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Räderwerk: Die Keller-Lüge
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Räderwerk: Die Keller-Lüge
eBook252 Seiten3 Stunden

Räderwerk: Die Keller-Lüge

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Über dieses E-Book

Ben Wesely, der, wie es heißt, in einem Keller gefangen gehalten worden ist, gelingt vor seinem 18. Geburtstag die Flucht. Sein angeblicher Entführer wirft sich vor einen Zug. Judith Steyn zweifelt an den Medienberichten und gerät im Laufe ihrer Ermittlungen in das Räderwerk einer Verschwörung, die fünf Menschen das Leben kostet. Lange Zeit weiß sie nicht, ob ein mysteriöser Männerbund hinter den Anschlägen steckt oder ein Einzeltäter. Dynamisch kämpft sie sich durch ein Gestrüpp der Lügen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Feb. 2016
ISBN9783738063837
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    Buchvorschau

    Räderwerk - Paula Wuger

    KAPITEL 1

    J. J. PREYER

    RÄDERWERK

    JUDITH STEYN ERMITTELT

    ein Wienerwald-Krimi

    Ich trage, wo ich gehe,

    Stets eine Uhr bei mir;

    Wieviel es geschlagen habe,

    Genau seh ich an ihr.

    Es ist ein großer Meister,

    Der künstlich ihr Werk gefügt,

    Wenngleich ihr Gang nicht immer

    Dem törichten Wunsche genügt.

    Johann Gabriel Seidl

    „Hast du die Sendung gesehen?", fragte Manuel Glockner, als er kurz nach Mitternacht heimkam.

    „Natürlich. Und ich bin beeindruckt, obwohl du nicht zu sehen warst, antwortete Judith Steyn. „Wie war es?

    „Nicht besonders aufregend. Der Schutz des Jungen im Fernsehstudio ist überflüssig."

    „Und was sagst du zum Interview?"

    „Da stimmt etwas nicht, sagte Manuel. „Ben lügt. An der Sache ist etwas faul.

    „Ben Wesely spricht auffallend gewählt für einen Menschen, der acht Jahre in einem Keller eingesperrt war", formulierte Judith Steyn ihren Zweifel vorsichtiger als ihr Freund.

    „Hast du die Sendung aufgezeichnet?"

    Judith bejahte das, und Manuel schlug vor, das Interview gemeinsam noch einmal anzuschauen. „Ich bin nur in den Kulissen gestanden und hätte gerne deine Meinung dazu."

    Während Judith am Aufnahmegerät hantierte, holte Manuel Bier und zwei Gläser aus der Küche. Dann ertönte die Signation der Sondersendung aus dem Fernsehgerät.

    „Wie er in die Scheinwerfer blinzelt! Als ob er die letzten Jahre in Dunkelheit verbracht hätte. Vor und nach der Sendung hat er ganz normal geschaut."

    „Er wirkt gut genährt …"

    „Etwas zu gut sogar."

    „Seine Muskeln scheinen normal entwickelt zu sein."

    Herr Wesely, wandte sich der junge, blond gefärbte Interviewer an den etwas dicklichen jungen Mann, „wie geht es Ihnen jetzt, beinahe zwei Wochen nach Ihrer Flucht aus dem Keller, in dem Sie acht Jahre Ihres jungen Lebens gefangen gehalten worden sind?

    Die Antwort des jungen Mannes, der eine tief in die Stirn gezogene Wollmütze trug, kam etwas stockend, aber in perfektem Deutsch, das kaum durch Dialekt oder Umgangssprache beeinträchtigt war: „So sehr ich die Freiheit genieße, so sehr bedeutet sie auch eine große Herausforderung für mich. Die Welt hat sich verändert, seit meinem zehnten Lebensjahr …"

    Als Sie auf Weg zur Schule entführt worden sind."

    Ben Wesely nickte und fuhr mit dem rechten Zeigefinger über die Oberlippe.

    „Ein Zeichen, dass er lügt. Der Kerl lügt, ereiferte sich Manuel Glockner. „Er will verbergen, was aus seinem Mund kommt.

    „Jedenfalls versucht er sich zu schützen. Die Mütze und die wärmende Strickjacke deuten darauf hin."

    „Willst du auch Chips?"

    Judith lehnte dankend ab, während ihr Freund sich vom Polstersessel erhob und in die Küche ging.

    Sie bewunderte seine athletische Gestalt. Der zierliche Mann, den sie in Bad Gastein kennengelernt hatte, war durch hartes Training muskulös geworden.

    Manuel war, so überlegte Judith, sechs Jahre jünger als sie und zehn Jahre älter als Ben Wesely, der in den Jahren seiner Entführung vom Kind zum Mann gereift war.

    Judith stellte sich das zehnjährige Kind vor, mit der Stimme eines Mädchens, das in einen Lieferwagen gezerrt, in den Keller eines Einfamilienhauses verschleppt und dort acht Jahre festgehalten worden war, bis kurz nach dem Erreichen der Volljährigkeit.

    Wollte man der Geschichte Glauben schenken, die in den Medien verbreitet wurde, war Wesely zwei Tage nach seinem 18. Geburtstag aus dem Haus geflüchtet. Sein Entführer hatte daraufhin Selbstmord begangen, indem er sich vor einen Zug geworfen hatte.

    Judith hätte viele Fragen an den jungen Mann gehabt, doch der Interviewer im Fernsehen stellte sie nicht. Aus Rücksicht auf den seelischen Zustand des Geflüchteten, wie es in einem einleitenden Statement von Prof. Holzmeister hieß, jenes Jugendpsychiaters, der Ben Wesely betreute.

    Wie sehen Sie die Jahre Ihrer Gefangenschaft im Rückblick?", fragte der Interviewer.

    Es waren Jahre der Enge, der Dunkelheit. Aber man gewöhnt sich auch daran, besonders wenn man jung ist. Je älter ich wurde, desto stärker wurde mein Wunsch, ein Leben wie die anderen zu führen, das sich nicht auf einen einzigen Menschen konzentriert, auf den ich in jeder Weise angewiesen war."

    „Er spricht viel zu schön. Als ob man ihm die Antworten eingetrichtert hätte, sagte Manuel Glockner und nahm wieder Platz. „Ich traue dieser Inszenierung keinen Augenblick.

    „Und alles in Händen von Cramar", ergänzte Judith. „TVÖ, Österreich aktuell."

    „Was sagt Waldheim dazu?"

    „Er wird sicher nicht glücklich sein, dass alles über die Konkurrenz abgewickelt wird."

    „Ein perfekter Mediendeal, der den Beteiligten viel Geld einbringt. Und das erst zwei Wochen nach der Flucht."

    „Andererseits, überlegte Judith, „braucht der Junge Geld. Er hat keinen Schulabschluss, keinen Beruf erlernt.

    „Viel wird nicht davon übrigbleiben, wenn man die Honorare für den Psychiater und den Pressesprecher abzieht."

    „Und für euch Schutzengel."

    Guardian Angels ist nicht so teuer", bemerkte Manuel und fügte ein Leider hinzu.

    Zum Trost schob er eine Handvoll Kartoffelchips in den Mund.

    Der 28-Jährige konnte sich das von der Figur her leisten, dachte Judith und wusste, dass sie mit ihren 34 Jahren etwas vorsichtiger sein musste.

    Sie hatten doch einen Traum in den langen Jahren ihrer Gefangenschaft, Ben", sagte der Reporter, der kaum älter als sein Interviewpartner zu sein schien.

    Der junge Mann zog die Mütze noch ein Stück weiter in die Stirn, schloss die Augen und meinte dann: „Ich habe mir sehnlichst gewünscht, in einer Blumenwiese zu liegen und in den weiten, blauen Himmel zu schauen. Es war immer enger, immer einsamer geworden in der Gefangenschaft. Manches Mal fürchtete ich, er werde mich töten. Er hatte alles Interesse an mir verloren. Ich war nur mehr eine Last für ihn."

    Je älter Sie wurden."

    Als ich erwachsen wurde, wollte er mich nicht mehr."

    „Sie deuten einen pädophilen Hintergrund an", stellte Manuel fest.

    „Irgendeinen Grund muss die Entführung ja gehabt haben, überlegte Judith. „Geldforderungen wurden keine gestellt …

    „Und dann hat ihn der Entführer flüchten lassen und sich vor den Zug geworfen."

    „Das macht wenig Sinn, ich weiß. Aber wir kennen keine andere Version."

    „Vielleicht kannst du deinen Chef überreden, in der Sache ermitteln zu lassen", schlug Manuel vor.

    „Ich weiß nicht. Familie Österreich hat keine Rechte an der Verwertung dieses Falles."

    Sie sind schon in der Blumenwiese gelegen, Herr Wesely?", fragte der Interviewer.

    Nein, davon träume ich noch immer. Ich versuche im Augenblick mit mir und der Welt zurechtzukommen", erklärte der junge Mann.

    Was ist das Schwierigste daran?"

    Dass ich plötzlich ganz allein bin. Ein siamesischer Zwilling, der von seinem Bruder getrennt wurde und endlich frei ist."

    Wobei der Bruder ums Leben gekommen ist."

    So könnte man es sagen. Natürlich hat es sich nicht um meinen Bruder gehandelt. Ansonsten hilft man mir sehr."

    „Der siamesische Zwilling ist ein gutes Bild", fand Judith.

    „Das nicht von Wesely stammt. Der Professor hat bei der Stelle genickt, als ob er etwas abhaken würde. Das haben sie ihm eingetrichtert."

    „Der Psychiater."

    „Emmerich Holzmeister, der Wesely seit seiner Flucht betreut. Irgendjemand muss das sofort nach dem Auftauchen des jungen Mannes organisiert haben."

    „Es klingt verdächtig, wie du es sagst, überlegte Judith, „könnte aber ganz harmlos zu erklären sein. Jemand von der Polizei, mit Verbindungen zu Cramar, könnte diesen informiert haben und …

    „Ja, das ist möglich, sagte Manuel Glockner und gähnte, dann fragte er Judith: „Sind nicht auch wir siamesische Zwillinge?

    „Wie kommst du darauf?", fragte Judith.

    „Wir sind im Sternzeichen des Zwillings geboren, und ich bin nichts ohne dich."

    „Och, das würde ich nicht sagen. Du gehst durchaus eigene Wege."

    „Du meinst beruflich?"

    Judith nickte.

    „Meine Potenz hätte darunter gelitten, wärst du länger meine Chefin geblieben."

    „Und jetzt ist Kozik dein Chef."

    „Ich brauche einen Chef. Das entlastet mich."

    „Einen väterlichen Chef."

    „Du meinst …"

    „Was?"

    „Dass ich auch beruflich siamesischer Zwilling sein möchte?"

    „Ich habe nichts dergleichen gesagt."

    „Aber?"

    „Kein Aber."

    „Ich würde gerne mit dir verschmelzen. Jetzt und sofort", sagte Manuel, und Judith erkannte am Glanz seiner braunen Augen, dass er erregt war.

    „Gegen Verschmelzungen dieser Art habe ich nichts einzuwenden, erwiderte Judith. „Sie sind vorübergehend und durchaus …

    „SSScchhhh. Genug geredet", flüsterte Manuel, setzte sich auf den rechten Arm von Judiths Polstersessel und begann sie zu küssen.

    Dann wanderten seine Lippen höher, zu ihrer Nase und den Augen. Er streichelte ihren Nacken, löste ihr zu einem Chignon hochgestecktes blondes Haar, rutschte dann auf ihre Knie und zwischen diese.

    „Du bist heiß wie …"

    „Wie Manuel. Wenn er auf dich heiß ist."

    „Besser hätte ich es nicht sagen können."

    „Wenn die Geschichte mit Ben Wesely stimmt, hatte er noch nie eine Frau."

    „Das ist anzunehmen."

    „Stell dir vor, er käme zu dir, und du müsstest ihm alles beibringen."

    „Worauf willst du hinaus, Manuel?"

    „Stell dir vor, ich bin Ben Wesely und du bist, du bist …"

    „Judith Steyn, die nie und nimmer einen unschuldigen Knaben verführen würde."

    „Sicher nicht?"

    „Sicher nicht."

    „Aber …"

    „Gut, dann leg dich hin! Ich werde mir etwas einfallen lassen."

    Manuel Glockner atmete tief durch und ließ sich auf den Teppichboden fallen.

    „Aber eins müssen wir noch klären", zögerte Judith die Zärtlichkeiten hinaus.

    „Du bekommst alles, was du willst."

    „Kümmere dich um meine Armbanduhr. Sie funktioniert nicht mehr."

    „Jaja. Komm schon!"

    Kurz nach acht Uhr meldete sich Brigitte Wesenauer und fragte Judith, ob sie am Vormittag nach Wien kommen könne. Der Chef wolle mit ihr sprechen.

    Obwohl sie nur vier Stunden geschlafen hatte, fühlte sich Judith energiegeladen, als sie von ihrer Wohnung in Bad Vöslau zum Redaktionshochhaus am Donaukanal aufbrach.

    Judith Steyn arbeitete für die Tageszeitung Familie Österreich, recherchierte in rätselhaften Kriminalfällen und berichtete unter dem Pseudonym Louise Gerlach. Pfefferspray ist ihr Parfum war das Motto, das Hans Waldheim für sie gewählt hatte.

    „Sie warten schon auf Sie", sagte die wie immer untadelig wirkende Vorzimmerdame.

    „Sie?", fragte Judith.

    „Der Chef und Erwin."

    „Aber natürlich. Ich habe ihm Frolic mitgebracht."

    Und tatsächlich. Sobald Judith an der Tür zu Hans Waldheims Arbeitsraum geklopft und diese einen Spaltbreit geöffnet hatte, stürzte schon der schwarze Riesenschnauzer Erwin auf sie los, in höchsten Tönen quietschend wie ein neugeborener Welpe. Dabei war er schon fünf Jahre alt.

    Judith musste zuerst den Hund tätscheln und ihn mit seiner Lieblingsspeise, kleinen Ringen aus getrocknetem Fleisch, versorgen, bevor sie ihren Chef begrüßte, der sich von seinem großflächigen Schreibtisch erhoben und ein paar Schritte auf sie zu gemacht hatte.

    Der sonst so dynamische 69-Jährige wirkte an diesem Vormittag müde. Seine Haut hatte den olivfarbenen Schimmer der Erschöpften.

    „Schön, dass Sie kommen konnten, begrüßte er Judith mit einem Händedruck. „Sie ahnen wohl, worum es geht.

    „Ich kann es mir denken. Ich habe mir das Interview gestern angesehen und mit Manuel darüber gesprochen. Er bewacht den jungen Wesely – mit anderen natürlich."

    „Interessant, interessant", murmelte Waldheim, schien jedoch in Gedanken weit weg zu sein.

    Also wartete Judith auf die Erklärung, warum er sie nach Wien gebeten hatte. Doch die kam nicht. Der Verleger betätigte unablässig den Druckknopf seines Kugelschreibers und schaute dabei aus dem Fenster. Judith folgte seinem Blick und sah die mit Graffiti bedeckte Kaimauer am gegenüber liegenden Ufer des Donaukanals, die hohen, leicht vom Wind bewegten Pappeln und das starke Verkehrsaufkommen. Die Sonne blendete so sehr, dass sie den Blick abwenden musste.

    „In dieser Richtung, sagte er schließlich, „nicht einmal dreißig Kilometer von hier, liegt Himberg, wo sich Hans-Josef Hebenstreit vor den Zug geworfen haben soll.

    „Der Entführer Ben Weselys", sagte Judith.

    „Wenn es denn so gewesen ist, wie sie behaupten. Ich möchte, dass Sie seinen Tod untersuchen, Judith."

    „Sie haben Zweifel an seinem Selbstmord?"

    „Ich möchte Sicherheit haben."

    „Sie kannten den Mann?"

    Der alte Verleger nickte stumm, dann sagte er: „Er hat bei uns angefangen, bevor er zu Cramar gewechselt ist."

    „Das heißt, er war für Klaus Cramar tätig, der jetzt das große Geschäft macht mit den Berichten über die Untat jenes Journalisten."

    „Werfen Sie einen kritischen Blick auf die Sache! Ich glaube, sie ist nicht so, wie man sie vermittelt. Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen, Judith."

    „Ich werde mich bemühen. Soll ich darüber schreiben?"

    „Im Moment nicht. Vielleicht eines Tages, wenn wir die Wahrheit kennen."

    Als Waldheim nichts mehr sagte, nur mehr den Kopf seines Riesenschnauzers tätschelte, fragte Judith, ob es noch etwas zu besprechen gebe.

    „Entschuldigen Sie, ich habe schlecht geschlafen, nach diesem Interview. Sie halten mich auf dem Laufenden. Er hat am Dürrsee bei Münchendorf gewohnt."

    „Hans-Josef Hebenstreit?"

    Waldheim nickte.

    Judith verabschiedete sich von ihm und verfütterte den Rest der Frolic-Ringe an Erwin, der auch nicht so munter war wie sonst. Die melancholische Stimmung seines Herrn schien auf ihn abzufärben.

    Judith fuhr über Erdberg, Kaiserebersdorf und Schwechat nach dem im Süden von Wien gelegenen Ort Himberg.

    Obwohl die kleine Marktgemeinde im Industrieviertel des Wiener Beckens lag, wirkte sie ländlich-verträumt, mit Resten ebenerdiger Häuser aus dem Biedermeier.

    Als Judith die mit Kreide beschriebene Tafel eines Gasthauses sah, die Wiener Bruckfleisch verhieß, beschloss sie, im schattigen Garten zu Mittag zu essen.

    Gerade als sie an einem der gedeckten Tische Platz nahm, ertönten die Mittagsglocken von der benachbarten Pfarrkirche. Der Glockenklang scheuchte einige Tauben auf, die müde Kreise über den Ort zogen.

    Bruckfleisch hatte Judiths Oma zu besonderen Anlässen gekocht. Die aus Innereien bestehende Speise war besonders schmackhaft, aber auch preisgünstig.

    Judith erinnerte sich an die Küche ihrer Großmutter in Bad Vöslau, in der ein großer, mit Holz beheizter Herd stand, auf und in dem ständig Köstlichkeiten buken, simmerten oder brieten.

    Großmutters Bruckfleisch bestand aus geschmortem Kronfleisch, Rinderherz, Leber, Nieren, Bries und Milz, in einer würzigen Sauce. Und all das durfte man nicht direkt vom Herd essen, es musste mindestens vom Vortag sein, nur die Semmelknödel waren frisch und flaumig.

    Judith wartete gespannt auf das Essen und hoffte, dass dieses einigermaßen mit Omas Küche mithalten konnte.

    Und tatsächlich. Das Bruckfleisch aus dem Hause Gusenbauer – so hieß das Gasthaus – schmeckte zwar anders, aber durchaus delikat. So delikat, dass Judith ein zweites Bier bestellte.

    Etwas schläfrig geworden, überlegte sie, wie sie wohl am besten Hans-Josef Hebenstreits Spuren folgen konnte und griff nach einem Exemplar der Tageszeitung Österreich aktuell, die in einem Zeitungshalter aus gebogenem Weidenrohr neben Waldheims Familie Österreich und der Presse, dem Standard und einer Gratiszeitung lag.

    Sie las einen Artikel über die Entführung Ben Weselys vor acht Jahren, der mit einem Kinderfoto des nunmehr 18-Jährigen illustriert war, als die Kellnerin fragte, ob sie eine Nachspeise bringen dürfe. „Wir haben Sachertorte, Apfelstrudel mit Schlag, Cremeschnitten …"

    Judith bat um die Eiskarte. Es war ziemlich heiß für Mitte Juni. Die Schafskälte schien sich in diesem Jahr zu verspäten oder gar auszufallen.

    „Schrecklich, sagte die Servierkraft mit dem jugendlich zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebundenen Haar, obwohl sie an die sechzig sein mochte. „Schrecklich das alles. Dabei war Hajo ein ausgesprochen netter junger Mann.

    So jung auch nicht mehr, mit seinen 37 Jahren, dachte Judith, hielt jedoch ihre Zunge im Zaum, weil sie mehr erfahren wollte.

    „Er hat bei Ihnen gegessen?", erkundigte sie sich bei Frau Gerti, wie die Kellnerin von den übrigen Gästen gerufen wurde.

    „Am Samstag und am Sonntag regelmäßig, während der Woche war er in Wien. Manches Mal kam er noch auf ein Bier, kurz bevor wir zusperrten. Keiner von uns hätte gedacht, dass er … Na, Sie wissen schon …"

    „Dass er ein Kind entführt hat?"

    „Dass er andersrum war. Warum sonst hätte er den Jungen all die Jahre eingesperrt?"

    „Und niemand hat etwas bemerkt?"

    „Sicher, er ist nie mit einer Frau gekommen, aber sonst …"

    „Ich meine den Jungen, Ben Wesely. Den hat offenbar niemand gesehen."

    „Der muss die ganze Zeit im Keller gewesen sein, sonst wäre er den Nachbarn begegnet."

    „Am Dürrsee."

    „Das ist ein Schotterteich. Privat, mit lauter Häusern rundherum, zum Teil Wochenendhäusern von Wienern."

    Als ein Gast zahlen wollte, bestellte Judith rasch einen Fruchteisbecher mit Hohlhippen und wunderte sich erneut. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand einen Knaben acht Jahre in einem Keller gefangen halten sollte. Wieder fiel ihr Waldheims Hund ein. Hatte der Junge im Keller dieselbe Funktion wie ein Haustier gehabt? Hatte er dazu gedient, dem Journalisten die Einsamkeit vergessen zu lassen? Nein. Eine einigermaßen vernünftige Beziehung konnte sich nur entwickeln, wenn man dem

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