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Blechbrezel
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eBook329 Seiten4 Stunden

Blechbrezel

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Über dieses E-Book

"Blechbrezel, knurre für mich. Spiel Beethoven!"
Der Weihnachtsmann existiert! Das ist eine ungeheure Behauptung.
Auf der Suche nach der Wahrheit und angespornt von den Schriften eines geheimnisvollen Manuskriptes, dringen Tassilo und seine Freunde tief in den Bauch der Mutter Erde ein, wo zahlreiche Gefahren auf sie lauern. Überleben oder Sterben? Im ultimativen Kampf gegen böse Mächte ist ´Blechbrezel` das Zünglein an der Waage. Dies sind die rasanten Abenteuer des jungen Tassilo, der den Mut besitzt, einer höchst unglaubwürdigen Geschichte Glauben zu schenken.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Dez. 2017
ISBN9783742762825
Blechbrezel

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    Buchvorschau

    Blechbrezel - Christopher L. Ries

    Ein Gerücht

    Zentraleuropa, irgendwo im Nirgendwo.

    Am Anfang stand ein Gerücht. Der Wind trieb es vor sich her, scheuchte es durch Täler, über Bergkuppen und über die vom Schnee weißen, bewaldeten Hänge. Es irrte solange umher, bis es uns Menschen erreichte. Es gäbe da einen uralten Tunnel, flüsterten die Winde uns zu. Kühl, dunkel und tief versteckt im Bauch der Mutter Erde sollen weder der Moder noch die Feuchtigkeit ja nicht mal Väterchen Frost ihm je etwas anhaben können. Aus diesem Gerücht entstand im Laufe der Jahrtausende eine Legende. Sie besagt, dieser Tunnel beherberge schrullenhafte Kreaturen. Millionen an der Zahl und von diversem Gemüt verfügen sie angeblich über magische Kräfte. Über Kräfte, die nur dem Zweck dienen, ein Geheimnis zu behüten, das so alt ist, wie der Mensch zurückdenken kann.

    Steven

    Reykjavík, (Island). 24. Dezember, kurz vor einundzwanzig Uhr.

    »Steven ... Steeeeeven! Herrgott noch mal, wo hat sich dieser Nichtsnutz bloß wieder verkrochen?«

    Mary Bloomfield war in zweierlei Hinsicht wütend. Auf die anderen, weil niemand ihr antwortete und weil das so gar nicht ins Bild ihrer perfekten Welt passte. Und auf sich selbst, weil sie es eben diesen Menschen erlaubte, ihre perfekte Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen zu lassen. Steven. Alles war seine Schuld! Er war die Quelle des Übels. Er war durch und durch schlecht. Er allein und davon war Mary felsenfest überzeugt, hatte direkt mit ihren längst ergrauten Haaren, mit ihrem Magengeschwür und ihren ständig schwankenden Launen zu tun. Steven war nicht wie sie. Genau das war der springende Punkt. Perfektionismus, Eifer und Zielstrebigkeit hatte Mary in ihrer Kindheit schon mit dem Löffel gefressen. Sie verachtete Nachlässigkeit und Dilettantismus und erklärte Allen und Jeden den Krieg, die nicht ähnlich dachten. Worte wie Flexibilität und Herzensgüte gab es in ihrem Lexikon nicht, selbst für schräge Ansichten wie die Fünf mal gerade sein lassen hatte sie nur ein müdes Lächeln übrig, obwohl: Mary Bloomfield lächelte nie! Träumer, rosa Sockenträger, Tollköpfe und Luftikusse wie dieser Steven Easterling, waren ihre erklärten Feinde. Und Feinde bekämpfte sie nach allen Regeln der Kunst. Auch in ihrer Eitelkeit war Mary gekränkt. Das hatte einen guten Grund. Es war Weihnachten und den ganzen Tag über hatte niemand auch nur ein einziges Wort darüber verloren, wie exzellent sie es wieder einmal geschafft hatte, alles für diesen wichtigen Anlass vorzubereiten. Rote Flecken als Zeichen der nicht genährten Eitelkeit im Gesicht, ließ sie ihren Blick über die von ihr angerichtete Tafel gleiten. Wie üblich hatte sie nichts dem Zufall überlassen. Nichts dem Zufall zu überlassen war ihre Stärke. Und genau das war Garant für das hohe Ansehen, das sie genoss. Nach fünfundzwanzig Jahren im Hause der Bertelsens konnte sie immer noch nach ihrem Gutdünken als Küchenchefin schalten und walten. Rare Delikatessen aufzutischen war für sie eine ganz besondere Herausforderung, doch dieses Mal hatte sie sich selbst übertroffen. Es gab Gänseleberpastete foie gras d‘oie, auf mit in Knoblauch angeröstetem Baguette; über brennenden Cognac flambierte Langusten, angerichtet mit indischem Reis, diesen wiederum beträufelt mit einer Spur ihrer Soße á la M. Bloomfield (sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als ihr Rezept preisgeben); schwarze Trüffel aus dem Périgord und als Nachtisch ihr absolutes Meisterstück: Mousse au Chocolat! Von dem konnten die Bertelsens nie genug bekommen. Mary Bloomfield könnte mit sich selbst zufrieden sein und sich auf die Schulter klopfen, stünde sie nicht vor einer Tatsache, die sie als einen gegen sie geschmiedeten Komplott bezeichnete. Zwei Schalen mit ihrer sündhaft leckeren Mousse au Chocolat waren, wie sie zu ihrem Entsetzen feststellte, spurlos aus der Kühltruhe verschwunden. Kaum diese fürchterliche Entdeckung gemacht, trommelte sie unverzüglich ihren gesamten Küchenstab zusammen. Nicht mal zwei Minuten nach ihrem Befehl, in der Küche zu sammeln, stand das Personal vor ihr stramm. Na ja, fast.

    »Wo ist Steven?«

    Ihre Worte waren an alle gerichtet, doch sie starrte unentwegt auf Gudrun, Stevens Ziehmutter. Bleich und winzig, schüttelte diese nur den Kopf. Steven war, wie konnte es anders sein, wie vom Erdboden verschluckt. In Marys Augen kam sein Verschwinden einem Schuldbekenntnis gleich.

    »Ich möchte ihn haben und das AUF DER STELLE!«

    Schweigen.

    Diese ´Auf der Stelle` war eine Wortkonstellation wie Mary sie nur einmal alle zehn Jahre gebrauchte. In der Küche roch es nach Gänseleberpastete, nach Mord und nach Totschlag. Als niemand ihr antwortete, stapfte Mary mit einem Bein so fest auf den Boden, dass sämtliche Küchengeräte zum Eigenleben erwachten und der Korken einer nahestehenden Champagnerflasche wie ein nervöses Raketengeschoss der Neonröhre zwei Meter über ihren Köpfen einen Besuch abstattete. Johansson, der dicke Koch, räusperte sich. Das tat er immer, bevor er das Wort ergriff. Er war nur etwa halb so groß wie Mary. Innerlich aufgewühlt fummelte er an seiner schmuddeligen Schürze herum. Dabei bedachte er Gudrun mit einem kumpelhaften Augenzwinkern, wagte es aber nicht, Marys Blick zu begegnen. Gudrun erwiderte das Zwinkern und stieß heimlich ein Stoßgebet zum Himmel. Sie wollte Johansson warnen, doch zu spät. Beherzt trat dieser einen Schritt nach vorne.

    »Und wenn es diesmal nicht auf Stevens Mist gewachsen ist?«, fragte er und betrachtete dabei den blank polierten Küchenboden. »Fräulein Bertelsen hingegen«, so fuhr er etwas mutiger fort, »schlich den ganzen Morgen über in der Küche herum. Jeder von uns kennt ihre Vorliebe für Schokoladenpudding und ... «

    Mary erblasste. »Schokoladenpudding?« Ihre Augen verschossen Blitze in Johanssons Richtung. »Du nennst meine Mousse au Chocolat SCHOKOLADENPUDDING?«

    Ihre Stimme bebte, ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich, blutleer und kalt. Sie hatte den Großteil des gestrigen Tages nur damit verbracht, an der Mousse au Chocolat herumzutüfteln, sie zu verfeinern und neue Geschmacksnoten mit einzubringen. Und nun nannte dieser Schmuddelkoch ihr Werk ganz banal Pudding? Gudrun, die Steven vor Mary immer in Schutz nahm, konnte sich gerade noch ein Grinsen verkneifen. Sie hatte Steven vor neun Jahren im Mülleimer vor dem Haus gefunden. An einem Ostermontag, wohlgemerkt. Deshalb auch sein Name. Easterling. Es war eine Mischung aus Ostern und Findling. Das … ling am Ende des Namens sollte auch ein Fingerzeig dafür sein, wie winzig er in Wirklichkeit war, doch egal. Gudrun hatte es irgendwie geschafft, dass er im Hause bleiben konnte. Sie selbst war kinderlos und sah in Steven einen Wink des Schicksals, Gottes Werk, wie sie es auch nannte. Doch schon von Anfang an lief alles schief. Mary, ebenfalls kinderlos, hasste Steven. Sie wünschte Gudrun heimlich zum Teufel, weil sie es gewagt hatte, sich über ihren Kopf hinweg bei den Bertelsens für Steven einzusetzen. Wäre er doch nur im Mülleimer erfroren, so dachte sie heimlich. Steven war in der Tat ein winziges Baby. Das änderte sich auch nicht, als er mit neun Monaten seine ersten Gehversuche absolvierte. Ab diesem Zeitpunkt begann für ihn die Hölle auf Erden. Verschwand etwas im Haus, gab Mary ihm die Schuld. Als ob ein Kleinkind das zwanzig Kilo schwere Reserverad des in der Garage stehenden Volkswagens gestohlen haben könnte. War das Essen versalzen oder verzuckert, Steven musste dafür den Kopf hinhalten. Zerbrach ein Glas oder ein Krug, schaute man erst in allen Ecken nach, ob nicht Steven in der Nähe war. Vor allem die langen Winternächte waren die Hölle für ihn. Also schrie er. Er brüllte acht Stunden am Stück, brüllte, wie eben nur in Mülltonnen gefundene Babys es konnten. Seine Schreie waren so laut, dass die Hausherren davon wach wurden. Die Bertelsens hatten natürlich nichts Besseres zu tun, als Mary dafür gehörig den Marsch zu blasen. Mary wiederum ließ ihre Wut an Gudrun und an Steven aus. Es war ein Teufelskreis, bei dem keiner so richtig glücklich wurde. Und so ging es all die Jahre hindurch, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Woche für Woche. Mit Fünf schuftete Steven wie ein Ochsenknecht in der Küche. Man hatte es ihm angewöhnt, unterwürfig zu sein. Er musste für jede Kleinigkeit bitten und betteln, durfte nur dann das Wort zu ergreifen, wenn er gefragt wurde.

    Schule?

    Ja!

    Umgang mit anderen Kindern?

    Mary hatte darüber gelacht, als Gudrun es einmal gewagt hatte, zu laut darüber nachzudenken. Freunde hatte Steven nur einen. Zufall und etwas Glück helfend, fand er im Müll der Nachbarn eines Tages eine arg verbeulte Trompete. Er nannte sie Blechbrezel.

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    Sie in der Hand, schlich sich sein Faible für Musik auf leisen Sohlen in sein Gemüt. Die Liebe, die Steven der gold- und messingfarbenen Trompete entgegenbrachte, musste niemand begreifen. Sie war da. Spontan. Unwiderruflich! Johansson half ihm dabei, Blechbrezel wieder den Glanz besserer Tage zu geben und ihr erneut die ´soulige Seele` einzuhauchen, die sie vor Jahren wohl besessen haben mochte. Die Trompete wurde geschmiert, poliert, gehätschelt und liebkost und kurz darauf entlockte Steven ihr Töne, die zwar alle hören, doch die nur er wirklich verstehen konnte. Zusammen mit Blechbrezel erfand er Melodien, die sie beide, obwohl für andere schauerlich, von einer besseren Zukunft träumen ließen. Natürlich stand es ganz außer Frage, dass Steven im Haus spielte. Das hätte Mary nie zugelassen. Und so flüchtete er sich ein- oder zweimal die Woche in den nahen Wald. Dies geschah immer an den Tagen, von denen er wusste, dass Mary frei hatte. An ihren freien Tagen fuhr sie nämlich zu ihrer kranken Mutter ans andere Ende der Stadt. Die Stunden mit Blechbrezel waren die einzigen, die Steven ausgeglichen und glücklich verbrachte. Doch Mary schien richtiggehend darauf gedrillt zu sein, ihm Glück anzusehen und es zu zerstören. Mary jedenfalls, bekam Wind von der Liebesgeschichte und bereitete ihr ein Ende, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Sie nahm Steven Blechbrezel weg und schloss sie in ihr Zimmer ein. Ein Punkt mehr für Mary Bloomfield. Einen Schritt näher an die kommende Katastrophe für Steven. Kurz darauf, es war letztes Jahr zu Weihnachten, hatte Stevie dann zum ersten Mal versucht, sich das Leben zu nehmen, doch das stumpfe Küchenmesser spielte da nicht mit. In der Küche hatte es danach ausgesehen wie in einer Schlachtstube. Was für eine Sauerei, war Marys einziger Kommentar. Aufwischen musste er diese Sauerei natürlich selbst. Auf Knien kriechend und mit blutigen Verbänden an den Handgelenken hatte er den Küchenboden solange geschrubbt, bis sein eigenes Blut Schnee von gestern war. Irgendwann im gleichen Jahr geschah es dann. Stevie setzte zum ersten Mal eine Art Hilferuf in Form eines zweiunddreißig Seiten langen Briefes auf. SOS an den Weihnachtsmann stand auf dem blütenweißen Umschlag. Einen bunten Weihnachtsbaum hatte er oben rechts darauf gemalt. Anstelle der Briefmarke, wie er dachte, taugte dieser gut. Er hatte vorher schon mal einen solchen Brief aufgesetzt. Das war kurz vor seinem Selbstmordversuch. Naiv wie er war, hatte er diesen dann einfach auf die Kommode im Flur gelegt. Er landete natürlich im Mülleimer. Beim zweiten Brief ging er dieses Risiko nicht ein. Irgendwann Ende November und kurz vor dem ersten Schnee, befestigte er den Brief direkt an die Ziegeln des Hausdaches direkt neben seinem Fenster im Dachgeschoss. Nächtelang wartete er gespannt, schielte bis weit nach Mitternacht vom Bett aus zum Fenster hinüber, harrte fast schon verkrampft auf ein Wunder. Eines Tages wurde sein Warten belohnt. Eine Eule, schneeweiß mit schwarzen, flauschigen Punkten auf ihrem Gefieder, landete mit einem kaum hörbaren Plopp genau neben seinem Manuskript. Ihre Augen funkelten wie Kohle, ja wie zwei von innen heraus glühende Kohlestückchen. Ein stummes Versprechen lag in diesen Feueraugen. Das war nie im Leben nur eine Eule, sagte sich Stevie. Er war von ihr fasziniert. Bevor sie, den Brief im gelb verhornten Schnabel, wieder davon flog, zwinkerte sie ihm aufmunternd zu und verschwand damit auf nimmer Wiedersehen. So blieb es dann auch … auf nimmer Wiedersehen! Stevie war enttäuscht und erleichtert gleichzeitig. Enttäuscht, weil sich die Eule in den kommenden Tagen gar nicht mehr blicken ließ. Erleichtert, weil er tief in seiner Seele wusste oder zumindest ahnte, dass er sie dennoch irgendwann wiedersehen würde. Die Zeit verging, Steven wurde älter und es kam der Tag, an dem er alles längst wieder vergessen hatte. Blechbrezel, die Eule, den Traum vom Weihnachtsmann … einfach alles! Hinzu kam, dass Mary ständig zu sagen pflegte: Weihnachtsmänner gibt es nur für (perfekte) anständige Kinder, nicht etwa für Bastarde. Weihnachten und den Weihnachtsmann kannte Steven also nur aus Büchern. Und von dem natürlich, was Gudrun ihm davon erzählte. Außerdem hatte Johansson ihm damals versichert, dass es in dieser Gegend längst keine Eulen mehr gab. Vor allem keine Schnee-Eulen, deren Augen wie Kohle glühten. Sicherlich hatte er die ganze Sache nur geträumt, na schöne Bescherung! Gudrun hatte sich oft schon überlegt, ob sie nicht das Haus verlassen sollte, doch Gott hatte ihr zu viele Handicaps in die Wiege gelegt. Ihr fehlte jegliches Selbstbewusstsein. Sie war weiterhin, um bei der Wahrheit zu bleiben, klein, nicht gerade zierlich und hässlich noch obendrein. Um den Kreis rund zu machen, hatte sie nie in ihrem Leben ein Schulgebäude von innen gesehen.

    Mary Bloomfields krächzende Stimme riss Gudrun aus ihren düsteren Überlegungen.

    »Du wirst mir diesen Bastard finden. Wenn nicht ... «

    Gudrun ahnte, was dann passieren würde. Die Narben auf ihrem Rücken sprachen Bände. »Ja, Frau Bloomfield. Ich werde ihn finden und dann zu Ihnen bringen«, antwortete Gudrun, bevor sie geduckt von dannen schlich.

    Am Abend dieses Tages sah Stevie wieder gespannt zum Fenster hinaus. Nicht etwa wegen der Eule oder wegen dem Brief. Das alles war Vergangenheit. Es gab da einen anderen Grund. Er glaubte zu wissen, dass heute schon wieder Heiligabend war. Bei Mary hatte er es sich rasch abgewöhnt, täglich auf den Kalender zu schauen. Ein Tag glich dem vorausgegangenem, wie ein Haar dem anderen. Ob Ostern, Weihnachten oder Geburtstag, alles war eine trübe Suppe, grau in grau. Vom Dachfenster aus beobachtete er die glitzernden, bunten Lichter, hinter den mit Reif beschlagenen, benachbarten Fensterscheiben. Der Geruch von gebackenen Äpfeln, von Zimt und frischen Marzipan schlug ihm verlockend entgegen. Irgendwo zwischen den Lüften hing der Duft einer gebratenen, gefüllten Gans. Steven musste seine Augen nicht schließen, um zu träumen. Er sehnte sich nach der Harmonie einer intakten Familie und danach, endlich mal den Weihnachtsmann zu sehen. Vielleicht, aber diese Frage konnte Stevie nur sich selbst beantworten, suchte er an diesem Abend im Unterbewusstsein nach einer Vaterfigur, hielt Ausschau nach jemandem, zu dem er aufschauen konnte, bewundernd, stolz, sich geborgen fühlend! Wieder blickte er durch die von außen angefrorenen Fensterscheiben, sah die Nachbarskinder, die, herausgeputzt und mit glänzenden Augen, Vater und Mutter an der Hand aus der Kirche strömten. Auch Stevens Augen glänzten feucht. Weihnachten! Es war in der Tat ein magisches Wort für den kleinen Stevie.

    Ein Weihnachtsmann, noch dazu ein echter?

    Nicht auszudenken, wenn es so etwas wirklich für ihn gäbe!

    Vielleicht, eines Tages …

    Oder war‘s doch alles nur Humbug?

    Er wandte sich vom Fenster ab und wünschte sich weit weg von hier, weit weg von dem Ort, an dem …

    Krchztttt.

    Das kratzende Geräusch kam vom Dach genau über ihm. Es hatte sich angehört, als wäre ein Flugzeug darauf gelandet. Doch was wusste Stevie schon von Flugzeugen? Vielleicht war es auch nur Babbles, sein schwarzer Kater. Doch der, so stellte er mit einem Seitenblick fest, lag träge unter seinem Bett und leckte sich genüsslich die weißgetupften Samtpfoten. Plötzlich klopfte es an der Scheibe. Es war so ein dumpfes trockenes tock, tock, tock. Steven zögerte einen Augenblick. Hoffnung schüren, das wusste er nur allzu gut, ging meist ins Auge. Aber trotzdem. Was wäre, wenn der Weihnachtsmann wirklich existierte? Was, wenn er es war, der ungeduldig irgendwo dort draußen auf ihn wartete.

    Niemals!

    Aber, was hatte er schon zu verlieren?

    Ungeschickt und mit einem dicken Kloß im Hals öffnete Steven Easterling schließlich das Fenster.

    Das mathematische Genie

    Von den Bergen her wehte ein kalter Wind. Noch schneite es nicht, doch das war sicher nur eine Frage von Tagen. Geldersbuch lag in einem Tal, das, eingekesselt von gleich vier Dreitausendern, nur selten die Sonne sah. Im Winter dauerten die Sonnentage fünf oder sechs Stunden und schon herrschte wieder Dämmerlicht. Wie das Wetter, so war auch das Gemüt der hier lebenden Menschen.

    »Rumtreiber, Tippelbruder!«

    Sie betrachteten ihn, als käme er vom Mars. Tobias, der Anführer der Bande, war ein rothaariger Angeber, ein Snob, der seine Esprit Baseballkappe ständig falsch herum auf dem Kopf trug. Auf der Frontseite der Kappe hatte er ein rundes Abzeichen drauf genäht, auf dem ein blutrotes T vor hellem Hintergrund zu sehen war. Er trat einen Schritt auf Tassilo, den Zigeuner, zu. Auf den Zehenspitzen wippend, sagte er: »Du stinkst und ich möchte wetten, dass Flöhe und Läuse auf deinem Kopf Samba tanzen.«

    »Rumba«, erwiderte Tassilo trocken.

    »Was?«

    »Meine Läuse. Sie tanzen Rumba, nicht Samba.«

    Einige Kinder lachten, die Mitglieder der Bande zogen lange Gesichter und Tobias, sein iPhone-7 in der Linken, kriegte den Mund nicht mehr zu. Hatte sich der Zigeunerjunge tatsächlich an ihn gewandt?

    »Ich an deiner Stelle würde mich vorsehen. Läuse auf‘m Kopf ist wie Friedhof um halb zwölf.« Daraufhin hielt er Tassilo ein sorgfältig zusammengefaltetes Blatt Papier unter die Nase. »Hör zu. Ich will, dass du diesen Wisch vor versammelter Klasse vorliest. Kapiert? Und zwar Morgen, in der Mathestunde.«

    Tassilo kniff die Augen zusammen. Instinktiv wollte er klein beigeben, doch diesmal siegte seine Neugier über die Vorsicht.

    »Nein«, sagte er resolut. »Ich sehe mich nicht als dein Handlanger, Tobias.«

    In den Reihen der Bande entstand Bewegung. Tobias Freunde wurden unruhig, sie wollten Taten sehen. Mit einem unauffälligen Seitenblick versicherte sich Tobias davon, dass sie noch hinter ihm standen und krempelte dann langsam die Ärmel hoch.

    »Du hast es so gewollt, du verdammter Zehenzwischenraumabtrockner.«

    Tobias war als Schläger bekannt. Seine Opfer, allesamt schwächer und kleiner als er, konnten ein Lied davon singen. Als Tassilo die Entschlossenheit seines Gegenübers spürte, verkrampfte sich sein Magen. Sein Vater, der ihn einst in die Kunst des Überlebens der ´Reisenden Leute` eingeweiht hatte, pflegte zu sagen: Kämpfe nur, wenn die Aussicht besteht, den Kampf auch zu gewinnen. Tassilo hob ebenfalls beide Fäuste. Er war sich nicht sicher, gewinnen zu können, hatte es aber satt, ständig vor Tobias davonzurennen. Von weitem hörte er den Schrei einer Eule, was ungewöhnlich war zu dieser Tageszeit. Irgendwo bellte ein Hund.

    Ja. Sie würden es austragen. Hier und jetzt.

    Tobias Grinsen wurde breiter. »Na also. Sonst rennst du immer davon wie ein Wiesel. Hast wohl heute deine Nike nicht an?« Er zog den Kopf zwischen die Schultern und setzte sich in Bewegung.

    »Tu das nicht, Tobias!«

    Alle Köpfe flogen herum. Erstaunt. Gespannt. Irritiert. Die Gestalt des Mädchens wirkte winzig. Angst ein Fremdwort, fegte sie wie eine Furie heran und zwängte sich zwischen die beiden Streithähne. Dabei bedachte sie Tobias mit einem Blick, der einen Grizzlybären in die Knie gezwungen hätte.

    »Jenny?«

    Respektvoll wich er einen Schritt zurück. Gleichzeitig sah er sich um. Seinen Freunden lag die Unsicherheit quer und schief im Gesicht. Sie hatten den Atem angehalten. Jenny hatte Tobias nämlich vor nicht allzu langer Zeit eine blutige Nase verpasst. Seitdem stand sie im Ruf, eine gnadenlose Kampffusel zu sein. Tobias fluchte innerlich, denn genau betrachtet blieben ihm nur zwei Möglichkeiten. Entweder vermöbelte er Jenny nach Strich und Faden, was unweigerlich seinen Ruf ruiniert hätte - welcher Kerl vergreift sich schon an einem Mädchen? - oder er machte einen eleganten Rückzieher. In beiden Fällen hätte er die A-Karte gezogen. Während es hinter seiner Stirn fieberhaft arbeitete, musterte er Jenny wütend.

    »Halt dich da raus, Jenny. Das ist meine Sache.«

    Jenny hörte ihm gar nicht zu. Mit dem Finger zeigte sie in Tassilos Richtung. »Er kann kaum lesen«, fauchte sie. »Na los, her mit dem Wisch. Ich übernehme das.«

    Tobias griente. Tat sich da eine dritte Möglichkeit auf? »Du überrascht mich wieder einmal mehr. Aber bitte.« Er reichte ihr das Blatt. An Tassilo gewandt, sagte er. »Du kannst froh sein, dass sie aufgetaucht ist.«

    Tassilo zuckte nur mit der Schulter. Er ließ seine Fäuste sinken und drehte Tobias den Rücken zu.

    »Sieht so aus, als verdanke ich dir meine Rettung«, sagte er an Jenny gewandt.

    Er kannte Jenny kaum. Bisher hatte er ihr nur flüchtige Blicke über die Köpfe der anderen hinweg zugeworfen und jedes Mal dabei gedacht, dass sie ein Mädchen war, das ihm ganz gut gefallen könnte. Was er jetzt aber sah, warf alles über den Haufen. Diese Jenny war Bombe! Jenny, recht irritiert, warf einen Blick auf den Text, den Tobias ihr überreicht hatte. Der begann mit ... alle Zigeuner sind Sockendealer und stinken wie Kanalratten! Es folgten die üblichen Schimpftiraden. Trotz ihrer Sympathie für Tassilo musste sie lächeln. Man konnte über Tobias sagen, was man wollte, einen fantasiereichen Wortschatz, den hatte er.

    Sich der prüfenden Blicke Tassilos nur allzu sehr bewusst, straffte sie die Schultern. »Gaff mich nicht so an. Es sollte unter deiner Würde sein, dich mit dem da zu prügeln.«

    »Ich hab nicht angefangen«, frotzelte Tassilo.

    Jenny trat einen Schritt auf ihn zu, blieb aber so abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Angewidert rümpfte sie die Nase. »Puh! Ich bin mir zwar fast sicher, dass du keine Flöhe und Läuse hast, aber eine heiße Dusche könnte dir trotzdem nicht schaden.«

    Die Meute hinter Tobias brach in schallendes Gelächter aus. Einige rümpften ebenfalls die Nase, andere begnügten sich mit Ausrufen wie Stinkstiefel, Schweineigel, sogar ´wandelnde Jauchegrube` war zu hören. Tassilo war, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Einer Mauer von Hass und Ablehnung gegenüber stehend, fühlte er sich machtlos. Und einsam. Wie ein in die Enge getriebenes Tier sah er um sich. Er war Roma. Und er war stolz auf seine Herkunft. Aber wie, so fragte er sich, sollte er, Dreikäsehoch und schüchtern wie Vier, es schaffen, Vorurteile aus dem Weg zu räumen die schon seit Jahrhunderten existierten? Dass Zigeuner Zauberer und Wahrsager waren, wussten nur die wenigsten. Wie sollten sie auch, gab es doch niemanden, den es wirklich interessierte. Es gingen irrsinnige Gerüchte umher. Eines davon besagte, dass alle Zigeuner stinkreich

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