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eBook368 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Auf der Suche nach seinem verschwundenen Vater ersteht der in Berlin lebende Amerikaner Brian auf dem Pariser Flohmarkt eine alte, ungewöhnliche Uhr. Weder er noch die hübsche Verkäuferin haben eine Vorstellung davon, welch mysteriöse Macht sie birgt. Doch auch der französische Geheimdienstchef ist schon lange auf der Jagd nach dem antiken Stück. Nach und nach gibt das Schmuckstück sein Geheimnis Preis und Brian sieht sich einem mächtigen Feind gegenüber. Er findet aber auch Verbündete im Kampf ums Überleben bei dem Gut und Böse nicht mehr so leicht auseinander zu halten sind. Seine Flucht sowie seine Gegenwehr erfahren dadurch immer wieder neue Wendungen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Dez. 2013
ISBN9783847665618
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    Buchvorschau

    look back - Wolfgang Wirth

    Prolog

    Es war kein verheißungsvolles Klopfen. So klopfte keiner, der auf einen Kaffee oder einen Pernod vorbeikam.

    Sonst klang alles wie gewohnt an diesem sonnigen Maimorgen. Die Vögel zwitscherten durch das offene Fenster von den blühenden Obstbäumen im Garten. Die Autos knatterten auf der Rue de l’Auvergne und das gelegentliche Hupen ihrer Signalhörner störte schrill die sonst so friedliche Szenerie.

    Es war eigentlich ein ganz normaler Morgen, so wie jeder andere. Aber nicht für den alten Jean-Pierre, denn dieser Morgen hatte bereits einige Ereignisse hervorgebracht, die alles andere als normal waren. Gestern schon fing alles so erfolgversprechend an. Die ganze Nacht hatte der hagere alte Mann an seinem Werktisch gearbeitet, nachdem er am Vorabend den Durchbruch förmlich gespürt hatte. Jahre der Forschung, des Experimentierens, der Aufopferung für sein ganz persönliches Projekt. Die Entdeckung, die die Welt verändern könnte. Nur ob zum Guten war Jean-Pierre noch nicht ganz klar. Darüber grübelte er, seitdem er an seiner Erfindung gearbeitet hatte. Seitdem er diese alten Aufzeichnungen gesehen und das wirre Gefasel seines russischen Nachbarn von Kristallen im Garten gehört hatte. Seitdem er genau diese Kristalle in dem Gartenversteck des greisen Russen und deren Geheimnis entdeckt hatte. Seitdem er die Puzzleteile entziffert und mit mikroskopisch, chirurgischer Feinarbeit all die Schräubchen und Zahnrädchen zusammengesetzt hatte.

    Und ganz besonders seit diesem Morgen, nachdem er seine Erfindung, dieses Wunderwerk an mehreren Beispielen erfolgreich ausprobiert hatte.

    Da lag es nun, sein Schmuckstück. Jean-Pierre sah es liebevoll an, seine dünnen aber immer noch nicht zittrigen Finger streichelten jedes Teilchen seines Werkes. Es war nicht wirklich verziert mit Gold und Silber wie die anderen Exemplare dieser Zeit, dabei auch noch relativ groß und wuchtig, sonst aber eher schlicht. Auffällig war jedoch die offene Mechanik mit dem ungewöhnlichen Spiegel im Zentrum, die das ganze eher wie eine winzige Maschinerie erscheinen ließ, als ein Exemplar zeitgenössischen Herrenschmucks. Nur die warnenden Worte des russischen Wirrkopfes aus dem Nachbarhaus hatte er zu seinem Gedenken in kunstvoller Form auf den Rand graviert. Dabei hatte dieser Jean-Pierre eindringlich von seinem Vorhaben abbringen wollen, er sollte nicht in Gottes Handlungen eingreifen, jeder Mensch sollte sich nur auf seine eigenen Erinnerungen konzentrieren. Aber der alte Uhrmacher war wie besessen von dem Gedanken, etwas Einzigartiges zu erschaffen, etwas, was die Welt noch nicht gesehen hatte. Etwas, was vielleicht die Welt auch etwas friedlicher machen könnte, eventuell aber auch genau das Gegenteil bewirken könnte.

    Seitdem Cartier vor kurzem das Tragen solcher Uhren am Handgelenk modern gemacht und sein alter Kollege Harwood eine Automatik hierfür erfunden hatte, war es angesagt, solche Prachtexemplare nicht mehr in der Westentasche zu verstecken, sondern seinen Wohlstand, Klasse und Eleganz etwas offener zur Schau zu stellen.

    Aber dieses Prachtstück unterschied sich von allem bisher Dagewesenen. Nicht nur, dass es auch ein achtstelliges Datum anzeigen konnte, die wirkliche Revolution lag in einer kleinen zusätzlichen Funktion einer zweiten Krone, die mit der reinen Zeitmessung nur noch wenig zu tun hatte.

    Neben seiner kleinen Enkelin hatte der alte Mann nur einem Menschen sein Geheimnis bisher in Teilen offenbart. Seinem alten Freund und Gönner Jacques Renard, einem Pariser Juwelier, den er vor zehn Jahren kennengelernt hatte, als er aus Genf an die Seine gekommen war. Jean-Pierre hatte für ihn gearbeitet, aber obwohl seine Arbeit für den Juwelier seit einiger Zeit nicht mehr so umfangreich war, hielt dieser doch an ihm fest, nicht zuletzt auch aus Interesse an seiner wissenschaftlichen Tüftelei. Jacques hatte erkannt, welches Talent in dem hageren Uhrmacher steckte. Sie waren auch privat eng verbunden und sie konnten über Alles miteinander reden. Und so erfuhr Jacques auch von dem Durchbruch in Jean-Pierres Forschung, besonders als es in der letzten Nacht so aussah, als hätte es der alte Tüftler endlich geschafft. Jean-Pierre war zu Jacques hinübergelaufen und voller Euphorie von seiner Entdeckung erzählt. Sie sprachen nur kurz miteinander, aber Jacques erschien an diesem Abend so abwesend, so reserviert, anders als gewöhnlich. Aber mehr Gedanken daran zu verschwenden schien dem alten Schweizer unnötig, wo er doch gerade mitten in der Entdeckung des Jahrhunderts steckte und schnell zurück zu seiner Arbeit wollte, um sie endgültig zu testen.

    Erst jetzt, als es unten abermals heftig an seine Tür pochte, kamen diese Gedanken zurück und er stellte instinktiv eine Verbindung dieser Ereignisse her, wunderte sich plötzlich über Jacques’ Interesse an seiner Arbeit und deren Unterstützung. Bei näherem Nachdenken erschien Jean-Pierre das Ganze aber doch zu absurd.

    Das Hämmern an die Tür wurde kräftiger. Wer konnte das nur sein? Die Polizei hätte bestimmt das Klopfen mit einem Ruf oder einer Aufforderung bekräftigt. Eventuelle Gläubiger hatte er nicht. Hatte das alles mit seiner Entdeckung zu tun? Wollte ihm etwa jemand seinen Erfolg streitig machen? Aber wer konnte davon wissen? Die Gedanken schossen ihm durch den Kopf, alles schien sich zu drehen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er wusste nur, die Uhr musste in Sicherheit gebracht werden. Aber wenn sie nun doch jemand fände? Nein, das durfte nicht passieren. Sie musste zerstört werden, bevor sie in falsche Hände geriet. Trotz all seiner Bedenken, war ihm bisher nie der Gedanke gekommen, dass dieser Moment so schnell kommen könnte. Insofern hatte er auch keinen vorbereiteten Plan.

    Das Klopfen wurde lauter und wilder – jetzt rüttelte jemand an der Tür. Es klang nicht so, als würde dieser Jemand lange auf ein freundliches Öffnen der Türe warten. Jean-Pierre musste handeln. Aber die Uhr komplett zu zerstören bedeutete den Verlust jahrelanger Arbeit, sollte er das riskieren? Er nahm die Apparatur und schraubte die zweite Krone vorsichtig ab – den Mechanismus und den Spiegel wollte er dann nun doch nicht beschädigen. Vielleicht war ja doch alles nur falscher Alarm. Er legte die Krone zu den anderen Kleinteilen, die auf seinem Arbeitstisch herumlagen und lief mit der Uhr schnellen Schrittes auf den Flur, um ein geeignetes Versteck fernab des Arbeitszimmers zu entdecken. In diesem Moment flog unter lautem Krachen die Haustür auf. Splitter flogen durch den Eingangsraum und zwei Männer stürmten in das Haus. Vom oberen Treppenabsatz sah der Uhrmacher die Szenerie und es durchfuhr ihn augenblicklich massive Angst und lähmte sein Bewusstsein. Die Eindringlinge riefen nun laut seinen Namen. Dadurch rappelte er sich wieder auf und kletterte schnell auf den Dachboden. Eine alte Kiste, die mit nicht mehr benötigten Spielsachen seiner längst aus dem Haus ausgezogenen Tochter gefüllt war, schien ihm in der Eile als Notunterbringung geeignet. Er schob die Uhr schnell unter das Kleid einer alten Puppe, verschloss die Kiste und warf eine alte, verstaubte Wolldecke darüber. Später würde er sich dann überlegen müssen, wo er ein ideales und sicheres Versteck zu suchen hätte.

    Schnell kletterte er den Stieg in den ersten Stock wieder herab. Auf dem Flur angekommen stand ihm unvermittelt einer der in dunkle Mäntel gekleideten Männer gegenüber.

    „Wo ist sie?", stieß dieser barsch aus.

    „Wovon sprechen sie?, war alles, was der Schweizer stotternd herausbrachte. „Und was wollen sie in meinem Haus?

    Statt einer Antwort rief der Mann seinen Kumpanen herbei und schnappte Jean-Pierre beim Revers. Dieser sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie die andere Hand des finsteren Eindringlings zu einer Faust geballt auf ihn einkrachte. Weitere Schläge folgten an den Kopf, in die Magengrube und als er zusammengesunken auf dem Boden lag, spürte er Tritte von schweren Arbeitsstiefeln im Rücken und am Schädel. Immer wieder brüllten die Männer die einzige Frage, die er um keinen Preis der Welt beantworten wollte: „Wo ist die Uhr?"

    Unter dem Stakkato der Tritte verlor er das Bewusstsein. Ein Nebel umschloss ihn und er verspürte keine Schmerzen mehr. Wie im Zeitraffer schossen die Erinnerungen durch seinen Kopf. Er sah seine Ehefrau, die ihm viel zu früh durch eine Lungenentzündung entrissen wurde, seine Tochter als kleines Mädchen, dann als erwachsene Frau im Kindbett mit seiner Enkelin im Arm, der kleinen Fernande, die er so liebte und die ihm so gern bei seinen Arbeiten zusah. Alle waren sie bei ihm. Aber genauso schemenhaft, wie sie erschienen waren, verschwanden sie auch wieder.

    Das erste, was Jean-Pierre hörte, als er wieder zu sich kam, waren wiederum die Stimmen der beiden dunklen Gestalten in seinem Haus. Wie aus der Ferne drangen sie langsam zu ihm und das Bewusstsein und die Erinnerung an das Geschehene kehrten allmählich zurück. Aber auch der Schmerz. Er spürte, dass seine Knochen nicht mehr in der gottgegebenen Form waren und die flüssige Wärme die ihn umgab, ließ ihn erahnen, dass er in seinem eigenen Blut lag. Als sich der Schleier mehr und mehr hob, wurden die Stimmen deutlicher. Er konnte aus den Rufen folgern, dass sie die Uhr noch nicht gefunden hatten.

    Instinktiv blieb er reglos liegen, er hätte sich ohnehin nicht viel bewegen können. Aber er wusste, dass seine einzige Chance weiteren Schmerzen zu entgehen war, so zu tun, als hätten die Schläger ihr tödliches Werk bereits vollendet. Schon hörte er, wie sich schwere Schritte auf dem Holzboden näherten und hielt die Luft an. Seine blutgetränkten Augen brannten, aber er versuchte auch nur das geringste Zucken zu vermeiden.

    „Der sagt uns nichts mehr!", war eine der Stimmen zu hören.

    „Das war deine Schuld! Wir hätten es vorher aus ihm rausquetschen sollen. Das war der andere, der nicht minder feindselig klang. „Jetzt finden wir das Ding nie!

    Ein letzter Tritt erschütterte Jean-Pierres Leib, so als wollte der Schläger auch wirklich sicher sein, dass der alte Mann sich nicht mehr regte. Der Uhrmacher verkniff sich unter Schmerzen einen Laut von sich zu geben und biss die Zähne aufeinander.

    Dann entfernten sich die Schritte wieder. Erst auf dem Flur, dann die Treppe hinunter. Kurz darauf war es still. Die Männer mussten das Haus verlassen haben.

    Jean-Pierre lag noch eine Weile bewegungslos da, um sich zu versichern, dass er auch wirklich alleine war. Die Schmerzen in seiner Magengegend und das Pochen im Kopf wurden immer stärker, ein taubes Gefühl machte sich allerdings in seinen Beinen breit. Er wollte sich aufrichten, doch er war nicht in der Lage dazu. Seine untere Körperhälfte schien er gar nicht mehr kontrollieren zu können und sein Kopf fühlte sich an als stünde er kurz vor dem Zerbersten. Der alte Uhrmacher wusste, dass seine letzte Stunde auf dieser Welt angebrochen war. Sein alter Körper war geschunden. Er wusste, diese Männer würden sein Leben auf ihrem Gewissen haben. Aber sein Geist war noch wach. Er hatte noch eine Aufgabe zu vollbringen.

    Seine Entdeckung, sein größter Schatz, dem er sein halbes Leben gewidmet hatte, durfte nicht in einer Spielzeugkiste verstauben. Er wollte sein Geheimnis weitergeben. Aber nicht irgendwem. Vielleicht musste auch etwas Gras über Alles wachsen, vielleicht war die Welt einfach noch nicht reif für ein Wunder. Seinem Freund Jacques vertraute er nicht mehr, irgendetwas sagte ihm, dass er für den Überfall verantwortlich war. Niemand sonst hätte etwas von seiner Arbeit wissen können. Nein, nur Fernande, sein unschuldiger kleiner Engel sollte die Erbin seines Schatzes sein. Sie war gerade einmal acht Jahre alt, aber schon so wissbegierig und clever. Sie hatte die Intelligenz und die Neugier ihres Großvaters in ihren Genen. Sie war es auch, die er als erste an seinem Abenteuer teilhaben lassen wollte. Nun würde es seine Enkelin alleine bestreiten müssen. Der Tag würde kommen, an dem sie wüsste, was zu tun sei. An dem sie sein Vermächtnis der Welt offenbaren würde.

    Aber wie sollte er sie informieren ohne gleichzeitig seine Verfolger auf ihre Spur zu setzen?

    Seine Kraft wich aus seinen Armen, auf die gestützt er versuchte sich vorwärts zu bewegen. Allzu weit kam er so nicht, das wusste er. Geschweige denn die Treppe hinunter und bis zur Straße, wo er um Hilfe rufen konnte. Das Telefon hing ebenfalls unten im Flur an der Wand und somit für ihn unerreichbar. Die Zeit lief ihm davon, in seiner Sanduhr verblieben nur noch wenige Körner. Und die Schmerzen ließen ihn immer wieder zusammensacken. Er versuchte sich umzublicken. Erst jetzt sah er die Verwüstung, die seine Mörder hinterlassen hatten. Sie waren durchaus gründlich gewesen. Nichts war mehr an seinem Platz, Möbel ausgeräumt und teilweise zerschlagen, das ganze Haus sah aus wie nach einem Wirbelsturm. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort bewusstlos gelegen hatte und wie lange die zwei Eindringlinge in seinem Haus gewütet hatten. Trotzdem hatten sie seinen Schatz offensichtlich nicht geborgen.

    Sein Blick fiel auf eine Zeitung, die blutgetränkt neben ihm lag. Er riss mit letzter Kraft eine noch saubere und überwiegend unbeschriebene Ecke ab und suchte nach etwas zu schreiben. Ein kleiner Schraubenzieher lag glücklicherweise nicht allzu weit entfernt in einem Haufen aus Überresten seines Schreibtischs. Tinte wiederum war nicht zu sehen. Das einzige Flüssige in seiner Reichweite war die Blutlache, die zum Teil noch nicht ausgetrocknet war, da sie immer weiter durch die breit klaffende Wunde an seiner Schläfe gespeist wurde.

    Und so schrieb Jean-Pierre seine letzten Worte mit seinem eigenen Blut, als Botschaft für ein kleines Mädchen, die ein schweres Erbe übernehmen sollte.

    Falls dieses Mädchen die Botschaft jemals verstehen würde…

    1

    Samstag, 12. Mai, morgens

    „Was kostet die Kaffeemühle?" Der Mann mit dem dicken Norwegerpullover zeigte auf eines der vielen antiken Stücke auf dem ramponierten Tapeziertisch. Ganz klar ein Weiterverkäufer, dachte die junge Frau hinter dem Verkaufstisch. Er würde mit seinem Gegengebot hundertprozentig weit unter dem tatsächlichen Wert bleiben.

    „Zwanzig Euro, Monsieur!" Das war schon ein verdammt guter Preis.

    „Für fünf nehm’ ich sie mit!"

    „Pardon, Monsieur – ich wollte sie nicht verschenken! Sagen wir fünfzehn."

    Ohne eine Antwort ging der Mann scheinbar desinteressiert weiter. Diese Masche funktionierte bestimmt bei Vielen. Bevor man ein Teil gar nicht verkauft, gibt man es dann eben doch zu einem Spottpreis her. Aber Laeticia Bernard fiel darauf nicht herein. Nicht, dass sie nicht froh gewesen wäre, den ganzen Plunder los zu werden, zumal sie ja auch alles wieder einpacken, in den Kisten verstauen und zum Auto zurück tragen musste. Aber es gab eben doch ein paar Prinzipien, die sie einzuhalten versuchte, auch wenn sie meist nur durch ihr Unterbewusstsein gesteuert wurden. Aber dies war so ein Fall. Der arrogante Blick, das ignorante Verhalten, das Gefühl, dass dieser Mann das Stück wahrscheinlich nur hundert Meter weiter zum Vielfachen wiederverkaufen würde, waren für Laeticia Grund genug, nicht weiter auf ihn einzugehen.

    Außerdem war es noch früh an diesem Samstagmorgen, es würden noch genügend Interessenten vorbeikommen, da brauchte man sich nicht gleich dem ersten schon ergeben. Andererseits war es für Mai an diesem Tag eher unfreundlich, Wolken hingen tief am Himmel, die Sonne hatte sich noch nicht sehen lassen. Und es war noch relativ kühl. Aber Laeticia hoffte, mit der Sonne würden später an diesem Vormittag auch noch weitere Flohmarktbesucher erscheinen.

    Ein kurzes Zögern des Mannes im Pullover bestätigte ihre Vermutung, dass er ihr noch eine Chance geben wollte, ihn doch noch aufzuhalten, um ihm das Objekt seines Begehrs zu seinem völlig unrealistischen Angebot zu überlassen. Aber sie hatte eben auch ihren Stolz. Schließlich waren es doch alles mehr oder weniger Familienerbstücke. Zugegebenermaßen kein einziges, was ihrem Geschmack auch nur im Entferntesten entsprach. Nicht ein Exemplar ihrer angepriesenen Ware würde sie jemals bei sich zuhause hinstellen, auch wenn es von ihrer geliebten Großmutter stammte. Aber es war dennoch kein wertloser Tand.

    Nachdem vor einigen Wochen die Großmutter ins Pflegeheim gezogen war, hatte Laeticia sich bereiterklärt, sich um den Hausrat zu kümmern. Ihre Tante hatte schon genug mit dem Haus selbst zu tun. Die Reparaturen, der Garten, alles musste auf Vordermann gebracht werden, wenn man einen einigermaßen guten Preis erzielen wollte. Die Lage war zwar ideal, fast mitten in Paris und dennoch relativ ruhig gelegen, aber das Haus war über 100 Jahre alt, zu klein für heutige Ansprüche mit niedrigen Decken, und die Gegend inzwischen leider ziemlich heruntergekommen. Damals hatte das Viertel sicher zu einem der besseren hier gehört, aber heute bestand ein Großteil des Umfeldes aus Hochhäusern in desolatem Zustand. Auch die direkten Nachbarhäuser von Laeticias Großmutter waren größtenteils unbewohnt und schienen ausgeplündert. Graffitis prägten das Stadtbild in diesem Viertel und nicht selten brannte nachts mal wieder irgendein Fahrzeug auf den Straßen ringsherum. Zum Zeitvertreib der Jugendlichen, die hier ohne Zukunftsvisionen und Aussichten auf ehrliche Arbeit aufwuchsen. Dennoch stand die alte Dame seltsamerweise genau bei diesen Straßengangs irgendwie unter besonderem Schutz. Ihr Haus war weder je beschmiert worden, noch war es in irgendeiner Weise beschädigt.

    Keiner der wenigen verbliebenen Familienmitglieder Laeticias wollte jedoch dort einziehen, also einigte man sich, das Haus herzurichten und das Beste aus einem Verkauf herauszuholen, falls es überhaupt verkäuflich war. Vielleicht würde es ein Käufer auch abreißen und ein Garagenhaus an dessen Stelle bauen. Eine Investition, die hier vielleicht sogar Gewinn versprechend sein könnte, wo doch kein Anwohner sein Fahrzeug länger als notwendig auf der Straße parkte. Schon als die Großmutter hier noch lebte, wollte keiner ihrer Besucher lange bleiben, wenn er sein Auto nicht auf ihrem Grundstück abstellen konnte.

    Laeticia war die einzige, die sich wirklich um die alte Frau kümmerte. Früher hatte das ihre Mutter getan, aber sie war vor einigen Jahren Laeticias Vater ins Grab gefolgt. Jetzt war nur noch die andere Tochter da, zu der die Alte nie ein besonderes Verhältnis gehabt hatte, und eben ihre geliebte Enkelin. Diese besorgte ihre Einkäufe, besuchte sie regelmäßig und las ihr aus den alten Büchern vor, die heute ebenfalls auf dem Flohmarkt zum Verkauf standen. Gerne hätte Laeticia das ein oder andere als Andenken behalten, aber sie hatte in ihrer kleinen Stadtwohnung keinerlei Platz für all diese Dinge. Mit dem Einverständnis ihrer Großmutter behielt sie den Schmuck für sich, auch wenn sie ihn nie tragen würde. Aber er nahm keinen Platz weg und wäre auch zu wertvoll, ihn einfach zu verkaufen.

    Aber diese ganzen Dinge, die jetzt hier auf dem Tisch lagen, Küchenutensilien, Dekoration, Geschirr und allerlei Krimskrams sollte sie verkaufen und sich von dem Erlös einen Wunsch erfüllen. Darauf hatte die Alte bestanden. In einem ihrer wenigen lichten Momente hatte sie all das gemeinsam mit ihnen besprochen, ihrer Tochter und Laeticia, mehr Familienmitglieder direkter Linie gab es nicht.

    Und nun war Großmutter Fernande ins Altenheim gegangen. Alleine schaffte sie es nicht mehr. Körperlich schon seit längerem nicht, aber da konnte ihre Enkelin noch helfen, außerdem kam morgens und abends jeweils eine Pflegerin vorbei. Nun war aber auch der Geist vom Alter angegriffen und der Verfall machte seit einigen Monaten rapide Fortschritte. Vorbei waren die Abende, an denen die alte Fernande ihrer wissbegierigen Enkelin von den alten Zeiten erzählte, von ihrer eigenen Jugend, dem Krieg, der Zeit des Wiederaufbaus danach und der Kindheit von Laeticias Mutter. All diese Erinnerungen lösten sich allmählich in Luft auf. Nur selten gab es Momente, an denen die Alte alle Sinne beisammen hatte und man mit ihr über ernsthafte Angelegenheiten sprechen konnte.

    „Achtzig Euro!", beantwortete Laeticia die Frage eines jungen Pärchens nach dem Preis für ein Ölgemälde. Eines dieser langweiligen Landschaftsbilder mit einem röhrenden Hirsch.

    „So viel wollten wir nicht ausgeben, aber es ist wirklich wunderschön! Könnten wir es nicht für vierzig haben?"

    „Sagen wir sechzig, dann treffen wir uns in der Mitte!"

    Die beiden jungen Leute schauten sich verzweifelt an. Man sah ihnen an, dass sie sich mit einer Entscheidung schwer taten.

    „Fünfzig?"

    „Na gut!" Laeticia ließ sich erweichen, die beiden waren ihr sympathisch. Außerdem war es wieder ein sperriges Teil weniger für den Rückweg und fünfzig Euro auf der Habenseite waren ja auch in Ordnung. Wer auf dem Flohmarkt verkauft, sollte ohnehin den Verkaufspreis nicht in Relation zum Wert setzen, redete sie sich ein. Das machte vielleicht der professionelle Händler, aber nicht so ein Gelegenheitsverkäufer wie sie.

    Dies war jetzt schon der zweite Flohmarkttermin, den sie wahrnahm. Maximal viermal wollte sie es versuchen. Der berühmte Marché aux Puces in Paris war ihr für solche antiken Dinge empfohlen worden. Und in der Tat hatte sie schon einiges losbekommen. Das Problem war, dass nicht viel in ihren kleinen Renault passte. Sie hatte sich für das zweite Mal schon einen großen Kombi von ihrem Nachbarn ausgeliehen, aber einiges war so sperrig, dass sie nicht umhin kam, mehrere Male hierher zu kommen. Aber Alles in Allem lohnte es sich schon. Abzüglich der nicht gerade geringen Standgebühr hatte sie schon mehrere hundert Euro eingenommen. Was sie sich mit dem Erlös leisten wollte, wusste sie noch nicht. Vielleicht ein schönes Wochenende im Süden? In sauberer Luft. Sie liebte das Meer. Aber auch die Berge hatten ihren Reiz. Sie war immer noch Schweizerin, obwohl sie hier in Frankreich geboren und aufgewachsen war. Eigentlich verband sie nichts mit der ursprünglichen Heimat ihrer Familie, deren letzte Generationen immer wieder zwischen Frankreich und der Schweiz hin und her getingelt waren. Das meiste kannte sie nur aus den Erzählungen der Großmutter, die selbst schon in Frankreich aufgewachsen war, und von den wenigen Besuchen bei entfernten Verwandten in den schweizerischen Bergen. Aber ihre Nationalität erleichterte ihr die Ausübung und das eventuelle Weiterkommen in ihrem Job. Sie hatte Sprachen an der Sorbonne in Paris studiert und arbeitete als Botschaftssekretärin in der schweizerischen Botschaft in der Rue de Grenelle. Sie sprach herkunftsbedingt französisch, deutsch und italienisch und hatte zusätzlich englisch und russisch gelernt. Einerseits war ihre Arbeit in der Botschaft abwechslungsreich und spannend, andererseits war sie auch froh, wenn sie nach Feierabend oder an freien Tagen ihre Ruhe hatte. Dann zog sie sich in ihr kleines Reich zurück, schmuste mit ihrem Kater, las ein spannendes Buch und probierte die neuesten Kochrezepte aus. Gelegentlich traf sie sich mit ihrer Freundin Sandrine zum Bummeln, wobei sie letztendlich meistens in irgendeinem Café strandeten, reichlich Milchkaffee tranken und über die Passanten herzogen.

    Eigentlich wollte Sandrine doch vorbeikommen, dachte sie. Allzu viel ist heute sowieso nicht los bei diesem grauen Wetter, dann könnten wir wenigstens ein bisschen quatschen.

    So in Gedanken vertieft, bemerkte sie gar nicht den großgewachsenen Mann, der bereits seit einiger Zeit vor ihrem Stand verweilte und eines der Fundstücke von Oma Fernandes Speicher in der Hand hielt.

    Hatte da nicht gerade etwas geblitzt?

    Ungläubig ging er den halben Schritt zurück, um den möglichen Winkel von gerade wieder herzustellen. Aber nichts passierte, kein Funken, kein Blitzen. Offensichtlich doch nur eine Lichtspiegelung. Und das bei absolut sonnenfreiem Wetter. Dennoch hatte etwas seine Neugier geweckt.

    Eigentlich schaute er nicht wirklich nach etwas Bestimmtem, zugegebenermaßen nach gar nichts. Er wollte nur mal an die frische Luft, sich die Füße vertreten, auf andere Gedanken kommen. Und da er schon seit je her Flohmärkte mochte, hatten ihn seine Schritte ganz gedankenverloren hierher geführt. Die ganze Nacht hatte er schlaflos in seinem Hotelbett verbracht, damit beschäftigt die Ereignisse des vergangenen Tages gedanklich zu sortieren und weitere Schritte zu überlegen.

    Seit zwei Tagen war Brian bereits in Paris auf der Suche nach seinem Vater. Gequält von einem unguten Magengefühl und einem schlechten Gewissen war er hierher gereist, in der Hoffnung, den erst kürzlich so überraschend wieder hergestellten Kontakt wieder zu finden. Und dann hatte er ihn sofort wieder verlorenen. War etwas passiert, oder war es nur die Rache eines verbitterten Mannes? Über zehn Jahre lang hatten Vater und Sohn nicht miteinander gesprochen, keiner hatte Verständnis für die Reaktion des anderen gezeigt. Und keiner konnte über seinen Schatten springen, den ersten Schritt der Versöhnung zu machen.

    Und dann kam plötzlich dieser Anruf. Sein Vater hatte ihn völlig unerwartet und ohne Vorgeplänkel um Verzeihung gebeten und ihn schnellstmöglich wiedersehen wollen. Man solle sich doch zusammensetzen und über alles reden. Er sei für ein paar Tage in Paris und da wäre es doch schön, wenn man die Chance nützte. Sie hatten sich im Restaurant Robespierre am Montmartre verabredet. Für Brian keine weite Anreise aus seiner zweiten Heimat Deutschland. Und Zeit hatte er auch, viel zu viel sogar. Er hatte keine Sekunde gezögert zuzusagen, aber mehr aus Verwunderung über die plötzliche Sinneswandlung, als aus Überzeugung. Wollte sein alter Herr sich tatsächlich mit ihm versöhnen nach all den Jahren? Sie hatten sich früher immer großartig verstanden und der Bruch zwischen ihnen war genau betrachtet lächerlich und nichts, worüber man nicht hätte sprechen können. Aber nachdem einmal der Zeitpunkt für eine Aussprache vorbei war, verbarrikadierten sich beide hinter dem eigenen Stolz.

    Aber nun hatte Brian sich auf den Weg gemacht, war mit dem Zug von Berlin nach Paris gefahren und pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt zu dem Restaurant gekommen. Sein Vater war allerdings nicht erschienen. Brian hatte über zwei Stunden gewartet und sich geärgert, nicht vorher wenigstens die Handynummern ausgetauscht zu haben. Aber je länger er dort gesessen hatte, desto zorniger war er geworden, denn er hatte mehr und mehr das Gefühl bekommen, dass ihn sein Vater aus reiner Bosheit herkommen ließ, um ihn dann zu versetzen. Irgendwann hatte er die Nase voll und war zurück zum Hotel gegangen, wobei er sich noch eine Flasche Whisky mit aufs Zimmer genommen hatte. Und mit jedem Glas war er ruhiger geworden und hatte überlegt, ob nicht doch ein anderer Grund seinen Vater am Kommen gehindert haben konnte. Und je mehr er gegrübelt hatte, desto auswegloser war ihm die Situation erschienen, da er nicht wusste, wo sein Vater zu finden war, und umgekehrt der alte Herr ihn nicht erreichen konnte. Er hatte seinen Anrufbeantworter zuhause angerufen, in der Hoffnung, dass ihn dort vielleicht eine Antwort erwartete, aber bis auf einen Anrufer, der nur ein Gurgeln auf dem Band hinterlassen hatte, war keine Nachricht dagewesen.

    Obwohl durch genügend Alkohol in die Welt der Träume geschickt, hatte Brian in dieser Nacht wie gewohnt unruhig geschlafen. Am nächsten Morgen hatte er sich dann nach einem ausgiebigen Frühstück überlegt, welche realistischen Möglichkeiten es vor Ort gab seinen Vater zu finden, oder ob es nicht besser sei, gleich wieder die Heimreise anzutreten. Er war dann zu dem Schluss gekommen, zu dem Restaurant zurückzukehren, um zu fragen, ob sein Vater vielleicht am Vorabend doch noch aufgetaucht war. Dies war jedoch nicht der Fall gewesen, woraufhin Brian sich entschlossen hatte, zur Polizei zu gehen.

    Brian griff nach der seltsamen Uhr, die ihm unter all den Antiquitäten ins Auge gefallen war. Sie sah ungewöhnlich aus, eigentlich gar nicht wie eine Uhr. Trotz des altmodischen Gehäuses, das auf ein älteres Exemplar hindeutete, war die Größe und Machart eher modern. Und dann dieser deplaziert wirkende Spiegel in der Mitte. Er sah aus wie ein alter Bildschirm in Miniaturgröße und schien gar nichts mit der Uhr zu tun zu haben. Dennoch machte ihn diese Apparatur neugierig. Und sei es aus rein beruflichem Interesse. Schließlich war er gelernter Uhrmacher, auch wenn seine berufliche Praxis ein Jahrzehnt zurücklag und er sich seitdem nur noch als reiner Sammler und Nutzer von Zeitmessern aller Art damit beschäftigte. Aber gerade diese Sammelleidenschaft ließ ihn jetzt diese Uhr näher betrachten. Es gibt verschiedene Gründe warum Menschen Dinge sammeln, aus Passion, aus Langeweile, aus Zufall. Manche wollen die teuersten Exemplare besitzen, manche die schönsten und manche eben die seltensten. Und solch ein Sammler war Brian. Es mussten nicht unbedingt wertvolle oder besonders attraktive Uhren sein. Sie mussten einfach nur anders als das Gewöhnliche sein.

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