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Paulo reist nach China (6)
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eBook267 Seiten4 Stunden

Paulo reist nach China (6)

Von HaMuJu

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Über dieses E-Book

Paulo bereist die Seidenstraße zwei Jahre lang und lernt viele verschiedene Menschen kennen, er stellt fest, dass es bei aller Fremdheit viel Verbindendes gibt. Als er nach China gelangt, ist er zunächst fasziniert von dem riesigen fremden Land. Gleichzeitig macht sich aber auch ein Respekt in ihm breit, der sich in der Leistung der Menschen dort gründet.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Sept. 2013
ISBN9783847654537
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    Buchvorschau

    Paulo reist nach China (6) - HaMuJu

    Seide aus Margilan

    Nördlich von Fergana lag die Stadt Margilan, aus der ich den Beton für meine Denkmalfundamente bezogen hatte, sie galt als Zentrum der usbekischen Seidenindustrie, in der Stadt existierte der Wirtschaftszweig schon seit der Antike.

    Fergana war eine koloniale Neugründung und hieß bis ins 20. Jahrhundert hinein Neu-Margilan. Angeblich hatte Alexander der Große Margilan gegründet, als er im Jahre 329 vor Christus dort einen Stopp machte. Nachweislich galt Margilan als wichtiger Posten an der Seidenstraße auf der Route über das Alai-Gebirge nach Kaschgar in China.

    In unserer Zeit galt Margilan neben Namangan als Hochburg des konservativen Islam. Die Stadt hatte 144000 Einwohner, war demnach Großstadt, blieb aber dennoch überschaubar. In Margilan gab es die traditionelle Seidenfabrik „Yodgorlik, in der zweitausend Arbeiter jährlich 250000 Quadratmeter hochwertiger Seide produzierten und es gab die benachbarte „Margilan Silk Factory, in der mit 15000 Arbeitern jährlich zweiundzwanzig Millionen Quadratmeter Seide hergestellt wurden. Niemand wusste, wann genau die Seidenproduktion in Margilan begann. Bekannt war, dass die Seidenproduktion in China angefangen hatte. Der Legende nach sollte Xiling, die Gattin des Gelben Kaisers Huang Di, schon im 3. Jahrtausend vor Christus dem Volk die Nutzung von Kokons und Seide zur Herstellung von Kleidungsstücken beigebracht haben. Es war bei Todesstrafe verboten, die Eier des Seidenspinners außer Landes zu bringen. Angeblich gelang es aber zwei persischen Mönchen doch, einige Eier hinaus zu schmuggeln, sodass von da an auch außerhalb Chinas eine Seidenproduktion möglich wurde. Auf diese oder ähnliche Weise soll die Seidenspinnerei nach Margilan gekommen sein. Seide war eine Textilfaser, die aus dem Kokon der Seidenraupen, der Larven des Seidenspinners, gewonnen wurde. Sie war seit jeher eine begehrte Textilfaser in der ganzen Welt. Nachdem die oben erwähnten persischen Mönche Eier aus China hinaus geschmuggelt hatten und so eine Seidenproduktion auch an anderen Orten ermöglicht hatten, begann man im Mittelalter in Italien und Frankreich mit der Seidenraupenzucht, im 18. Jahrhundert sorgte Friedrich der Große in Deutschland für Maulbeerbaumalleen zur Versorgung der gefräßigen Raupen. Die „Pebrine-Krankheit" vernichtete die deutschen Seidenraupen im Jahre 1860.

    Die Seide war das Speicheldrüsensekret der Raupe des chinesischen Maulbeerspinners „Bombyx mori". Zur Seidengewinnung wurden die Kokons in Wasser gekocht, die Puppen so abgetötet und die Sericinschicht des Fadens entfernt. Danach musste der Faden entrippt und abgewickelt werden. Fäden mehrerer Kokons wurden zu Rohseidenfäden unterschiedlicher Stärke verzwirnt. Vor dem Weben der Textilien erfolgte das Einweichen und Färben der Rohseide.

    Udima und Kamil hatten Freunde in Margilan, bei denen ich so lange wohnen könnte, bis ich hinter die Geheimnisse der Seidenproduktion gekommen wäre. Ich würde mich also für mehrere Wochen von Udima und Kamil verabschieden und nach Margilan ziehen. Ihre Freunde hießen Boris und Fjodora, sie waren verheiratet und hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die beide noch zur Schule gingen. Der Junge, der Ilja hieß, ging schon auf das Gymnasium. Jelena, das Mädchen, ging noch zur Grundschule.

    Beide Eltern sprachen Englisch, ich hätte also keine Sprachschwierigkeiten zu erwarten. Ich rief Michail in Namangan an, er war inzwischen im ersten Semester und studierte Islamwissenschaften, es ging ihm und seiner Familie gut, wie er sagte, ich bestellte Grüße aus Fergana. Wir wollten uns in den nächsten Semesterferien treffen, wenn ich dann noch im Ferganatal wäre. Dann kam der Abschied von Udima und Kamil. Ich wäre ja zum Glück in Margilan nicht aus der Welt, hatte aber, wie Udima und Kamil auch, Tränen in den Augen. Ich umarmte Udima und fuhr mit Kamil nach Margilan. Wir redeten auf der Fahrt nicht viel. In Margilan sagte Kamil, wenn er zum Denkmal führe, würde er mich abholen, dann würden wir gemeinsam Rafik besuchen.

    Dann kamen wir bei Boris und Fjodora an, sie wohnten mitten in der Stadt in einem Einfamilienhaus, das in einer Nebenstraße gelegen war. Sie hatten hinter dem Haus einen große Garten. Als wir kamen, waren beide zu Hause, die Kinder waren in der Schule, Boris und Fjodora hatten beide eine Woche Urlaub. Boris arbeitete als Abteilungsleiter in der „Margilan Silk Factory", Fjodora war Textilingenieurin und arbeitete auch in der Factory. Sie hatten beide ein relativ gutes Einkommen, jedenfalls im Vergleich zu den normalen Verhältnissen, wie sei bei den Familien im Ferganatal herrschten. Die Kinder hatten ein gutes Zuhause und waren glücklich. Sie waren alt genug, sich Essen aufzuwärmen, sollte Fjodora noch nicht zu Hause sein, wenn sie aus der Schule kamen.

    Kamil schellte und Fjodora öffnete die Haustür, Kamil umarmte seine alte Freundin, dann kam Boris, auch ihn umarmte er, er stellte mich vor und ich gab meinen neuen Gastgebern die Hand. Sie waren beide sehr freundlich und zuvorkommend, baten uns ins Haus und kochten Tee. Ich musste erzählen, was ich im Ferganatal machte und wohin ich reisen wollte. Das war mittlerweile eine lange Geschichte geworden, die mit der Restauration der alten Verhältnisse in Usbekistan endete. Auch in Margilan wäre gestreikt worden, sagte Boris, auch in ihrer Stadt hätten die Soldaten in den Nebenstraßen gehockt, neben ihren gepanzerten Fahrzeugen, die wegen Spritmangels am Straßenrand parkten. Auch in Margilan hätte es vereinzelt Übergriffe seitens der Soldaten gegeben, die aber sofort beendet worden wären.

    Die Wiederwahl Karimovs hätte alle wie ein Schock getroffen, man müsste weitermachen, weiter gegen die Allüren des diktatorischen Herrschers kämpfen. Es ginge nicht an, dass viele Menschen im Ferganatal hungerten, während die herrschende Klasse in Taschkent in Saus und Braus lebte. Dann kamen die Kinder nach Hause. Fjodora stellte mich den Kindern vor. Ilja konnte schon in Grundzügen Englisch, zwischen Jelena und mir lief es nur mit Übersetzung.

    Ich sagte, dass ich alles über Seide und Seidenproduktion lernen wollte, deshalb wäre ich nach Margilan gekommen, weil ich wusste, dass Margilan die Hauptstadt der usbekischen Seidenproduktion wäre. Da wäre ich ja bei Boris und ihr genau richtig gelandet, sagte Fjodora, sie wären beide vom Fach und würden in einer riesigen Seidenfabrik arbeiten. Sie hätte an der Universität in Namangan ihren Textilingenieur gemacht, Boris hätte BWL studiert und wäre in der Factory für Innovationen zuständig. Der Streik wäre für die Factory ein Schlag ins Kontor gewesen, Maschinen wurden angehalten, begonnene Seidenwebereien mussten weggeworfen werden.

    Die Seidenproduktion wäre eine aufwändige Angelegenheit und erforderte viel Geschick, weil vieles noch Handarbeit war. Als wichtigster Seidenproduzent gälte der „Bombyx mori", der Maulbeerspinner. Sein Kokon lieferte die von allen so geschätzte Maulbeerseide. Bevor sie aber weiter in die Materie der Seidenherstellung eindränge, sollten wir doch eine Kleinigkeit essen und trinken, sagte Fjodora. Kamil war noch da und setzte sich mit an den Esstisch. Ilja und Jelena schauten mich mit großen Augen an. Um ihnen die Angst und Skepsis zu nehmen, sprach ich mit Ilja auf Englisch über die Schule und gab ihm eine leichte mathematische Übungsaufgabe, Kamil übersetzte für Jelena. Jelena schrieb ich eine Aufgabe auf ein Blatt, sie löste sie sofort richtig. Ich lächelte die Kinder an, sie lächelten zurück, das Eis war gebrochen.

    Ich hieße Paulo, sagte ich zu Ilja und Jelena. Dann nannten die Kinder ihre Namen. Boris war etwas zurückhaltend, er müsste nur auftauen, dachte ich. Es gab ein Nudelgericht mit viel Gemüse und wenig Fleisch, mir schmeckte es ausgezeichnet und das sagte ich Fjodora auch, sie freute sich über das Kompliment. Dann brach Kamil auf, wir umarmten uns und sagten, dass wir uns in Kürze wiedersähen, wenn wir zusammen zum Denkmal führen. Ich winkte Kamil draußen noch nach, dann war ich allein mit meiner neuen Gastfamilie. Boris wollte von mir wissen, wie das genau mit dem Denkmal abgelaufen wäre. Ich erzählte von dem ersten Anschlag, als dessen Folge wir das Denkmal neu errichten mussten und dem zweiten Attentatsversuch, bei dem der Geheimdienst meinen Hund erschossen hätte. Boris sagte, dass er mit Fjodora einmal beim Denkmal gewesen wäre, er hätte es als sehr ausdrucksstark empfunden, ich könnte stolz auf meine Skulptur sein. Ich erzählte von meinen ganzen Vorbereitungsarbeiten und meinem Besuch in Chirchiq mit Kamil. Fjodora erzählte von Boris und sich, wie sie sich an der Hochschule in Namangan kennengelernt hätten, wie sie beide eine kurze Zeit fast ohne Geld durchstehen mussten und sich lieben gelernt hätten. Nach dem Studium hätten sie geheiratet und sofort einen Job bei der „Margilan Silk Factory" bekommen, wo sie bis in unsere Zeit, inzwischen schon zehn Jahre, arbeiteten. Die Arbeit machte ihnen Spaß, sie wäre relativ anspruchsvoll und würde einen fordern. Sie wären mit ihrer Fabrik der größte Seidenproduzent in ganz Zentralasien und hätten 15000 Mitarbeiter.

    Der Kokon des Maulbeerspinners wäre der Ausgangsstoff für Bombyxseide. Fjodora und Boris wollten am nächsten Tag mit mir zu einigen Seidenraupenzüchtern fahren und mir zeigen, wie diese sich um die Eier des Maulbeespinners kümmerten und sie im Winter sorgfältig in kühler Umgebung aufbewahrten. Dann stiegen Fjodora, Boris, die Kinder und ich ins Auto und fuhren in die Stadt. Margilan wies keine hohen Häuser auf und war deshalb großflächig. Wir fuhren zum Bahnhof, in dessen Nähe die „Silk Factory lag, ein riesiges Firmengelände schloss sich dem Bahnhof an, es hatte natürlich einen Gleisanschluss. Fjodora und Boris zeigten mir die „Said-Ahmad-Chodja-Medrasa, die seit dem 19. Jahrhundert bestand und folglich noch nicht sehr alt war, ferner gingen wir zur „Toron-Moschee". Interessant war der Markt in Margilan. Es waren fast nur Frauen an den Verkaufsständen zu sehen, viele hatten nicht einmal einen Stand und saßen hinter ihrem frisch gehaltenen Gemüse am Wegesrand. Alle trugen bunte Kopftücher und lange bunte Kleider. Sie tranken Tee oder Wasser und schwatzten untereinander. Der Markt war brechend voll und die Frauen verkauften gut. Die Käufer hatten auf dem Markt, was das Gemüse anging, die absolute Frischhaltegarantie. Ich war auf meiner Reise immer gern auf Märkten, weil dort die Menschen in ihrem wahren Naturell anzutreffen waren. Sicher waren alle darauf aus, ihr Geschäft zu machen, nie vergaßen sie aber, dass ihr Gegenüber ein Mensch war, den man auch als solchen behandeln musste, hauten sie ihn übers Ohr, folgte irgendwann die Strafe für ihre Selbstsucht. Boris fuhr ein Stück die Stadt hinaus und zeigte mir die Maulbeerbaumanlagen.

    „Morus alba", der weiße Maulbeerbaum, war die Lieblingsspeise der Seidenspinnerraupe, sie verschlang Unmengen davon. Um ein Paar Seidenstrümpfe herzustellen, wurden etwa dreihundertfünfzig Kokons gebraucht, für ein Kleid benötigte man ungefähr ein halbes Kilogramm Seide oder tausendsiebenhundert Kokons. Um diese Konkons zu erhalten, musste man die Raupen mit fast sechzig Kilogramm Maulbeerblättern füttern! Das verdeutlichte schon, wie kostbar Seide war und auch sein musste. Die Seidenraupenzucht war für die Bauern der Umgebung der Seidenfabrik ein sehr gutes Zubrot.

    Wenn die Kokons soweit herangereift waren, standen sie mit den schweren Kokonsäcken vor der Annahmestelle der Fabrik Schlange. Sie züchteten ihre Seidenspinnerraupen und nahmen nur die besten Exemplare, deren Eier sie dann überwinterten. Was machte die Seide so begehrenswert? Im Vergleich zu Wolle und Baumwolle hatte die Seide eine sehr geringe Dichte, weshalb sie leicht war und nicht auftrug, sie zeichnete sich durch eine relativ hohe Formbeständigkeit und hohe Elastizität aus, weshalb sie knitterfrei war, mehr als alle anderen Naturfasern. Seide isolierte sehr gut, wahrscheinlich schützte sie die Puppen im Konkon vor widrigen Witterungseinflüssen, sie hielt im Winter warm und kühlte im Sommer. Seide schimmerte und glänzte, sie nahm Farben sehr gut auf, sie absorbierte dreimal stärker als Nylon. Sie war, im Gegensatz zu synthetischen Stoffen, nicht brennbar. Ein Tau aus Seide könnte größere Gewichte tragen, als ein entsprechendes aus Stahl. Wir fuhren wieder in die Stadt und setzten uns in eine Teestube.

    Fjodora und Boris fragten mich nach Ebu, wie gut ich ihn gekannt hätte. Ich sagte, dass Ebu ein sehr guter Freund gewesen wäre, das Bemerkenswerte daran wäre gewesen, dass sich unser Verhältnis in sehr kurzer Zeit entwickelt hätte. Ebu wäre so offen und aufrichtig gewesen, was auch sein Charisma ausgemacht hätte. Ich wäre eine Zeit lang mit ihm durch das Ferganatal gefahren und er hätte Reden gehalten, bis zu der legendären Rede in Yozyovon, bei der er erschossen worden wäre. Ich erzählte, wie ich in Namangan auf seiner Beerdigung gewesen wäre. Michail, sein Bruder, sähe Ebu sehr ähnlich, obwohl er noch nicht Ebus Ausstrahlung hätte, würde einmal ein großer Mann aus ihm, ich hätte ihn bei Reden erlebt, das wäre schon beeindruckend gewesen.

    Als Ebu erschossen worden war, sagte Fjodora, wäre allen gewesen, als hätte sich ein großes Loch aufgetan, jeder hätte sich gefragt, wie es weitergehen sollte. In Margilan freute sich jeder, dass Michail Ebus Nachfolge angetreten hätte. Udima und Kamil wären ganz alte Freunde, sie wären schon in Fergana zusammen zur Schule gegangen. Fjodora wüsste noch, wie Kamil damals seinen Job als Elektroingenieur verloren hätte, das wäre geschehen, weil er den Mund nicht halten konnte und im Betrieb gegen Kamirov gewettert hätte. Trotz mehrmaliger Ermahnungen hätte Kamil weitergemacht und Mitarbeiter zu Demonstrationen gegen die Regierung angestachelt. Da wäre der Betriebsleiter zu ihm gekommen und hätte ihm die Papiere gegeben. Seitdem wäre Kamil arbeitslos. Zum Glück schienen Udima und er ein neues Standbein gefunden zu haben, ihre Puppen, Puppenwagen und Puppenhäuser verkauften sich ja sehr gut.

    Ich kaufte ein paar Teilchen, die Kinder freuten sich, ich fragte erst hinterher, ob ich den Kindern Teilchen geben durfte. Das sähen sie nicht so eng, sagte Fjodora. Sie glaubte manchmal, dass Boris und sie zu lasch in der Erziehung ihrer Kinder wären, sie hätten sich schon öfter über Erziehungsfragen mit Bekannten unterhalten. Viele hätten Sprüche geklopft wie „Kinder müssen merken, wo die Grenzen liegen oder „Das durften wir früher auch nicht usw. Sie glaubten manchmal, nicht richtig gehört zu haben, wenn sie so etwas aus dem Munde gleichaltriger Bekannter vernehmen mussten. Beobachtete man aber solche Bekannten bei der Erziehung von deren Kindern, so entdeckte man die gleichen Fehler wie bei der eigenen Erziehung. Mittlerweile glaubten Boris und sie aber, dass das gar keine Fehler wären, wenn sie nicht streng wären, erzögen sie noch nicht schlecht. Da musste ich Fjodora recht geben. Ich hätte auch in Deutschland beobachtet, wie manche ihre Kinder im Beisein anderer maßregelten, sodass die Kinder verwirrt aufschauten, wenn sie dann allein waren, ließen sie den Kindern alles durchgehen. Ilja und Jelena machten jedenfalls einen völlig zufriedenen Eindruck.

    Wir fuhren nach dem Tee nach Hause, es war kalt geworden, Fjodora und Boris hatten einen Kamin im Haus und hinten genug Holz gestapelt. Wir machten ein schönes Feuer und wärmten uns. Ich lief noch einmal los und ging zu dem Bäcker, den Fjodora mir genannt hatte, dort holte ich gutes frisches Brot. Wir deckten den Abendbrottisch und aßen die guten Sachen, die es bei Fjodora und Boris gab, Käse, gute Dauerwurst, Streichkäse, Quark und viel frisches Gemüse und Obst. So viel Gemüse und Obst wie ich im Ferganatal gegessen hatte, hatte ich, glaubte ich, mein ganzes Leben noch nicht gegessen. Es schmeckte aber auch wirklich ausgezeichnet, in der Beziehung war das Tal wirklich ein Paradies!

    Boris holte ein paar Flaschen Bier zum Essen, er fragte mich, ob ich auch Bier tränke. Ich antwortete, dass ich aus Deutschland stammte, einem Land, das mehr als tausenddreihundert Brauereien hätte, natürlich tränke ich Bier und nahm mir eine Flasche. Fjodora trank auch Bier, sie bemerkte meinen erstaunten Blick und sagte, dass sie sich das Biertrinken nach dem Studium angewöhnt hätte, sie würde aber auch Wodka und Wein trinken. In Usbekistan würden die Regeln des Islam, zumindest was das Alkoholtrinken anbelangte, nicht so streng ausgelegt wie zum Beispiel im Iran. Den Menschen müssten schon ein paar Vergnügungen bleiben. Solange man sich beim Alkoholtrinken im Griff hätte, wäre dagegen auch nichts einzuwenden. Ich erzählte, wie wir bei Udima und Kamil so manchen feuchtfröhlichen Abend verbracht hätten, aber nie wäre jemand völlig ausgerastet. Um 22.30 h ging ich in das für mich bereitgestellte Zimmer.

    Am Morgen lief ich zu dem Bäcker, den ich schon kannte und kaufte Brötchen. Es war noch sehr früh, sodass die Kinder noch mit am Frühstückstisch saßen. Wir wollten an dem Morgen einen Seidenraupenzüchter besuchen, den Fjodora und Boris kannten. Nachdem die Kinder zur Schule unterwegs waren, räumten wir den Tisch ab und fuhren aus der Stadt hinaus. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten wir eine kleine Hofanlage, die inmitten einer riesigen Maulberbaumplantage lag. Als wir auf den Hof einbogen, kam uns ein Mann entgegen, dem der Hof offensichtlich gehörte. Er war ein wenig älter als Fjodora und Boris, ich schätzte ihn auf Ende dreißig. Als er Fjodora und Boris erkannte, freute er sich, sie zu sehen. Boris stellte mich vor und sagte, dass ich ein wissbegieriger Deutscher wäre, der alles über die Seidenherstellung erfahren wollte. Er hätte gedacht, dass man da am besten zu einem traditionellen Seidenraupenzüchter führe. Der Züchter stellte sich mir als Ismail vor, ich sagte, dass ich Paulo hieße. Boris übersetzte alles, was Ismail erzählte. Ismail begann seinen Vortrag, indem er von der Paarung der Seidenspinner berichtete. Die Parung erfolgte meistens in den Morgenstunden. Die Begattung fand sofort nach dem Schlüpfen statt und dauerte mehrere Stunden. Die Weibchen würden dazu auf eine Unterlage gebracht und die Männchen darüber geschüttet. Ein Männchen könnte bis zu zwei Weibchen begatten. Die Mindesttemperatur müsste 20°C betragen. In speziellen Fällen wäre Individualpaarung möglich, wenn erforderlich, erfolgte vor jeder Paarung eine Auslese, eine physiologische Zuchtwahl also. Kleine, inaktive und kranke Falter würden ausgesondert. Nach sieben Tagen des Brütens legten die Weibchen zweihundertfünfzig bis dreihundert Eier, aus denen weitere acht Tage später kleine Seidenraupen schlüpften, wenn sie nicht in Ismails Nebengebäude überwinterten. Man konnte annuale Rassen, das hieß einbrütige Rassen oder voltine Rassen - mehrbrütige Rassen verwenden, letzteres lag im Interesse des Züchters, der so mehrere Kokonernten pro Jahr einfahren konnte. Die Embryonalentwicklung wurde gefördert mit mechanischer Behandlung der Eier durch Reiben und Bürsten unter Wasser. Diese Behandlungsmethode müsste möglichst sofort nach der Eiablage erfolgen. Es gab dazu große Wasserbecken, an denen Ismails Frau und seine Kinder standen. Ferner gab es die Möglichkeit einer chemischen Behandlung der Eier, das hieß, dass die Eier für fünfzehn Minuten in ein schwaches Salzsäurebad gebracht wurden - zwei Teile HCL, ein Teil H2O, im Anschluss war eine gründliche Waschung erforderlich. Das hätte Ismail einmal ausprobiert, hätte dann aber wieder davon abgelassen, nachdem ihm zu viele Eier eingegangen waren. Als dritte Möglichkeit der Embryonalpflege gab es die Behandlung mit Bündellicht, das war ein Licht, das bei Spitzenentladungen, zum Beispiel bei Blitzen an Masten entstand. Die Eier wurden dem Licht eine bis zwei Minuten ausgesetzt, doch auch davon hatte Ismail sich abgewandt. Er bevorzugte die mechanische Behandlung der Eier. Es gab auch Versuche, die Eier einer Bestrahlung mit ultraviolettem Licht auszusetzen, was auch Erfolge versprach. Die Forschungen auf diesem Gebiet steckten aber noch in den Kinderschuhen, für Ismail kam ultraviolettes Licht nicht in Frage.

    Wir verließen Ismails Nebengebäude wieder, das ein einfaches Bretterhaus war. Wir gingen zu seinem Wohnhaus und tranken in seinem Wohnzimmer Tee. Ismails Kinder waren in der Schule, sie mussten mit den Fahrrädern nach Margilan fahren, bei schlechtem Wetter fuhr Ismails Frau sie mit dem Auto. Ismail hatte in gemütliches Wohnhaus, das vollkommen eingebettet war in die Maulberbaumplantage. Die Raupen des Seidenspinners waren monophag, das hieß, sie fraßen nur eine Speise, die Blätter des weißen Maulbeerbaumes und davon reichlich. Nach der Eiablage wurden die Eier von der jeweiligen Unterlage in einem Wasserbad gelöst, das Wasser löste den natürlichen Klebstoff, mit dem die Eier angeheftet waren. Die lebenden Eier sanken in dem Wasser nach unten, tote konnten schwimmend eingesammelt werden. Das Wasserbad musste die gleiche Temperatur haben wie die Umgebung, damit kein Reiz entstand, das Embryonalstadium fortzusetzen. Die Eier annualer Rassen wurden nach der Trocknung auf die Ruhezeit vorbereitet, dazu kamen sie in einen Kühlschrank, wo sie bei drei bis fünf Grad aufbewahrt wurden. Zwei bis drei Wochen vor dem Schlupf wurden die Eier langsam der normalen Raumtemperatur ausgesetzt. Nachdem die Raupen geschlüpft waren, begann die Zeit des Fütterns. Die Entwicklung des Embryos im Ei war bei annualen und voltinen Rassen unterschiedlich.

    Bei ersteren waren die Eier gelb und saftig, um nach zwei bis drei Tagen grau zu werden, mit dieser Verfärbung wurde die Entwicklung sicher angezeigt. Die Entwicklung blieb aber für zehn Monate auf einem sehr frühen Entwicklungsstadium stehen, das Ei trat in eine Zwischenpause ein, die sogenannte Diapause. Bei den voltinen Rassen blieben die Eier gelb, die Embryonalentwicklung erfolgte ohne Unterbrechung bis zum Schlupf, der nach einer bis zwei Wochen stattfand. Ismail beendete seinen Vortrag und vertröstete uns auf den nächsten Tag, an dem wir noch einmal wiederkommen sollten, dann wollte er uns den Rest erzählen.

    Wir verabschiedeten uns von ihm und seiner Frau und fuhren nach Margilan zurück. Als wir zu Hause ankamen, waren die Kinder schon da und machten Schulaufgaben. Fjodora machte ihnen schnell etwas zu essen, ich ging nach hinten und holte Holz für den Kamin. Es war bitterkalt draußen, auf den Gehwegen hatte sich in den Pfützen Eis gebildet. Ich steckte den Kamin an, der zu Beginn etwas qualmte, dann aber gut durchzog, wir wärmten uns alle. Boris und ich aßen nur eine Kleinigkeit, Fjodora aß mit den Kindern. Ich fragte Ilja ganz langsam, sodass er mich auch verstand, was er in der Schule gelernt hätte und welches sein Lieblingsfach wäre. Ilja überlegte kurz, dann sagte er, dass sie in Mathematik mit Algebra angefangen hätten und in Englisch einfache Übersetzungen und Leseübungen machten. Sein Lieblingsfach wäre aber Sport.

    Jelena merkte, dass ich mich fast ausschließlich mit Ilja befasste und machte auf sich aufmerksam. Ich gab ihr eine einfache Matheaufgabe, die sie schnell löste. Dann fragte Fjodora

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