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Frequenzwechsel: Ein Schiffsfunker erzählt sein bewegtes Leben
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Frequenzwechsel: Ein Schiffsfunker erzählt sein bewegtes Leben
eBook586 Seiten7 Stunden

Frequenzwechsel: Ein Schiffsfunker erzählt sein bewegtes Leben

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Über dieses E-Book

Hans Patschke erzählt in diesem Band aus seinem Leben im bewegten 20. Jahrhundert. Kindheit in der Kaiserzeit und während des ersten Weltkrieges in Tilsit, Jugend unter den Vorzeichen von Weimar und Weltwirtschaftskrise, NS-Zeit und 2. Weltkrieg, mühevoller Neuaufbau nach totalem Zusammenbruch, das waren für ihn einschneidende Frequenzwechsel. Er befuhr von 1926 an, zunächst vor dem Mast, ab 1936 als Schiffsfunker auf Bergungsschleppern bei Bugsier und ab 1953 bis 1971 auf Frachtschiffen in der Linienfahrt weltweit die Ozeane. Hans Patschke schreibt und reflektiert hintergründig über ein Leben in schweren und schönen Tagen. Die Seefahrt war seine Leidenschaft von Jugend an und blieb es bis in sein hohes Alter hinein.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Apr. 2014
ISBN9783847683377
Frequenzwechsel: Ein Schiffsfunker erzählt sein bewegtes Leben

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    Buchvorschau

    Frequenzwechsel - Hans Patschke - Herausgeber Jürgen Ruszkowski

    Vorwort des Herausgebers

    Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

    Im Februar 1992 begann ich, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags": Seemannsschicksale.

    Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften zu meinem Buch. So schrieb Herr Erwin M.: „…es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen mitzuteilen, wie sehr ich mich freue, dass ich - mehr durch Zufall - an die von Ihnen herausgegebenen Bücher gelangt bin.  Ich habe zuerst eines gehabt, aber schon nach dem Lesen einiger Seiten zwei weitere Bücher bestellt und erhalten.  Mit Sicherheit haben Sie mit der Herausgabe dieser Bücher Ihr Lebenswerk gekrönt, das aber ja sowieso in Ihrer aktiven Zeit wohl im Dienste der Seeleute stand. Was Sie schriftlich festgehalten haben, ist ein Stück Zeitgeschichte, Zeitdokumente aus einer Epoche der Seefahrt, die unwiederbringlich der Vergangenheit angehört. Sie schreiben in der Sprache der Seeleute, vor allem der einfachen, die nicht unbedingt Karriere bei der Seefahrt machten.  Aber auch die Patentinhaber können sich mit dem Geschriebenen identifizieren, sofern sie ihre Jahre vor dem Mast nicht leugnen.  So, wie Sie es schildern, ist es gewesen, realistisch, sozialkritisch betrachtet. Ihr großer Verdienst wird vor allen Dingen sein, dass Sie in Ihren Büchern noch wirkliche Zeitzeugen zu Wort kommen lassen, von denen es in 25 bis 30 Jahren keine mehr geben wird. Auch ich gehöre zu diesen Spezies von Seeleuten, die Sie beschreiben und die bei der heutigen Seefahrt wohl kaum noch anzutreffen sind.  Viele der in Ihren Büchern beschriebenen Personen sind mir persönlich bekannt und in guter Erinnerung, wie z.B. Schorsch, der Kellner, Max Timm vom „Stall oder Gretel aus der Washington-Bar.  Ebenso habe ich viele der geschilderten Häfen, Länder, Schiffe und Orte in Erinnerung, die so realistisch beschrieben werden. In den 1950/60/70er Jahren fuhr ich als Matrose auf 17 Handelsschiffen aus Lübeck, Hamburg und unter der Flagge Panamas.  Hunderte von Häfen sah ich, über 80 Länder und alle fünf Erdteile.  Ich gelangte mehrmals durch die Magalhanstraße in beiden Richtungen.  Mehrmals kam ich den Amazonas hinauf bis nach Manaus.  Ich durchfuhr die indonesische Inselwelt, sah die chinesische Mauer, Shanghei, Hongkong, Bangkok, Singapore, fuhr sieben Monate in der australischen Küstenfahrt und Neuguinea – Carpentariagolf und Barrier Reef, war auf der Insel Fernando Norouha, wohin kaum jemals ein Schiff bestimmt ist, fuhr in der Westafrikafahrt, US-Westküste, Süd- und Californienküste, Westindien und Kanada, Suez und die Cook-Straße, sah das Weiße Meer und auch das Schwarze.  Meine Schiffe waren große Stückgutfrachter von Rickmers, Woermann und H. Schuldt.  Ich fuhr auf Tankern, Bananenjägern, Viehtransportern und auf einem Bergungsschlepper. Hunderte von Menschen sind mir in den bewegten Jahren meiner Seefahrt begegnet. Wie vielen Nationalitäten, Rassen oder verschiedene Charaktere begegnete ich, mit denen man manchmal für lange Reisen in der Enge des Bordbetriebes zusammenlebte.  So entstanden schon hin und wieder konfliktträchtige Situationen, in denen man schon einiges an Menschenkenntnis erlernt. Seit geraumer Zeit bin ich - im Rentenalter - dabei, meine Seefahrtzeit schriftlich festzuhalten... Ich wünsche mir, dass Sie noch einmal zur Feder greifen und irgendwann noch einen weiteren Band herausbringen. An dieser Stelle danke ich Ihnen mit großer Aufrichtigkeit für Ihre große Mühe, die Sie den Seeleuten einer vergangenen Zeit haben angedeihen lassen.

    Diese positiven Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage ermutigen mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Diese Zeitzeugen-Buchreihe umfasst inzwischen mehrere Dutzend maritime Bände.

    In diesem Band 37 können Sie wieder Erlebnisberichte, Erinnerungen und Reflexionen eines Seemanns kennen lernen, der von 1926 bis 1971 zunächst vor dem Mast in der Nordsee und nach Westafrika, Nordamerika, Norwegen, Russland, später als Funkoffizier auf Bergungsfahrzeugen und Frachtschiffen weltweit nach Nord- und Südamerika, Ostasien, Australien und Südafrika unterwegs war. Er erzählt nicht nur von seinen interessanten Bergungseinsätzen und Schiffsreisen, von den Bordkameraden, von den Lebens- und Arbeitsbedingen in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeiten, sondern reflektiert sehr hintergründig und tiefsinnig die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe der von ihm durchlebten und erlebten wechselvollen Epochen des 20. Jahrhunderts von der Kaiserzeit seiner Kindheit über seine Jugend während der Weimarer Republik, der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, der Zeit des „Dritten Reiches" mit seinem katastrophalen Ausgang für das deutsche Volk und den Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg. Die von ihm bereisten Erdteile, Länder und Häfen werden vom Autor gründlich beschrieben, seine dortigen Erlebnisse und Beobachtungen hintergründig kommentiert. Der Leser spürt immer wieder die Leidenschaft, mit der Hans Patschke zur See fuhr und wird von seinen begeisternden Erzählungen mitgerissen. Im hohen Alter musste er noch erleben, dass sein geliebter Seefunker-Beruf durch die Sateliten-Technik ausstarb.

    Herrn Kapitän Behrend F. Hein, jahrelang Seelotse in Cuxhaven, danke ich für die Bereitstellung des von seinem väterlichen Freund Hans Patschke vor 1982 verfassten Textes, den Kindern des Autors für die Einwilligung zur Veröffentlichung als Buch.

    Herrn Egbert Kaschner (†) (http://kleinschwansee.de/) sei für die Korrekturhilfe herzlich gedankt.

    Hamburg, 2008 – 2014 Jürgen Ruszkowski

    Frequenzwechsel

    Lebenserinnerungen des Funkoffiziers Hans Patschke,

    * am 29.11.1906 in Tilsit † 2002 im Alter von 95 ½ Jahren

    Aufgezeichnet im Rentenalter bis 1982 in Wedel/Holstein

    Prolog

    Die folgende umfangreiche Niederschrift ist weder ein schillernder Roman, noch eine literarische Lebensbeichte, sie soll vielmehr in einer interessant lesbaren Form den teilweise weit ausholenden Bericht eines nach Ansicht des Autors erfüllten Berufslebens darstellen. Sie ist als Nachschau gedacht für Familie und Freunde des Schreibers bzw. für Bekannte, die, in welcher Form auch immer, besonders am Ablauf seines Berufslebens interessiert oder dessen teilhaftig gewesen sind. Es wird im Übrigen versucht werden, eine neutrale, objektive und natürlich wahrhafte Schilderung des Gewesenen zu geben, soweit das auf Grund des wachen Erinnerungsvermögens nach vergangenen sieben Jahrzehnten des Erzählers überhaupt noch „aktenkundig sein kann. Die einzelnen Lebensphasen sind an Hand vorhandener Dokumente soweit noch gut nachprüfbar gewesen, und darum mussten die darin enthaltenen Daten als Gerippe den Aufzeichnungen dienen. Es ist ferner anzunehmen, dass nach etlichen Jahren seit Ausgang eines Berufslebens, in diesem Fall der Seefahrtzeit des Autors, der nötige Abstand zum Geschehen der vermessenen Lebensbahn gegeben ist. Der Leser dieser Niederschrift mag jedoch auch immer dessen eingedenk sein, dass sich in sieben Jahrzehnten ein ewiger Wandel im menschlichen Beieinander und in der Umwelt als solcher, bedingt durch immer neue Erfahrungen des Geistes und veränderte historische Fakten, vollzogen hat. Ansichten von gestern gelten heute vielfach als überholt oder sind neuen Tendenzen unterworfen. Kurzum, ein steter „Frequenzwechsel bestimmte während des epochalen Zeitablaufs von siebzig Jahren auch mehr oder weniger eindringlich „mein Leben. Bei der Suche nach einer Überschrift für meine Lebenserinnerungen habe ich den Titel „Frequenzwechsel als viel gebrauchte Vokabel aus dem Wortschatz meiner ehemaligen Berufstätigkeit daher bewusst ausgewählt. Die Prägnanz des Fremdwortteiles Frequenz schien mir für die Schilderung meines bunten Lebens und Erlebens vergleichsweise durchaus passend zu sein. Wie sich elektrische Schwingungen von unterschiedlicher Häufigkeit (= Frequenz) – zwar unsichtbar‚ aber berechenbar – als fortlaufende Wellenbewegung mit Bergen und Tälern darstellen, so ähnlich schwingt auch menschliches Schicksal - allerdings dieses unberechenbar, dafür aber sichtbar - gewissermaßen in einer ewigen Wellenkurve mit unterschiedlichen Hochs und Tiefs. Den Verlauf dieser Kurve bedingen, vom unerforschlich Schicksalhaften abgesehen, hauptsächlich Mentalität, Naturell und Neigungen des Einzelwesens. Diese drei jedem Menschen anhaftenden Eigentümlichkeiten oder Gaben nutzt oder pflegt der einzelne mehr oder weniger in seinem Sinne und in bestmöglicher Anpassung an die Realitäten seiner Zeit. Die Summe alles Schaffens, Strebens und gegebenenfalls auch Versagens wird ihn bei der Beurteilung seines Lebenspfades an dessen Ausgang das Fazit ziehen lassen können, erfüllt oder unerfüllt gelebt zu haben oder, bildlich laut meinem Vergleich, in irgendwie wunschgemäßer Wellenbewegung geschwungen zu haben. Insofern bin ich selber meinem Schicksal dankbar, dass es mir zumindest ein Arbeitsleben in einem Wirkungskreis bescherte, in dem ich á conto Neigung und Veranlagung kontinuierlich hineinwachsen und mit ihm allmählich regelrecht verwachsen konnte. Meine langjährige Arbeitsfirma war damit ihrer soliden, steten Existenz ein guter und zuverlässiger Wegbegleiter, sie hielt mir die Treue, wie ich es ihr gegenüber tat. Die „Firma" wurde während bestimmt sehr unruhiger und wechselvoller Zeitläufe gewissermaßen mein ganzes Leben und darüber hinaus auch ein Garant für den Erhalt meiner Familie, von den persönlich ideell empfundenen Werten meines beruflichen Schaffens einmal ganz abgesehen. Viel herzlicher Dank meinerseits gilt daher der Bugsier-, Reederei-, Bergungs-Aktiengesellschaft Hamburg, die mir über 40 Jahre hinweg ein gerechter, verständnisvoller und darob hochgeschätzter Arbeitspartner gewesen ist.

    Herkunft, Kindheit, Jugend – 1006 - 1926

    Kindheit im Kaiserreich

    Wie auch immer die Konstellation der Gestirne ausgesehen haben mag, sie muss, hätte man sich die Mühe einer Nachprüfung seinerzeit oder späterhin gemacht, für den Neubürger des damals kaiserlichen Deutschlands am 29. November anno 1906 jedenfalls nicht ungünstig gewesen sein. An besagtem Tage wurde ich um 4:15 Uhr laut entsprechenden amtlichen Dokuments als zweiter Sohn des damaligen Oberpostassistenten Heinrich Patschke und seiner Ehefrau Elisabeth in Tilsit / Ostpreußen geboren und mit den Zunamen Hans, Paul, Theodor aktenkundig gemacht.

    Da die Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges zumindest für die deutschen Mittelstandsbürger eine irgendwie — jedenfalls äußerlich betrachtet - geruhsame und glückliche war, zum anderen der genannte Neubürger als Kleinkind und Kind kaum an und von den Weltgeschehnissen und jeweiligen Zeittendenzen interessiert oder beeindruckt sein konnte, verliefen seine ersten Lebensjahre ohne nennenswerte markante Erinnerungen, außer seinem noch unbewussten Fühlen, in stets liebevoller elterlicher Obhut zu sein. Natürlich steht einem heute rückblickend noch manches Bild oder Ereignis vor Augen, manche Kleinigkeit sogar so klar, als hätte sie sich erst kürzlich zugetragen‚ wenn dabei die Dimensionen Alter, Raum und Zeit außer Betracht bleiben. Ich denke da z.B. an die Weihnachtsbescherungen in den frühen Kinderjahren, meine Aufregung vor dem Gedichtaufsagen, dass der Opa mütterlicherseits — Großvater wohnte bei den Eltern — meines Bruders und meine Erwartungen vor dem Eintritt ins Festzimmer, unser beider Erregung durch Erzählen von kleinen Geschichten zu mildern versuchte, wie feierlich mich die Weihnachtsmelodien der Töne pustenden Stadtkapelle berührten. Diese Stadtmusikanten, von uns Kindern „Posauniers benannt, bliesen als emsige Musikamateure sicher mehr laut als schön, aber ihr Durchzug durch etliche Straßen der Stadt unter Abspielen von Weihnachtsklängen gehörte für uns eben zum Heiligabend, etwa, wie die Butter aufs Brot. Unerklärlich ist es mir heute, weshalb mich in früher Jugendzeit das Tuten dieser „musici mehr beeindrucken konnte, als im Gegensatz dazu die flotten und zweifellos gekonnt gespielten Märsche unserer zwei Tilsiter Militärkapellen, wenn letztere die von Felddienstübungen heimkehrenden Soldaten vom Stadtrand zu den Kasernen mit melodisch vernehmlichem Tschinderassa-Bum reinholten. Wahrscheinlich störte mich damals das Zackige der Uniformierten. Schließlich aber - Ostpreußen war ja eine Soldaten-Provinz - fand auch alles Soldatische, das speziell zu des Kaisers Geburtstag am 27. Januar jedes Jahres seinen besonderen Niederschlag auf Tilsits Bürger hinterließ, bei ihrer Teilnahme am Militär-Feldgottesdienst und dem daran anschließenden irgendwie farbenträchtigen Schauspiel vom Paradeaufmarsch der Tilsiter Garnisonstruppen (1. Dragoner-, 41. Infanterie-Regiment), meinen uneingeschränkten Beifall. In lebhafter Erinnerung sind mir außerdem aus jener Zeit drei in zweijährigem Abstand gemachte Sommerfrische-Reisen der Familie an die Ostsee, zweimal nach Neukuhren / Samlandküste, einmal - kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs - nach Försterei bei Memel. War ich als dreijähriger Bub‘ beim Seebad an sich und angesichts der uferlosen Weite des Meeres vor mir noch ein ängstlich schreiender, wasserscheuer Bursche, so scheint die riesige Wasserfläche zumindest vom ersten Anblick an auf mich bewusst oder unbewusst überaus beeindruckend gewirkt zu haben. Diese kindliche Faszination hat sich dann wohl allmählich in stille Zuneigung und schließlich Liebe zur mysteriösen Salzflut verwandelt und ist später in den Wunsch zu einem Leben auf See gemündet. Zweifellos haben zur Verwirklichung dieses Wunsches auch eine Masse anderer Faktoren beigetragen, beispielsweise gute See-Literatur und schulisch gewecktes Interesse für Entdeckungs- und Forschungsreisen auf unserem Erdball und alle Erkenntnisse der Geographie schlechthin.

    Und dazu kam noch die Memel, dieses Prunkstück Tilsits und aller Tilsiter, und sie war natürlich auch mein Fluss. Er gab mir vielleicht die stärksten Impulse, mich schon als kleiner Mann nach Überwindung aller Wasserscheu eingehend mit dem Wasser als solchem, als interessantestem Spielrequisit an seinen Ufern anfänglich zu beschäftigen, nur wenig später dann, dazu recht rasch, ein guter Schwimmer zu werden. Die Memel, in ihrem Oberlauf der russisch-litauische Njemen, war im Übrigen in meinen Augen etwas, was man lieben und unter diesen und jenen Umständen hassen konnte, besser gesagt, dem man mit stiller Ehrfurcht begegnen musste. Lieben konnte man diesen Strom, weil er dem Beschauer mit seinem auf respektabler Breite majestätisch-ruhigen Dahinfließen zwischen Stadt und Wiesenlandschaft hüben und drüben einen — auch für einen Fremden - prächtigen Anblick bot, besonders nachhaltig, wenn Sonnenstrahlen das Flusswasser gleißen und glitzern ließen. Schier fürchten konnte man diese Memel zum anderen, wenn sie im Winter und Vorfrühling imposante und schier unerschöpfliche Eismassen mit bizarren Schollengebirgen an ihren Rändern mit sich führte und ihr Hochwasser, aus dem fernen russischen Hinterland anlaufend, flache Wiesenniederungen auf dem rechten nördlichen Flussufer kilometerweit überflutete. Nur die wenigen hoch angelegten Chausseen und verstreut auf Wurten erbaute Gehöfte und Häuser überragten dann die in einen See verwandelte, der Stadt Tilsit gegenüberliegende Landschaft. Im Sommer waren Ausflugsfahrten auf kleinen Schaufelrad-Passagierdampfern besonders nach den stromauf auf hügligen Ufern gelegenen Lokalitäten für uns Kinder begehrte sonntägliche Anlaufziele. Wir schätzten sie mehr als etwaige Sonntagstouren per pedes in die stadtnahen Waldgebiete, wo Pilze und Beeren zum nachträglich billigen Verzehr zwar in rauen Mengen wuchsen, zuvor jedoch eben mühsam gesucht werden mussten, was Kindern bekanntlich den Spaß an der Freude zu verderben pflegt. Was besagte Memel für das Werden und Wachsen von Stadt und Region Tilsit beinhaltete, wurde mir natürlich erst in reiferem Alter bewusst, als ich mir über Art und Nutzen des Zusammenwirkens von Industrie und Fluss-Schifffahrt Gedanken zu machen begann, zumal via Memel auch eine direkte Wasserverbindung zu den Seehäfen Königsberg und Stadt Memel bestand. Dem Umfang der in Tilsit angesiedelten Industrien und Versorgungsbetriebe entsprechend war der rege Schiffsverkehr von und nach meiner Geburtsstadt. Dessen Beobachtung bei An- und Abfahrt und Ladungsumschlag faszinierte mich schon irgendwie als Knaben und nährte in Verbindung mit meiner Person mancherlei abenteuerliche Träume. Die an sich wegen des meist niedrigen Wasserstandes der Memel nur kleinen Flussfahrzeuge - Schlepper und Lastkähne mit Besegelung und teilweise Motoren in ihrem Inneren, letztere dortzuland „Boydacks genannt - und die mehr oder weniger dürftigen Hafenbecken und Umschlagsanlagen Tilsits wuchsen dann in meiner Vorstellung zu Erscheinungsformen von beachtlicher Größe und Bedeutung. Kurzum, die Memel mit allem Drin, Dran und Drauf war schon eine tolle Sache! Auch hinsichtlich der Holzdriften auf ihrem breiten Rücken. Im Sommer und Herbst trieben in schier ununterbrochener Folge unterschiedlich lange Holzflöße aus Litauen und Russland her den Fluss stromab zu den zahlreichen Sägemühlen dies- und jenseits der Stadt. Auf jeder mitunter an 100 Meter langen Drift hatten sich etliche Männer, die mit langen Puderstangen und Bootshaken die langsam schwimmende Plattform von Holzstämmen stromrecht zu halten bemüht waren, etliche kleine Strohhütten als zeitweilige Bleibe errichtet. Vor diesen Hütten wurde gebrutzelt und gekocht, und wenn ein „Künstler unter den paar Männern auf einer Drift war, dann spielte er auf einer Quetschkommode seinen Leidensgenossen „an Bord lustige und wehmütige Weisen vor. Wir standen als Kinder oftmals auf einer der beiden die Memel überspannenden Brücken Tilsits und bestaunten das Treiben der meist recht stabilen Männergestalten auf der Drift - sie wurden im Volksmund Dschzimkes genannt -, wenn diese ihre Flöße kunstgerecht zwischen den Brückenpfeilern hindurchzirkelten. Bei günstigem Wind kam mitunter auch eines der oben erwähnten großen Boydacks per Segelkraft stromauf angetrudelt, um am Stadtkai seinen Liegeplatz einzunehmen, ein malerisches Bild war das, man musste nur Zeit mitbringen, wenn man das Ereignis in allen Einzelheiten verfolgen wollte. Alles war jedenfalls für meine Person interessanter, als das alljährlich im Herbst zwei oder drei Wochen lange Jahrmarktsgeschehen mit Zuckerbuden, Karussells, Kinomatograph und Sensationsschwindel. Eine Wucht waren im Übrigen die Pferdemärkte auf dem Anger - größte Freifläche im Stadtinnern -‚ wo Bauern, Juden und Zigeuner einander wortreich im Handel um oft armselige Zossen von Gaul zu übervorteilen versuchten. Wir Kinder waren zweifellos an Eindrücken und Reizwirkungen natürlicher und realer Art just so ausgelastet, wie die heutige junge Generation vor dem Fernseher oder bei künstlich gestalteten, oft nostalgisch motivierten „Spektakeln. Noch einmal kurz zurück zur Memel: Sie war Tilsits Tor zur „weiten Welt schlechthin. Sie teilte sich weit stromab hinter Tilsit in zwei Arme, die beide in das Kurische Haff mündeten. Auf dem Haff erreichte man direkt mit nördlichem Kurs die Seehafenstadt Memel, mit südlichem via Kanal einen Nebenfluss des Pregels und den oder die Pregel selbst, die Provinzhauptstadt Königsberg, das wiederum selbst per Seekanal durch das Frische Haff Ostseehafen war. Beide Fahrtwege waren landschaftlich sehr reizvoll und mit ihren zum Teil menschenleeren Ufern und der eigenartig schönen weiträumigen Landschaft dahinter eine wahre Perle für aufmerksame Wanderer, enthusiastische Naturforscher und Kunstmaler. Als Schüler auf den oberen Klassen lernte ich die genannten Gewässer und deren Umgebung — incl. Kurischer und Frischer Nehrung sowie die Samland-Küste dazwischen, also die gesamte ostpreußische Seeküste — kennen und irgendwie innig lieben. Diese auf Schul- und Ferienfahrten erfolgte frühzeitige Berührung mit allen möglichen maritimen Dingen in stetem Verein mit behutsam erweckter Wanderlust, stiller Begeisterung über die Vielfalt der Umwelt und allmählich geschultem Weitblick mag vielleicht neben den ersten gegenständlich noch vagen Kindheitseindrücken meine spätere Hinneigung zur Seefahrt umso mehr bestärkt haben. Bezogen auf das Endresultat der Berufswahl hat sich vergleichsweise das „Häkchen schon frühzeitig „gekrümmt".

    Das Kapitel Kindheit möchte ich nun nicht abschließen, ohne vorher meiner Eltern in einigen wenigen Sätzen gedacht zu haben und ihnen nachträglich meinen tief empfundenen Dank für ihre dem Kleinkind und Kind gespendete Liebe und nach meinem Empfinden verständnisvolle Erziehung und bestmögliche charakterliche Lenkung zuteil werden zu lassen. Vermutlich war ich in Naturell und Veranlagung kein schwierigeres oder problemloseres Kind, als die Mehrzahl aller anderen Kinder damals oder heute, also mit guten und schlechten Eigenschaften wie jeder Menschensprössling zu etwa gleichen Teilen und in mehr oder weniger ausgeprägter Weise belastet. Das objektiv richtig zu beurteilen, entzieht sich für meine „Frühzeit" einer möglichen Einschätzung. Ich möchte aber annehmen, dass dieses physisch in summa wohl gesunde, körperlich sonst schmächtige und damals für Erkältungskrankheiten sehr anfällige Kind, das sich oftmals dickköpfig, jähzornig und seinen Spielgefährten gegenüber selten ängstlich und kontaktarm zeigte, seitens seiner Eltern mit behutsamer und geschickter Hand geführt werden musste. Von welchem Elternteil mehr Erbgut übernommen wurde, mag dahingestellt bleiben, im Nachhinein betrachtet scheint es jedenfalls eine gute Mischung gewesen zu sein, was mir die Eltern für meinen Weg durchs Dasein als stete Begleitung mitgaben. Bild und Eindruck heute von meinem Vater: gütig und verständnisvoll, fleißig und getreu in aller Pflichterfüllung, honorig und korrekt in seinem Habitus, ein sorgsames Oberhaupt für seine Familie, ansonsten ein konservativer Mann in seiner Geisteshaltung, aber durchaus kein Untertan seiner Obrigkeit, kurz gesagt, der Urtyp eines kaiserlich-preußischen Beamten, der er rechteigentlich bis zu seinem mit 63 Jahren zu frühen Tod (1934) trotz Weimar und Drittem Reich allzeit blieb. Seine hohe Moral versteht sich nach geschilderten Aktiva von selbst. Alles in allem also war Vater ein braver Preuße von gutem Schrot und Korn, der einerseits den Seinen lebte, andrerseits - wie konnte es derzeit auch anders sein - dem Kaiser gab, was des Kaisers war. Seine Vorfahren rekrutierten sich laut Familien-Stammbaum aus kleinen Handwerkern, beharrlichen Landwirten, Müllern und staatlichen Bediensteten oder Beamten. Für einen Bürger seines Standes mit erreichter Obertertia-Schulreife war Vaters umfangreiches Wissen in Geschichte und Literatur irgendwie erstaunlich. Er hatte sich wohl vieles davon als Autodidakt aus Büchern, Zeitschriften oder durch Theaterbesuch ihn interessierender Aufführungen - in Königsberg / Preußen und Leipzig – angeeignet. Seine Erkenntnisse, sowohl im Schöngeistigen, als auch im Historischen und daraus ableitbaren Realen, wie er es jedenfalls sah, versuchte er, seinen beiden Söhnen schon so früh wie möglich mitzuteilen — wie ich glaube mit gutem Erfolg. Darüber hinaus hatte er im Punkte Kindererziehung oftmals eine vielleicht überflüssigerweise harte Hand und war nach heutiger Lesart in summa ein gestrenger Vater. Daher gingen wir Kinder mit unseren Sorgen mehr zur Mutter, zumal sie in ihrer Ausgeglichenheit ein überaus guter Vertreter ihres Typs war. Daneben zeichnete sie eine einzigartige Bescheidenheit und Selbstlosigkeit in ihren Ansprüchen an des Daseins Äußerlichkeiten aus. Wir zählten nicht zu den wohlhabenden Familien, es gab aber bei uns weder Mangel noch Geiz in Abwicklung des Familienunterhalts und der sonstigen Verpflichtungen, Mutter war eben auch eine gute und geschickt sparsame Hausfrau. Ihre Vorfahren waren teils Landwirte, teils Landschullehrer gewesen mit hier und da vereinzelten Vertretern des akademischen Standes dazwischen. Gegenüber ihrem prinzipientreuen und ehrempfindlichen Ehepartner mag sie es in puncto Kindererziehung nicht immer ganz leicht gehabt haben, aber trotzdem scheint sie darin mit diplomatischem Geschick letztlich dennoch viele ihrer Ansichten und Meinungen durchgesetzt zu haben. Nachträglich möchte ich jedenfalls beiden Elternteilen - Vater starb 1934, Mutter 1959 - meinen innigen Dank sagen für all das, was sie an Gutem und Schönem für mich und meine charakterliche Entwicklung getan, beziehungsweise mir für das Leben mitgegeben haben.

    Schulzeit – 1. Weltkrieg

    Die im Folgenden beschriebene Zeit bringt zur Hauptsache eine Aufzeichnung von äußeren Geschehnissen in Verbindung mit meiner Person, sie umfasst die Jahre 1913 bis 1926, meine Schuljahre und den Ablauf des 1. Weltkriegs nebst seinen Folgeerscheinungen, kurzum die Entwicklungsphase vom Kind zum jungen Mann. Im Frühjahr 1913 wurde ich in die Gymnasium-Vorschulklasse „Nona in Tilsit mit mehr oder weniger freudigen Erwartungen meinerseits aufgenommen. Mein erster Lehrer, ein großer‚ schlanker Herr mit dem Ruf eines gestrengen Pädagogen, flößte mir einen riesigen Respekt ein, und das war wohl bei der ganzen Horde von über 30 Mitschülern der Fall, „Demonstrationen irgendwelcher Art wären vermutlich im Keime erstickt worden. Wir lernten jedenfalls das ABC, Lesen und Rechnen mit angemessenem Pflichteifer und mit dem unbewussten Gefühl, solches unseren lieben Eltern und der Reputation dieser einzigen Tilsiter Vorbereitungsanstalt für den ferneren Besuch eines Gymnasiums schuldig zu sein. Dass Schule keine Idylle war, war den damals mit einem solchen Schulanfang irgendwie privilegierten Kindern bereits vorher daheim eingetrichtert worden, wir lebten ja derzeit im kaiserlichen Deutschland, wo bei einer Bewahrung Bildungsvorzüge mit später höherer gesellschaftlicher Einstufung belohnt werden konnten. Welcher Sohn sollte übrigens in Zukunft nicht einmal mehr erreichen, als es dem Vater je geglückt war. Nun, ich lernte rasch und leicht und war züchtig, das zumindest unter einem gewissen Zwang, aber gern ging ich nicht zur Schule, und das traf für die ganze Schulzeit von 13 Jahren zu. Ein Schüler „comme il faut (mustergültig) war ich demnach nie, auch nicht als ABC-Schütze mit anfänglich bester Rangordnung laut Zeugnis-Zensuren. Das gab es nämlich damals noch sogar in der Vorschule, und wer unter den ersten sechs guten Schülern seiner Klasse war, schien fast schon den berühmten „Marschallstab im Tornister zu tragen. Dass wir Deutschen damals, zum Teil à conto vieler alter, abgetragener Hüte, schon auf einem Vulkan saßen bzw. die alte gute Zeit sozusagen in ihren letzten Zuckungen lag, das wussten oder ahnten vielleicht manche Erwachsenen, wir Kinder oder Schüler natürlich keineswegs.

    Das erste Erwachen aus dem gewohnten Tagesablauf brachte am 1. August 1914 der Ausbruch des ersten Weltkrieges. Ich erinnere mich sehr gut der letzten Wochen vor Kriegsbeginn. Die Eltern und wir beiden Söhne weilten just während der langen Sommerferien im kleinen Seebad Försterei bei Memel. Dieser unbedeutende, anspruchslose Badeort ist in meiner Erinnerung mit seinen verschwiegenen Wäldern und Heide-Freiflächen ringsum dicht am Rande der Ostsee ein wahres Paradies für Kinder und Erholungssuchende gewesen. Ein breiter Sandstrand säumt die flache Küste, Menschen sind im Uferland, soweit man es nach Norden und Süden überschauen kann, nur als vereinzelt eingesprenkelte dunkle Punkte auszumachen, zum anderen sieht man draußen auf dem Meer nur selten ein Schiff vorüberziehen. Die Welt scheint, so wie sie sich dem Beschauer äußerlich dartut, nur angefüllt mit Schönheit, Freude und Frieden, den ewigen, so trügerischen Sehnsüchten des Menschen. Dass die Luft über und um uns seit längerem unheilgeschwängert und mit politischer Spannung inzwischen bis zum Überdruck aufgeladen ist, weiß jetzt wohl jeder erwachsene Deutsche, auch wenn es dieser oder jener vielleicht nicht wahrhaben mag. Schließlich merken selbst wir Kinder etwas davon, erahnen die Brisanz des kommenden Geschehens um so mehr, als unsere Nachbarn in der Ferienbleibe, zwei Offiziersfamilien und unser netter deutsch-russischer Freund samt seiner Mutter, über Nacht sozusagen abreisen. Die beiden Offizier-Väter sollen zur Truppe zurückgerufen sein, heißt es unter den noch verbliebenen Sommergästen. Dann muss Vater vorzeitig zum Amt zurück, und jüngere Männer unter den Sommerfrischlern erhalten Gestellungsbefehle zum Wehrdienst. Als Kind weiß man dann noch nicht so recht, warum die Mütter und Frauen auf einmal und schier unmotiviert so viel weinen müssen, weshalb Abschiednehmen so schrecklich sein muss, dass nun auch manche Kinder, die Mädchen zumindest, mit dem Flennen anfangen. Eigentlich ist es doch nun schade, dass man die Ferien in einem Paradies wie Försterei nicht mehr ganz auskosten kann. Für einen kleinen Jungen ist Krieg, den die Erwachsenen so schrecklich ernst zu nehmen scheinen, doch eine irgendwie forsche Angelegenheit ‚ jedenfalls oder zumindest nach den herrlichen Bildern aus Vaters Prachtbild-Bänden über den „Alten Fritz und die Befreiungskriege 1813/14. Siegreich marschiert sind die Deutschen übrigens auch 1870/71, nach den Bildern aus allen jenen Kriegen gibt es ja nicht nur Tränen, sondern sichtbar weitaus mehr Begeisterung und forschen Siegeswillen der ausziehenden Krieger. Dass dieser Krieg dann in der Folge nicht ganz so harmlos war, militärische Rückschläge die anfängliche Besserwisserei und Begeisterung bald erheblich dämpften und stiller Resignation Platz machten, dafür sorgten die ab Kriegsbeginn per Bahn, Flussschiffe und LKW einkommenden Verwundeten-Transporte und die sehr variablen Kriegsberichte in den Tageszeitungen. Die laufend sich verschlechternde Ernährungslage und die stetig anwachsende Zahl der Kriegsgefallenen ließen noch weniger Gedanken an eine rasche Beendigung und einen glücklichen Ausgang des Krieges keimen. Wir Kinder im militärischen Aufmarschgebiet Ostpreußen, nicht fern von der Grenze zu Russland hörten und sahen jede Menge vom Krieg und seinen Schrecknissen, vom Überleben und Sterben. Wir waren auch 1915, als die deutsche Offensive gegen die schnell kampfmüde gewordenen Russen einsetzte, viel unterwegs, um Kuchen und Früchte an unsere „Krieger und verwundeten „Helden zu verteilen, die an die Front fuhren oder von ihr her zurückkamen. Die Front war ja, zumindest in den ersten Kriegsmonaten, sozusagen in allernächster Nähe. Der Schulbetrieb lief anfänglich nach Kriegsausbruch der vielen eingezogenen Lehrer wegen ziemlich auf Sparflamme, die Schüler lernten trotzdem eine Menge, und die Ersatzpauker, Pensionäre oder Lehrerinnen, waren den Wissensdurstigen gegenüber keineswegs nachsichtiger und zarter, als deren frühere amtlichen, ausschließlich männlichen Vorgänger. Einen Schulausfall hatte ich nur im September / Oktober 1914, als Mutter mit uns Kindern - Vater kam später auch nach – zu Verwandten nach Oliva bei Danzig geflüchtet war. Wir entgingen damit der etwa dreiwöchigen Besetzung Tilsits durch die Russen. Auch nach Rückkehr aus Oliva war noch monatelang danach die Gefahr einer nochmaligen Eroberung der Stadt durch den „Feind sehr groß. Auf dem Memel-Nordufer befand sich nur ein schmaler Gebietsstreifen in deutscher Hand, der Russe hielt den ganzen Nordzipfel Ostpreußens, also auch das paradiesische Försterei - mit relativ starken Kräften besetzt. Es blieb uns allen Tilsitern unverständlich, dass damals im ersten Kriegswinter der russische „Moloch angesichts unserer schwachen Verteidigungskräfte nicht zum erneuten Angriff auf unsere Stadt überging. Tilsit wurde nicht einmal mit Artillerie-Beschuss konfrontiert. Die für die deutschen Armeen erfolgreiche Schlacht bei Tannenberg schien die Angriffsinitiativen der obersten russischen Heerführung entscheidend gelähmt zu haben, und der Deutschen Glaube an den Tannenberg-Sieger Hindenburg als Garanten für ihren Schirm und Schutz war so unerschütterlich, dass niemand der Tilsiter an ein nochmaliges Flüchten dachte. Im Übrigen hatten sich die russischen Eroberer seinerzeit in Tilsit sehr anständig und zurückhaltend gezeigt, wie es uns auch unser daheim gebliebener Großvater damals bestätigte. Ich entsinne mich zum anderen, dass wir den Anfang Dezember 1914 verstorbenen Großvater (mütterlicherseits) unter fern grollendem Geschützdonner zu Grabe trugen, über Memel im Übrigen einzelne in Brand geschossene Gehöfte vom höher gelegenen Friedhof aus zu sehen waren. Was Krieg heißt, hat sich also schon recht früh in mein Gedächtnis eingeprägt. Da ich zum anderen bei Kriegsbeginn noch sehr jung und unreif war, erlaubte mir das Gesehene noch keine Folgerungen hinsichtlich einer Beurteilung vom Ernst der Lage und darüber hinaus vom Krieg mit seinen Schrecken als solchem. Das wurde mir erst im weiteren Verlauf dieses Ringens um Sieg oder Niederlage á cto des stetig zunehmenden Darbens und Hungerns eindringlicher bewusst. Der für Deutschland unrühmliche Kriegsausgang 1918 musste bei mir als Kind, das in Elternhaus und Schule in zweifellos nur einseitiger und z. T. überspitzter patriotischer Denkungsart ausgerichtet und erzogen war, daher naturgemäß einen bitteren Beigeschmack hinterlassen. Noch heute steht mir im Übrigen im Vollzug der Umwandlung des Althergebrachten 1918 das lebhaft vor Augen, was in Tilsit diesem Prozess in Form von Plünderung und Verwüstung der örtlichen Geschäfte und Kaufläden durch den Mob vorausging. Es stellte umgekehrt des Pöbels Hass gegen die gute alte Ordnung und das Militär als deren Garant sehr in Frage, als er mit seinen inzwischen zahlreich gewordenen Sympathisanten seinen lauthals propagierten Widerstand gegen die heimkehrenden Reste der beiden Tilsiter Regimenter schlichtweg vergaß. Schließlich zogen die Truppen wider das Veto des hiesigen Soldatenrates in geschlossener Formation und mit klingender Marschmusik vom Bahnhof her zu den Kasernen. Die in vier Kriegsjahren „brutalisierten Soldaten hätten unter Umständen ja schießen können - wahrscheinlich hatten die Männer nach erfolgter Kapitulation und Auflösung der kaiserlichen Wehrmacht überhaupt keine Munition mehr bei sich -, aber, wie dem auch sei, Krieg und Revolte sind recht eigentlich eben nur schön ohne das Risiko eines „Helden- oder „Märtyrer-Todes, dabei zu sein ist vielleicht gut, zu überleben ist besser, hinterher gegebenenfalls etwa vorhandene Rosinen aus dem Kuchen zu picken, ist am besten. Von den Schuljahren 1914-1918 gibt es sonst aus dem persönlichen Bereich wenig zu berichten. Ostern 1916 wurde ich in die Sexta des Tilsiter Realgymnasiums als hoffnungsvoller Anwärter auf spätere Würden übernommen, meine gute Versetzungs-Rangnummer der letzten Vorschulklasse (Septima) ließ wohl diesbezüglich einiges erwarten. Das heißt jedoch keineswegs, dass inzwischen bei mir eine Art Liebe für die Schule als solche aufgekeimt war. Nichtsdestoweniger war ich auch weiterhin auftragsgemäß fleißig und begriff in allen Fächern das Dargebrachte recht rasch. Heute meine ich, dass meine jeweiligen Pauker mit vielleicht ganz wenigen Ausnahmen auch gute Pädagogen waren. Frühzeitig entwickelten sich überdies Deutsch, Erdkunde und Geschichte zu meinen Lieblingsfächern, für die ich zweifellos sowohl in den Schulstunden als auch zu Hause gerne gelernt und gearbeitet habe. Dem auf Sexta beginnenden Französisch galt meine Sympathie nicht. Dank meines erwähnten Fleißes sowie „Gottes und des Nebenmannes Hilfe kam ich im Unterricht jedenfalls gut voran, fand bei Lehrern und Kameraden die etwa gebührende Anerkennung, aber blieb wohl auch als Schüler ein, wenn auch nicht kontaktarmer, so doch etwas „reservierter Junge mit einiger Neigung zu gedanklicher Abwesenheit und Träumerei. Was oder wen ich aber mochte, das oder den mochte ich ohne Vorbehalt und treuer Anhänglichkeit, gar Bewunderung und gegebenenfalls Hilfsbereitschaft meinerseits konnte der „Auserwählte sich bewusst sein. Was den Sport anbetraf, war mir im Übrigen das Wasser als Betätigungsfeld lieber, als das Land. Trotz kleinkindlicher Wasserscheu lernte ich frühzeitig schwimmen und erwarb bereits als Zwölfjähriger den „Toten-Schwimmer-Schein. Boote und Schiffe wurden mir mit zunehmenden Altersjahren immer sympathischere Fortbewegungsmittel, in natura sowohl als auch in gedanklicher Konzeption und Vorstellung. Führte beim Spiel mein größerer Bruder die „Landmacht" an, so fuhren unter meiner Regie aus allen möglichen Bauelementen erstellte Handels- und Kriegsschiffe, und als beliebteste Lektüre beanspruchten zunehmend Bilderbände oder Bücher mit maritimen Darstellungen oder Inhalten mein Interesse. Konnte genannter Lesehunger aus dem ziemlich reichhaltigen Bücher-Reservoir des Vaters anfänglich noch gestillt werden, so war das für den Magen des Heranwachsenden 1917/18 leider nicht mehr möglich.

    Kriegsende durch Novemberrevolution 1918 – Weimarer Republik

    Bei Kriegsende sah ich jedenfalls nach aller Ersatz- und Schmalkost wie ein bloßer Strich in der Gegend aus. Ansonsten empfanden die Eltern und ein Großteil der erwachsenen Deutschen die durchgestandenen Ernährungsmängel der Kriegsjahre wahrscheinlich weniger gravierend und schmerzlich, als den ihnen unverständlichen politischen Umschwung in ihrem Vaterland. Die Kinder und Jugendlichen stiegen dagegen trotz aller ererbten politischen „Vorbelastung und einstweilen noch immer leerer Mägen nach Verlust von „Kaiser und Reich und abklingender Revolutionswirren ziemlich rasch und nahtlos - und vielleicht auch mit einiger Neugierde - in die neuen historischen Verhältnisse ein. Dem Trend der Zeit verhaftet, stellte selbstverständlich auch jede Schulklasse einen keineswegs irgendwie geforderten „Schülerrat zusammen. Letzterer war zwar vollkommen bedeutungslos, er hatte bei den Lehrern absolut nichts zu melden - sie hielten sich nach wie vor an den Klassensprecher - aber es tat uns Knaben zumindest wohl, einen „Rat zu haben bzw. als sich bekennender Neubürger der deutschen Republik ein möglichst breites schwarz-rot-goldenes Band - analog den getragenen Couleurbändern der Studentenverbindungen - auf der schmalen Brust prangen zu lassen. Wie die Erwachsenen dies aufnahmen, weiß ich nicht, gewiss mit einiger Skepsis oder auch stiller Ablehnung, aber ihr Kaiser kehrte darum trotzdem nicht wieder nach Deutschland zurück, um die ihrer Meinung nach verfahrenen Verhältnisse ins Lot zu bringen oder die erlittene Niederlage nachträglich in einen Sieg zu verwandeln. Wenn ich nun in der Folge den während meiner Jugendzeit vielfarbigen politischen Entwicklungen und Geschehnissen relativ viel Betrachtung und Raum widme, so geschieht es darum, weil die bewusst durchlebten jungen Jahre mit ihren vielschichtigen Einflüssen für die charakterliche Formung eines Heranwachsenden eine überaus wichtige und entscheidende Epoche in seinem Leben darstellen. Der politische Umbruch machte sich also für uns Schüler im eher konservativ gebliebenen Ostpreußen während der ersten Jahre der Weimarer Republik - in Weimar 1919 erste Regierungsbildung und die Verfassungsgebung der demokratischen Republik Deutschland - tatsächlich nur irgendwie in Randzeilen bemerkbar, eines wurde aber für uns recht bald ersichtlich: Wer in Zukunft einmal im Leben weiterkommen wollte, der musste in der „Penne genau so büffeln und pauken oder sogar noch intensiver „strebend sich bemühen, wie im ehemals kaiserlichen Reich. Eines wurde allerdings allmählich besser: die Ernährung. Da ich an sich von allem Anfang an ein leichtgewichtiges, schwächliches und vielleicht auch sehr sensibles Kind gewesen war, bedurfte es nach der Hungerkur im Krieg Jahre, bis ein leidlich stabiler Junge aus mir wurde. Wie bereits erwähnt, an Lerneifer fehlte es bei mir nicht, und ich zählte auch nach der inzwischen erfolgten Verabschiedung der Klassenrangordnung weiterhin zum ersten Garnitur-Ensemble meiner Klasse, aber die Antipathie gegen die Schule wuchs von Stufe zu Stufe mehr an. Die Gründe dafür suche ich noch heute. Meine Vorliebe für die so genannten germanistischen Fächer wurde auf Untertertia noch durch das neu hinzugekommene Latein bereichert. Dem Genre meiner Lieblingsfächer nach ließe sich möglicherweise folgern, dass vielleicht das Realgymnasium für mich nicht die richtige Schulform gewesen war, mir also der Unterrichtsinhalt eines humanistischen Gymnasiums mehr zugesagt hätte. Zum anderen könnten gut und gerne die gestrengen Erziehungsmethoden, mit denen ich mich in Elternhaus und Schule konfrontiert glaubte, meinen stillen Widerstand und Widerspruch gegen diese meiner Meinung nach unmotivierte Unterdrückung ausgelöst haben. Folglich sollte dafür, wenn schon nicht der Vater, so zumindest die Schule mit wachsender Abneigung meinerseits gestraft werden. Erst in den beiden letzten Schuljahren war ich zu einer Art von Kompromissbereitschaft fähig. Heute im Rückblick kommt mir zum anderen zum rechten Bewusstsein, dass mein damaliges Weltbild, das sich Jugendliche im allgemeinen neben einer Menge Phantasie aus erworbenen eigenen Realerkenntnissen zu machen pflegen, anderes war, als das meiner Schulkameraden. Die Kriegs- und Nachkriegs-Wehen waren eben doch nicht so spurlos an den Kindern damals vorübergegangen. Auch sie versuchten sich wie ihre Eltern und alle Erwachsenen nach Abklingen der ersten „Begeisterung, mehr unbewusst als bewusst, mit der Demokratisierung im enger und kleiner gewordenen Vaterland und den im Friedensvertrag von den Alliierten auferlegten Einschränkungen und den von den meisten Deutschen als ungerecht empfundenen Reparationen und Repressalien auseinanderzusetzen. Mindestens die Hälfte aller Deutschen hatte von vornherein schon der durch die Revolution erfolgten staatlichen Umwandlung ablehnend gegenübergestanden. Sie ließen es die nach mancherlei Geburtswehen und Schwierigkeiten - etliche dilettantische Putschversuche Rechter, kommunistische Aufruhraktionen, Generalstreiks usw. - ehrlich um die deutsche Selbstbehauptung und internationale Anerkennung bemühte Weimarer Republik (bzw. deren politisch Verantwortliche) zeit ihres Bestandes mit Lieblosigkeit ihr gegenüber entgelten. Je nach diesbezüglicher Einstellung im Elternhaus und in der Lehrerschaft und gemäß etwaiger eigener Motivation empfanden auch wir Schuljugend die neue Zeit, waren ihr verständlicher Weise eher und mehr verhaftet, als die bedächtigeren Alten und Älteren und schufen uns, eben soweit wir es verstanden, ein eigenes modernes oder neues Weltbild, zum Teil mit starker Betonung und Einschluss persönlicher Ambitionen. Wenn ich selber derzeit in puncto Historie und Geographie bei beiderseitigem Zusammenspiel auch eine Menge unklarer, verschwommener Begriffe gehabt haben mag, so empfand ich zumindest die laut Friedensvertrag erfolgte Isolierung Ostpreußens vom Reich, den polnischen Korridor also, als widersinnigen Trennfaktor, den Verlust sämtlichen ehemaligen Kolonialbesitzes in Afrika, Fernost und Südsee und den Schwund der früheren deutschen Seegeltung geradezu als persönlichen Schmerz. Meine Welt hatte plötzlich eng gezogene, unüberschreitbare Grenzen bekommen, nicht nur räumlich gesehen, sondern auch hinsichtlich meines Denkens. Es war zum anderen schwer, unter den eigenen Kameraden in der Schule Gesprächspartner mit in jeder Beziehung gleich lautender Problematik in ihrer Gedankenwelt zu finden. Die interessierten sich zumindest kaum für das Maritime, für das Abenteuer in der Ferne, sie waren als größtenteils Kinder vom Land innerlich weitaus mehr und enger als ich mit der heimatlichen Scholle und deren „Mikrokosmos verbunden. Meine Spaziergänge am Memelufer und durch die Wiesen-Niederung nördlich des Stromes - letztere den weiten Marschländereien Schleswig-Holsteins vergleichbar - fanden vielleicht ein- oder zweimal einen Begleiter, ich erwanderte sie meistens ganz allein. Umgekehrt waren oder bedeuteten mir ihre Interessengebiete, Sport und Sportplätze, nicht sonderlich viel, aber vielleicht gab es eben darum zahlreiche großartige Turner und Leichtathleten unter meinen Mitschülern. Gemeinsam hatten wir allerdings fast alle ein gesteigertes Interesse am politischen Tagesgeschehen, auch wenn dabei nicht alle in die gleiche Richtung zogen. Die Schule mit ihren Belangen einte uns selbstverständlich allesamt - schließlich waren ja die Lehrer unsere eigentlichen Kontrahenten, und die Kameradschaft untereinander, zumindest im schulischen Bereich, war trotz unterschiedlicher Neigungen gut. Mit dem Erreichen jeder höheren Klasse rutschte

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