid, steigt ihr ab. So ist das Leben und die Regeln bei mir. Das Gute ist: Ihr werdet genügend Gelegenheit haben, eure Fähigkeiten zu beweisen und zu verbessern. Wenn ihr jemanden krank werden seht, meldet es uns. Wenn ihr ein Problem habt, kommt zu mir, ich bin euer Ohr und Vater. Ansonsten wendet euch vertrauensvoll an eure Habitatsleiter. Es kann hier schön sein wie in den Ferien. Es liegt an euch. Ich weiss, ihr seid noch etwas verwirrt und trauert vielleicht dem warmen Nest nach. Aber ihr seid zu gross geworden dafür. Wir sind keine Unmenschen und geben euch darum einen Partner, der euch bedingungslos lieben wird, wenn ihr ihn gut pflegt. Ich bitte nun diejenigen vorzutreten, deren Namen ich vorlese, und sich ihr Haustier auszuwählen. Wählt weise. Euer Tier wird euch begleiten bis ihr die Insel verlasst für euer Schlussprojekt, oder... Morgen beginnt dann die Schule, alles ganz normal. Macht mir keine Schande. Viel Erfolg, Glück ist überschätzt."

    AAA hörte den Vortrag zum 2. Mal, das erste Mal hatte er nicht hingehört. Als er sich unter den Kleinen umsah, sah er nur taube Ohren in trüben Gesichtern. Bürokratenquark.

    Die sogenannt guten Tiere gingen grösstenteils an die neuen Schützlinge von Karl und verstärkten die Fraktion der Hundeliebhaber. Karls irischer Wolfshund Ira sass neben ihm, fast gleich gross und so cool wie sein schmuckes Herrchen, und das wollte etwas heissen. Und hechelte, wie es Hunde eben so taten. Elvissa liess ein konzentriert lächelndes Mädchen auf ihrem geschenkten Minipony zurückreiten. AAA wollte und konnte sich keine solchen Sentimentalitäten leisten. Er dachte an seinen Raben, Hugimugi. Kein Kuscheltier, ein schlauer Opportunist, sehr lernfähig. Dieser Hugo pickte ihn immer, wenn er ihn anfassen wollte, also liess er es. Wenn er das Bedürfnis nach Steicheln hatte, aktiv und passiv, ging er zu Lilula, die einen Lemur hatte. Sehr feiner Pelz, aber nicht sehr erwidernd in seinen Reaktionen. Grosse Augen, die gut in der Nacht sahen. Das passte. Stimmung kam hier nicht auf, dafür war der Schock zu gross.

    Aber er erinnerte sich nur zu gut, dass er einmal den vermeintlich Anerkennung bringenden Vorschlag gemacht hatte, als er neu ins beste Habitat zu Karl gekommen war, eine Haustiertauschbörse einzurichten. Seither war er als derjenige inselbekannt, der gar nichts von Gefühlen begriff. Das war Rufmord. Bonding nannte sich das in der Wissenschaft. AAA hatte gedacht, das gelte nur für Graugänse und andere schlüpfende Küken. Aber die zum Wachsen verdammten Kids klammerten sich ebenso gerne an ihre Leguane und Schildkröten.

    Als ob er seine Gedanken gehört hätte, nickte Karl ihm zu, als seine Jungflowers vorbeizogen. Elvissa dahinter lächelte superfreundlich. Was für nette Leute. Morley war auch hier wieder nicht erschienen, Hekaterina dafür heute mit ganz viel nackter Haut, die sie vor den männlichen Lagerleitern spazieren führte. Das ungeschriebene Gesetz musste sie nicht wiederholen, es hatte sich wie von selbst verbreitet: Tiere wie Ratten und Schlangen waren für Morleys Habitat reserviert. Es genügte, dass die mehr als selbstbewusste Hek ihre Ratte namens Pest auf ihrem Nacken herumtigern liess, als Warnsignal zur Erinnerung. Vielleicht half auch die grausliche tätowierte Rattenfratze mit aufgerissenem Maul und zugespitzten Zähnchen rund um ihren Bauchnabel, das Stammestotem.

    Einmal hatte sie ihm ungefragt offenbart, dass sie das rumwieseln der Ratte unter ihren Haaren erregte, was wiederum ihn… er suchte nach einem Abtörner. Alles evolutionsbiologisch bedingt! Oder Psychologie? Morley hatte seinen Hamster am ersten Abend zerdrückt. Er wolle nicht im Rad anderer laufen und das auch niemanden zumuten. Das hatte Eindruck hinterlassen. Von einem Kerl, der an die hundert Kilo zu wiegen schien, nicht weil er fett war, das auch, aber seine aus den Poren seiner olivgrünen Haut triefende Kraft und Gewaltbereitschaft reichte, dass die meisten vor ihm kuschten. Nicht alle. AAA wusste, das ist einfach ein überdurchschnittlich gelangweilter Mittelklassejunge, der sich hier aufspielte.

    AAA gab sich Mühe, sich mit seinen Anvertrauten über ihr neues persönliches Tierbaby zu freuen, auch wenn es schuppig und kalt war statt pelzig und warm. Nur Tomi hatte eine Katze ergattert, ein kratzbürstiges rot-weisses Riesenvieh, das wohl aus dem Tierheim stammte. Die Zuneigung der Getrösteten war nicht von solchen Äusserlichkeiten abhängig.

    Zumindest waren die Kids, und damit sie alle, jetzt eine Weile beschäftigt. Käfige, Entschuldigung, Nester und andere tiergerechte Plätzchen mussten gebaut werden. Eher für die eifersüchtigen Pflegeeltern, die Tiere wären lieber frei rumspaziert. Wie die Katze von Tomi, die ihn beobachtete. Sie würde sich selber einen Schlafplatz suchen, wenn sie soweit war. AAA half Anakin, eine alte Holzkiste herzurichten als Gehege für ihre Landschildkröte, die sich nicht blicken liess aus ihrem Panzer. Als sie die Kiste zu bemalen begann schlich er sich davon, „muss noch viele Sachen erledigen".

    Holz musste er nicht sammeln, in den Habitaten war es angenehm warm, die Energieeffizienz der Kuppeln war genial. Mit toten Baumaterialien kannten sie sich aus. Lebendem stand die erwachsene Gesellschaft der Überlebenden äusserst skeptisch gegenüber, was verständlich war. Man brauchte nur einen Spaziergang ausserhalb der schützenden Hüllen zu unternehmen, es würde der letzte sein. Darum war es um die Artenvielfalt hier schlecht bestelllt, die ganze Insel glich eher einer trockenen Wüste, das war sicherer.

    Durch die Augen der frisch hierher Verstossenen kam ihm die Anlage wie eine Mischung aus Sommerferiencamping und Flüchtlingslager vor. Beides kannte er aus den historischen Dokumentarfilmen, die ihnen gezeigt wurden. Es war keine hundert Jahre her, als es noch sehr viel mehr Menschen gegeben hatte. Die einen, wenigen so reich, dass sie sich Ferien leisten konnten und darin oft und gerne zurück zur Natur wollten, aus heutiger Sicht total unverständlich, und einfach leben wie eben auf einem Campingplatz. Wie hier auf den ersten Blick, wenn man nicht auf dieselbe Weise ankam wie gestern die neue Welle. Die anderen arm, vertrieben oder gestrandet. Mit schwindender Hoffnung auf ein besseres Leben. Aber es gab Chancen, hörte er eine innere Stimme, die er nicht wegwischen konnte. Hatte sie nicht recht? Das Lager war nur eine Phase, allerdings eine lange. An den Schmerz gewöhnte man sich schnell.

    Der Basic Food wurde angeliefert aus der Luft, abgeworfen vor den Kuppeln. Sie mussten es nur noch einweichen mit sterilisiertem Wasser aus dem Werk unten am Meer. Das erledigten die wenigen Robos, die ihnen hier genehmigt wurden. Yummie. Getrocknete Algen und Plankton, oder analoge synthetische Nähstoffe appetitlich effizient zusammengepappt. Es war allerdings nicht verboten, selber tätig zu werden um die Menükarte zu erweitern. Darum hatten alle Habitate einen Garten angelegt. Aber nicht alle hatten eine Gartenmeisterin wie Lilula. Grüner Daumen war stark untertrieben. Was sie anfasste, wuchs und blühte in Kürze aufs Schönste und brachte frischen Geschmack und abwechslungsreiche Würze auf ihre Teller. Also suchte er dort nach ihr. Ein Schwall Blut war ihm in den Kopf geschossen als ihm wieder einfiel, dass er sie gestern Abend versetzt hatte. Das versprach ein längeres Prozedere zu werden, bis eine wie sie ihm vergab. Fast freute er sich darauf.

    Er fand sie dann aber erst bei den Zelten der Neuen. Deren Schlafkojen waren noch wenig mit persönlichen Gegenständen geschmückt. Woher auch? Gut, der eine oder die andere hatte etwas aus dem Rucksack mitgebracht, eine plüschige Erinnerung an die Kindheit, in die die Pubertierenden gerade wieder zurückwollten. Die Schlafgruben erinnerten AAA an angefangene Gräber. Immerhin musste hier niemand Angst haben vor Ungeziefer, es gab keines.

    Sie schwatzte mit einer Gruppe von Nullern, wie die Erstjährigen im Lager auch hiessen. Null Wert, kosten nur. Die weise Lilula investierte Zeit. Sie würde es nur nicht so nennen. Er sah ihr eine Weile vom Eingang des grossen Zeltes her zu. Sie beachtete ihn nicht. Diesmal würde er sich nicht dazwischendrängeln. Seine Gefährtin durch harte Zeiten wuschelte durch fettige struppige Haare und liess die Jüngeren ihre lustigen, aufwändig gezwirbelten Kraushaarzöpfchen betasten. Sie summte ein Liedchen, in das bald alle einstimmten.

    Irgendwann fand sich AAA doch neben ihr hockend wieder und eine Weile waren sie wie eine kleine heile Familie. Ein Jugendlicher hatte starke

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