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Ungewollte Grenzerfahrung: Das goldene Geschäft mit den Gefühlen betagter Menschen
Ungewollte Grenzerfahrung: Das goldene Geschäft mit den Gefühlen betagter Menschen
Ungewollte Grenzerfahrung: Das goldene Geschäft mit den Gefühlen betagter Menschen
eBook419 Seiten6 Stunden

Ungewollte Grenzerfahrung: Das goldene Geschäft mit den Gefühlen betagter Menschen

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Über dieses E-Book

Die materiellen und emotionalen Schäden, die Abzocker (egal welchen Geschlechts) hinterlassen, wenn sie mit ihrem Vorgehen intakte Familienverhältnisse zerstören, sind immens. Alle, die mit solchen Personen in Berührung kommen, stehen am Schluss vor einem sozialen und materiellen Scherbenhaufen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum18. Okt. 2016
ISBN9783738088328
Ungewollte Grenzerfahrung: Das goldene Geschäft mit den Gefühlen betagter Menschen

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    Buchvorschau

    Ungewollte Grenzerfahrung - Corinne Miller

    Für unsere Mutter

    Ungewollte Grenzerfahrung

    Das goldene Geschäft mit den Gefühlen betagter Menschen

    Alle Namen, Personen und Handlungen sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten sowie

    realen Handlungen, sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Als der älteste Sohn eine fünfundvierzigjährige Frau in das Leben seines betagten Vaters schleust, stößt er damit die ganze Familie vor den Kopf. Rasch wird klar, welch perfiden Plan die beiden verfolgen, als sie den alten Mann um seine Ersparnisse bringen. Skrupellos räumen sie alles aus dem Weg, was an ihrer sorgfältig vorgetäuschten Fassade rüttelt und treiben jeden in die Ecke, der sich ihnen entgegen stellt. Der verliebte alte Mann unterordnet sich ihren Wünschen mit einer unverhältnismäßigen Nachgiebigkeit und setzt sein intaktes und stabiles Familienleben aufs Spiel, als sich seine anderen Kindern gegen die Intrigen zu wehren beginnen….

    Vorwort

    Liebe gegen Geld. Geld gegen Liebe.

    Dieser Handel ist so alt wie die Menschheit und lässt sich auf jeder Gesellschaftsebene finden. Jüngere gutaussehende Frauen lassen sich auf ältere und wohlhabende Männer ein, weil sie sich großzügige Geschenke, Reisen und ein luxuriöses Leben versprechen, das sie aus eigenem Antrieb nicht erreichen würden. Heiraten sie einen Millionär, werden sie in eine Gesellschaft eingeführt, zu der sie sonst keinen Zugang hätten und sie haben für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Umgekehrt profilieren sich die reichen Männer mit ihrer jungen und schönen Vorzeigefrau.

    Als sich Rita Elsino Anfang Dreißig scheiden ließ, kam es für sie nicht in Frage, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, zumal ihr der Lohn, den sie für ihre Qualifikationen erhalten würde, nur einen bescheidenen Lebensstil erlaubt. Ein solches Leben zu fristen entsprach weder ihren Erwartungen noch ihren Wünschen und sie suchte nach einem Weg, der ihr ohne großen Aufwand ein bequemes Leben ermöglicht. Einen reichen Mann angeln kann sie nicht. Dazu fehlt ihr das Aussehen, das Benehmen und die Intelligenz. Sie weiß aber, dass es viele ältere Menschen gibt, die zwar nicht wohlhabend sind, aber so viel auf die Seite gelegt haben, dass es sich lohnt, ihnen die Ersparnisse abzuknöpfen. Sie verfälscht Informationen in ihrem Sinn, setzt bei Männern ihre sexuelle Anziehungskraft ein, treibt Situationen auf die Spitze und schafft bewusst falsche Voraussetzungen, damit ihr die Opfer bereitwillig unter die Arme greifen. Ältere Männer haben zudem den Vorteil, dass sie nicht mit ihnen ins Bett muss, weil sich bei den meisten sexuell nichts mehr regt. Trotzdem erlischt im Alter die Erotik nicht und auch zum Verlieben gibt es keine Altersgrenze, man muss nur auf die richtigen Tasten drücken. Genau das weiß Rita auszunutzen, um Kapital daraus zu schlagen. Wehe dem, der sich ihr entgegenstellt, sie kennt weder Skrupel noch Moral. Am Anfang machte sie ein paar Fehler, die sie bei der Polizei aktenkundig werden ließen. Doch sie lernte dazu und beherrscht heute ihr Handwerk besser denn je.

    1

    Wir schreiben das Jahr 2005. Seit wir unsere Mutter zu Grabe getragen haben, sind fünf Jahre vergangen. Sie, der Dreh- und Angelpunkt der Familie, hinterließ eine Lücke, die sich nicht mehr schließen wird. An ihrer Trauerfeier waren die Bänke in der Kirche bis auf den letzten Platz besetzt. Unsere Mutter hatte im Verlaufe ihres Lebens nicht nur unsere, sondern auch noch viele andere Herzen berührt.

    Niemand in der Familie traute unserem Vater das selbständige Leben zu, das er als Witwer führt. Er ist neunundachtzig Jahre alt, kerngesund, nimmt keine Medikamente und eine Brille nur zum Lesen. Wir empfinden es als großes Glück, dass er so rüstig ist. Seinen Haushalt besorgt er nahezu allein, nur alle vierzehn Tage sieht eine Haushalthilfe zum Rechten. Von unserer Mutter ließ er sich, kurz bevor sie starb, erklären, wie man eine Waschmaschine bedient, Einzahlungen macht und Rechnungen bezahlt. Das alles führt er nun selbständig aus. Wir müssen uns um ihn auch keine finanziellen Sorgen machen. Auf das Konto bei der Dorfbank fließt eine Altersrente, die seinen Lebensbedarf deckt und die regelmäßig anfallenden finanziellen Verpflichtungen werden im Lastschriftverfahren jeden Monat vom Konto auf der Citybank abgebucht, auf das die Rente der Pensionskasse eingeht. Unser Vater profitiert heute davon, dass die Firma, in der er angestellt war, das Pensionskassensystem sehr früh eingeführt und er zusammen mit dem Arbeitgeber über Jahrzehnte in die Kasse eingezahlt hatte.

    Unsere Bedenken kamen nicht von ungefähr. Unsere Mutter ließ selten, aber doch ab und zu die Bemerkung fallen, dass sie fünf Kinder großziehen musste, weil man unseren Vater dazu zählen könnte. Dieser Bemerkung stimmten wir zu, denn sie musste ihn, solange sie lebte, immer wieder auffordern, einfache Anstandsregeln einzuhalten, die wir seit unserer Kindheit intus haben. Noch seltener erwähnte sie, dass unser Vater und sein Sohn Frank, unser Stiefbruder, dem Schicksal dankbar sein können, dass sie unter ihre Fittiche gekommen sind, denn ohne sie hätten die beiden mit größter Wahrscheinlichkeit ein Leben am Rande der Gesellschaft gefristet. Mit dieser Bemerkung konnten wir nichts anfangen, es gab weder bei Frank noch bei Vater Anzeichen in diese Richtung.

    Vaters Kindheit verlief nicht in allem schön. Er ist als uneheliches Kind bei seiner Mutter aufgewachsen, die Zeit ihres Lebens ledig geblieben ist. Seinen Vater, obwohl bekannt, hat er nie kennen gelernt. Nur ein einziges Foto ist Zeugnis seiner Existenz und zeigt das Portrait eines jungen flotten Soldaten, der durch den ersten Weltkrieg in das Heimatdorf meines Vaters gespült wurde. Der junge Soldat und Vaters Mutter wurden ein Liebespaar und wollten heiraten. Doch bevor sie die Verbundenheit amtlich besiegeln lassen konnten, wurde er an die Front berufen und kam dort vermutlich ums Leben, denn obwohl er versprach zurückzukommen, hat man nie mehr etwas von ihm gehört. Um sich und ihr Kind durchzubringen, verdiente sich die junge Mutter - unsere spätere Großmutter - den Lebensunterhalt in der nahen Fabrik und lebte bis kurz vor ihrem Tod in der spartanisch eingerichteten Wohnung, die ihr von der Fabrik vermietet wurde. Von der Gesellschaft geächtet und von den Verwandten gemieden, wandte sich mein Vater der Natur und den Tieren zu. Auf dem Papier gab es zwar Tanten, Onkels und ein paar Cousins und Cousinen, aber nicht im wahren Leben. Einzig ein Onkel sorgte dafür, dass mein Vater nach der Schulzeit eine Lehre absolvieren und ins Berufsleben einsteigen konnte. Als ich und meine Geschwister erwachsen waren, sind wir durch Zufall einer mit Vater verwandten Familie begegnet. Ich bin davon ausgegangen, dass sie bis anhin nichts von uns wissen wollten, weil sie meinen Vater und meine Großmutter als Schandfleck der Familie betrachtet und das auf uns ausgeweitet haben. Bei der Begegnung wandelte sich ihre Meinung über uns spürbar zum Positiven, aber wir erwiderten ihre Versuche für eine Kontaktaufnahme nur spärlich und schlussendlich versandete sie auf beiden Seiten. Für uns sind sie Fremde geblieben.

    Außer in der Natur ist mein Vater ein unsicherer Mensch und ich schreibe diese Schwäche seiner Kindheit zu, obwohl es durchaus ein paar Dinge, gab, die ihn hätten stärken können. In seinem Umkreis galt er als schönster Knabe weit und breit und auch als schnellster, weil er jeden Wettlauf gewann. Später wurde er in der Leichtathletik ein As und hätte es weit gebracht, wenn nicht der zweite Weltkrieg seiner sportlichen Karriere ein Ende gesetzt hätte. Der Finne Paavo Nurmi war damals sein großes Vorbild. Dafür entwickelte er im Krieg, er war in der Gebirgstruppe, die Leidenschaft zum Klettern und bestieg viele Jahre später als Höhepunkt das Matterhorn in der Schweiz. Im zweiten Weltkrieg lernte er auf einem Heimurlaub seine erste Frau kennen. Sie heirateten und Frank kam im letzten Kriegsjahr zur Welt. Um besser über die Runden zu kommen, vermieteten sie in ihrem Haus ein Zimmer. Mit dem letzten Untermieter machte sich seine Frau auf und davon und überließ Mann und Kind ihrem Schicksal. Frank war damals zwei Jahre alt. Mein Vater verlor nie ein Wort über seine Kindheit, selten über seine Jugend und schon gar nicht über seine erste Ehe. Alles was ich weiß, hat mir meine Mutter erzählt.

    Meine Mutter ist mit zwei Geschwistern bei liebevollen Eltern, aber in großer Armut aufgewachsen und fand als blutjunge Frau Arbeit als Hausmädchen bei einer reichen Familie. Auch wenn sie im Dienstbotenzimmer schlafen und dem bequemen Leben ihrer Herrschaft zudienen musste, eignete sie sich - ohne ihre Herkunft zu verleugnen - den Anstands- und Höflichkeitsstil ihrer Arbeitgeber an und verbesserte damit ihre Stellung. Sie durfte diese Familie auf zahlreichen Reisen begleiten, lernte eine Fremdsprache und wurde in Sachen Bildung von ihrer Herrschaft unterstützt und gefördert. Auf einer Reise, die sie in ihrer Freizeit unternahm, lernte sie meinen Vater kennen und besuchte ihn nach einem Briefwechsel in seinem Heimatdorf. Er hatte ihr verschwiegen, dass er geschieden und Vater eines Sohnes ist. Darum schenkte sie dem dreijährigen Kind, das in der Wohnung seiner Mutter hemmungslos auf dem Küchentisch tanzte und sich weigerte, ihr die Hand zu geben, keine große Beachtung. Auf ihre Nachfrage erklärte mein Vater, dass der kleine Junge in der Obhut seiner Mutter sei, weil sie ihn hütet, aber sonst hätten sie nichts mit ihm zu tun. Durch die damaligen gesellschaftlichen Gepflogenheiten zog man erst zusammen, wenn man verheiratet war. Voraus ging eine Verlobungsfeier im Beisein beider Familien, mit Geschenken und allem Pipapo. Eine Verlobung auflösen, wäre einer großen Schande gleichgekommen. Meine Mutter erfuhr erst auf dem Standesamt, als sie und Vater sich zur Eheschließung anmeldeten, dass ihr zukünftiger Mann geschieden und an das Kind gebunden ist, welches sie in der Wohnung ihrer zukünftigen Schwiegermutter angetroffen hatte. Sie entschied sich gegen die Schande und nahm pflichtbewusst den vierjährigen Buben mit der Heirat in ihr Leben auf. Leicht hatte sie es nicht. Jedes Mal, wenn Frank von einem Besuch bei der Großmutter zurückkam, musste sie mit ihrer Annäherung wieder von vorne beginnen. Einmal, als Franks Benehmen im Beisein der Großmutter wieder aus dem Ruder lief, bat sie Vater, sich erzieherisch einzubringen. Darauf zog die Großmutter die Hand auf, zum Erschrecken meiner Mutter nicht gegen Frank, sondern gegen meinen Vater. Meine Mutter verlangte darauf den Wegzug, möglichst weit weg von seinem Heimatdorf. Nach dem Krieg boomte die Wirtschaft und mein Vater fand rasch eine neue Stelle. So verschlug es die junge Familie nach Kaltbad, ein wachsendes Dorf in der Nähe einer mittelgroßen Stadt. Die Stadt zieht wegen Sehenswürdigkeiten Touristen an und verfügt deshalb über eine Infrastruktur, wie sie auch in Großstädten zu finden ist. Nachdem sich die junge Familie in Kaltbad niedergelassen hatte, kam nach einem Jahr Antonia, die von allen nur Toni genannt wird, zur Welt, fünf Jahre später wurde ich geboren und nach weiteren zwei Jahren machte Robert, das Nesthäkchen, die Familie komplett.

    Unsere Mutter brachte die Umgangsformen, die sie sich bei ihrem Arbeitgeber angeeignet hatte, in unsere Erziehung ein und verstand es auch hervorragend, keines von uns Kindern zu bevorzugen oder zu benachteiligten. Frank war deshalb für uns von Anfang an ein vollwertiger Bruder, auch auf der emotionalen Ebene. Der einzige bemerkenswerte Unterschied zwischen uns bestand darin, dass Frank von der Großmutter väterlicherseits mehrmals pro Jahr ein an ihn persönlich adressiertes Paket mit Süßigkeiten erhielt und Mutter uns Franks Vorzugsbehandlung seitens der Großmutter erklären musste. Weil Frank uns von den Süßigkeiten immer etwas abgeben musste, blieb für uns die Welt in Ordnung. So war es nie ein Geheimnis, dass wir vier denselben Vater, aber nicht dieselbe Mutter haben. Das interessierte uns aber nicht weiter, denn die Pakete waren das Einzige, das uns Geschwister differenzierte. Unsere Mutter ließ uns auch nie die schmale Haushaltkasse spüren und machte das fehlende Materielle an Geburtstagen und Weihnachten auf andere liebevolle Art wett. So wie sie immer alles mit ihrer Liebe aufgewogen hat. Herrschte im Kühlschrank Ebbe, konnte sie mit dem Wenigen, das noch da war, die besten Gerichte auf den Tisch zaubern. Behütet wuchsen wir in einer recht harmonischen Familie auf, in der unsere Mutter das Zepter führte und unser Vater für den Unterhalt sorgte. Als Kinder bekamen wir manchmal mit, wie unsere Mutter auch unserem Vater eine Standpauke hielt. Da sie uns aus den Konflikten heraushielten, wussten wir selten um was es ging. Zudem konnte Vater die Gewitterwolken immer irgendwie vertreiben, denn sie stritten sich nie lange. Und Mutter hielt sich immer an die Sache. Nie hörten wir sie ein wüstes Wort sagen und sie hatte auch uns verboten, Schimpfwörter in den Mund zu nehmen, wenn wir uns stritten. Neben der Schule verbrachten wir die meiste Zeit im Freien, spielten Fangen, fuhren Rollschuh oder verbrachten herrliche unbeschwerte Ferien bei unseren Großeltern mütterlicherseits. Sie lebten in einem von der Gemeinde zur Verfügung gestellten stillgelegten Bauernhof, der für Kinder das reinste Paradies war. In den leeren Ställen und Scheunen ließ sich wunderbar Verstecken spielen. Ging die ganze Familie in die Ferien, mussten unsere Eltern das Geld dafür zusammenkratzen und wir verreisten wegen Vaters Leidenschaft in die Berge. In Knickerbocker, roten Wollkniestrümpfen mit Zopfmuster und schweren Wanderschuhen kraxelten wir durch die alpine Welt. Natürlich trieben wir auch einigen Unfug - zu dieser Zeit galt der Gang im Pyjama auf die Straße bereits als Mutprobe - der als Strafe höchstens mal eine gestrichene Fernsehsendung nach sich zog. Im Sommer liefen wir außerhalb der Schule barfuß, aber nur solange bis Mutter zu Ohren kam, dass die Leute dachten, sie könne sich für ihre Kinder keine Schuhe leisten. Von da an trugen wir das ganze Jahr Schuhe, außer, wenn Mutter an heißen Tagen draußen einen Zuber mit Wasser füllte und uns damit vergnüglichen Badespaß bescherte. Es gab nur zwei Dinge, die ich in meiner Kindheit aufgrund meiner Stellung als Nachteil empfunden habe. Wenn es hieß, die beiden Mädchen helfen der Mutter beim Abwasch, war ich gemeint. Wenn es am Abend hieß, die beiden jüngsten Kinder gehen zu Bett, war wieder ich gemeint. Ich habe deswegen keinen Schaden davongetragen und es sorgt noch heute für Heiterkeit, wenn wir uns daran erinnern. Weil der Altersunterschied zwischen uns Geschwistern relativ groß ist, absolvierte Frank bereits eine Berufslehre, als Robert und ich noch zur Schule gingen. Frank fuhr mit einem Motorroller zur Arbeit und wenn er am Abend nach Hause kam, durften wir nacheinander zu ihm auf den Sitz steigen und mit ihm eine Runde ums Quartier fahren. Das war jedes Mal ein großes Vergnügen, um das uns die anderen Kinder beneideten. Robert und ich waren sehr stolz auf unsere älteren Geschwister. Während Toni sich mehr für die Flower-Power-Szene interessierte und die Beatles und die Rolling Stones zu Halbgöttern erklärte, stand Frank auf Rock-'n'-Roll und Schlager. Durch sie erhielten Robert und ich in der Popmusik einen Wissensvorsprung, mit dem wir in der Schule mächtig angaben. Manchmal saßen wir mit Toni in ihrem Zimmer auf dem Bett und hörten ihre Schallplatten, während sie mit einem Stock auf die Poster an der Wand zeigte und die Namen der Stars abfragte. Robert wusste über Mick Jagger, John Lennon und Konsorten viel besser Bescheid als ich. Als auch Toni zum Azubi wurde und tagsüber nicht mehr zu Hause war, nutzten Robert und ich ihren Plattenspieler als Karussell für die Puppen aus meinem Puppenhaus und ließen sie im hohen Bogen vom kreisenden Plattenteller fliegen. Nach dem ersten Spaß leimten wir die Puppen mit Klebstoff auf eine Schallplatte. Die Puppen ließen sich wieder entfernen, der Klebstoff nicht. War das ein Donnerwetter, als Toni am Abend nach Hause kam und ihre Platten nicht mehr abspielen konnte. Mutter hatte uns von da an verboten, alleine in Tonis Zimmer zu gehen. Sowieso mussten wir anklopfen, wenn eines in das Zimmer der anderen wollte, nebst Respekt wurde uns auch Privatsphäre sehr früh beigebracht.

    Einmal nahm Vater uns an seinen Arbeitsplatz mit. Als technischer Hauswart war er in einer Firma tätig, die ihren Sitz in einem Haus hatte, das für damalige Verhältnisse als Hochhaus bezeichnet wurde. Während er in der Werkstatt etwas erledigen musste, fuhren wir mit dem Lift in das oberste Stockwerk und rannten im Wettlauf das Treppenhaus hinunter. Zu Hause baute er Dampfmaschinen und zeigte uns wie sie funktionierten oder machte Strom sichtbar, indem er zwei Kabelenden gegeneinanderhielt, nicht ohne uns auf die Gefahren hinzuweisen. Vater war fürs Technische zuständig, Mutter für alles andere. Die Autorität ging aber eindeutig von unserer Mutter aus.

    An den Sonntagen war der Spaziergang am Nachmittag für die ganze Familie obligatorisch. Angefangen im Quartier, hinauf zum Wald, dem Waldrand entlang und wieder zurück durchs Quartier. Als Toni einmal maulte: »Nur Idioten drehen immer die gleiche Runde«, nannten wir diesen Spaziergang nur noch die ,Idiotenrunde’. Aber nur solange, bis am Endes des Weges aus einer ausrangierten Villa, die einst einem Fabrikinhaber gehörte, ein Behindertenheim wurde und Mutter uns verboten hatte, dieses Wort noch einmal in den Mund zu nehmen, damit die Leute nicht auf falsche Gedanken kamen.

    Wenn wir an einem Baum einen Apfel oder ein paar Kirschen stibitzen wollten, wurden wir von Mutter ermahnt: »Das gehört sich nicht.«

    Überhaupt war es ihr wichtig, was die Leute über uns dachten. Ja nicht unangenehm auffallen war ihre Devise, sie zelebrierte das fast wie eine Religion. In den eigenen Wänden ließ sie uns aber einiges durchgehen, Hauptsache, wir wussten uns in der Öffentlichkeit zu benehmen. Wenn wir am Tisch diskutierten und nicht alle gleicher Meinung waren, verschaffte sie jedem Gehör, auch das war bei ihr Standard. Und die Diskussionen führten oft zu lustigen Debatten. Zum Beispiel bei Kain und Abel, als Gott Kain, zum Schutz vor anderen Menschen, ein Zeichen auf die Stirn setzte. Damit brachten wir Mutter in Erklärungsnot, denn die ersten Menschen waren Adam und Eva und wir der Meinung, dass diese ihrem Sohn wohl kaum ans Leder wollten. Oder als Toni, sie zwar etwa zwölf Jahre alt, einmal sagte: »Ich will wissen wie es ist, wenn man am Morgen aufwacht und feststellt, dass man tot ist«, hatte Mutter alle Mühe uns beizubringen, dass man nicht beides gleichzeitig sein kann. Auch unsere Eltern konnten miteinander lachen. Einmal, als Mutter an einem Pullover strickte - sie beherrschte die Stricknadeln virtuos - sagte sie zu Vater, dass die Wolle vermutlich zu Ende geht, bevor der Pullover fertig wird und er dazu trocken meinte: »Dann strick einfach ein bisschen schneller.«

    Wir verbrachten eine schöne Kindheit, eine tolle Jugendzeit, gehörten in der Schule zum besseren Durchschnitt und stehen uns auch heute noch immer sehr nahe.

    2

    Mein Vater ist vierfacher Vater, dreifacher Groß- und inzwischen einfacher Urgroßvater und eben Wittwer. Dazu gehören zwei Schwiegersöhne, einer davon ein Ex-, und zwei Schwiegertöchter, eine davon in spe. Er ist von schlanker Statur, hat nur ein kleines Wohlstandsbäuchlein, volles weißes Haar und sieht viel jünger aus, als er effektiv ist. Vom Aussehen her hat er etwas von Spencer Tracy, auch wenn wir ihm nicht die gleichen Charakterzüge, die dieser Star in den Filmen verkörpert, zuschreiben können. Aber es scheint in den Genen zu liegen, dass in unserer Familie, wenn wir den Komplimenten glauben dürfen, alles attraktive Menschen sind. Obwohl Frank die sechzig bereits überschritten hat, zeigt sein braunes Haar keine Anzeichen eines Ausfalls und ist nur an den Schläfen leicht ergraut. Seine Frau Lore, die ein Jahr älter ist als er, trägt eine Brille und ihre rötlichblonden Haare sind immer kurz frisiert. Sie ist in ihrer Aufmachung eher bieder, aber immer gepflegt. Dass die Ehe kinderlos geblieben ist, entsprach nicht dem Wunsch der beiden. Ihren Wohnsitz haben sie in der zu Kaltbad nahen Stadt. Toni ist trotz ihrer modernen Aufgeschlossenheit eine mütterliche Erscheinung und manchmal etwas blauäugig. Sie ist geschieden und pflegt zu ihrem Exmann, so wie wir alle, einen freundschaftlichen Kontakt. Zusammen haben sie zwei Töchter, von denen Nicole, die ältere, in Amerika einen Job gefunden hat und Karin, die jüngere, einen Freund hat, mit dem sie zusammen in der gleichen Stadt wie Frank und Lore wohnt. Wegen ihrer Arbeitsstelle hat es Toni in den Norden von Deutschland verschlagen und sie muss, wenn sie uns in Kaltbad besucht, für die Reise mindestens drei Stunden einrechnen. Robert hat als einziger die schwarzen Haare unserer Mutter geerbt und war mit seinen blauen Augen schon in der Schule der Schwarm aller Mädchen. Er ist nicht verheiratet, hat aber eine langjährige Beziehung zu einer geschiedenen Frau und wohnt mit ihr und ihren beiden Kindern in einem kleinen Dorf, eine halbe Autostunde von Kaltbad entfernt. Ich selbst wirke trotz meinen fünfzig Jahren jugendlich und bin stets modisch gekleidet. Wer mir zum ersten Mal begegnet, erkennt meine emotionale Energie, meine Intuition und Zielstrebigkeit nicht auf Anhieb. Lernt man mich aber näher kennen, werden meine intensiven Gefühle und meine Fürsorge ersichtlich, vor allem für Menschen, die mir nahestehen. Zu meinen Schwächen gehören Ungeduld und dass ich vieles hinterfrage. »Muss man bei dir immer alles auf die Goldwaage legen«, schimpfte meine Mutter oft mit mir. Ich bin verheiratet und wohne mit David, meinem Mann, im Nachbardorf von Kaltbad, in das wir gezogen sind, als unsere Tochter Kelly ausgeflogen ist. Es hat sich so ergeben, dass ich ein bisschen in die Rolle unserer Mutter geschlüpft und zum neuen Dreh- und Angelpunkt der Familie geworden bin, besonders für Vater. Er nimmt einen wichtigen Stellenwert in meinem Leben ein und ich verbringe sehr viel Zeit mit ihm. Ich mag seinen speziellen Schalk und seine ruhige Art, aber anders als Mutter, verfügt er nicht über sehr viel Empathie. Dafür kann er nichts, Empathie ist nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt. Er ist ein guter Handwerker und kennt sich mit elektrischen Dingen aus. In meinem Haushalt, oder dem meiner Geschwister, brachte er jede Lampe zum Glühen, defekte Maschinen zum Laufen oder zog eine neue Steckdose, wenn wir uns eine wünschten. Jetzt, wo er älter ist, hat das Werken nachgelassen und er verbringt lieber Zeit in der freien Natur als in seinem Bastelzimmer, das er in einem ehemaligen Kinderzimmer eingerichtet hat.

    Mit Marc, meinem Geschäftspartner, führe ich in Kaltbad seit fünfzehn Jahren eine kleine Treuhandagentur, die es mir erlaubt Vater im Alltag behilflich zu sein. Er ist froh, wenn ich ihm wichtige Briefe schreibe, ihn zum Einkaufen begleite oder Besorgungen für ihn mache. Nicht wenige Male nimmt er meine Chauffeurdienste in Anspruch, wenn ihm die Wege für seine Vorhaben zu weit oder die Nutzung der Bahn zu umständlich sind. Die Zeit, die wir als Familie mit Vater verbringen, empfindet niemand als Opfer, wir sind gern mit ihm zusammen. Familientraditionen werden nicht nur hochgehalten, sie sind heilig. Allein die Einladungen zu allen Geburtstagen füllen den größten Teil unserer Terminkalender. Daneben trifft sich die Familie zu Picknicks und Ausflügen, an denen Vater, früher zusammen mit unserer Mutter, immer teilnimmt. Weil er fast überall dabei ist, kennt er auch die meisten unserer Freunde. Er kann sich nicht beklagen, dass er einsam ist. Als Wittwer allein, ja, aber nicht einsam. Dazu ist er zu gut in seine Familie eingebunden und integriert. Zudem profitiert er auch finanziell von uns, weil wir ihm in unserem Beisein seine Auslagen übernehmen und ihm auch unter dem Jahr Gelegenheitsgeschenke zukommen lassen, da wir davon ausgehen, dass ihm die Renten nur ein bescheidenes Leben ermöglichen. Jedenfalls vermittelt er uns diesen Eindruck.

    Kaltbad ist ein typisches Dorf in einer ländlichen Gegend. Es liegt auf einer leicht erhöhten Sonnenterrasse in der Agglomeration der nahen Stadt. Auf der einen Seite grenzt es an einen Hang mit Buchenwäldern und auf der anderen Seite bietet es einen wunderschönen Ausblick auf die Ebene, durch die sich ein breiter Fluss schlängelt. Nebst einer Industriefabrik am Rande, findet man im Dorf Handwerksbetriebe und fünf aktive Bauernhöfe, wovon zwei außerhalb inmitten von Grünzonen liegen. Da es früher eine reine Arbeitersiedlung war, wechseln sich in den Quartieren Wohnblöcke und Einfamilienhäuser ab und erst in den siebziger Jahren kamen an der Hanglage ein paar Villen dazu. Menschen aus allen sozialen Schichten sind hier ansässig und sind stolz auf ihr Dorf. Trotz seiner neuntausend Einwohner dominiert der Dorfcharakter. Man kennt sich persönlich oder mindestens vom Sehen und zahlreiche Vereine jeglicher Art tragen zu einem aktiven Dorfleben bei. Die Bräuche werden gehegt und gepflegt und Ausländer, die in Kaltbad Wohnsitz nehmen, werden integriert. In dieser Hinsicht sind die Einwohner sehr tolerant, auch wenn sie sich nach außen nicht so international geben. An Gemeindeversammlungen kann es durchaus turbulent zugehen und es fliegen unschöne Wörter durch den Saal. Aber nach den Versammlungen treffen die politischen Gegner in der Gastwirtschaft beim Bier wieder aufeinander und sind sich einig, dass Kaltbad mit all seinen Besonderheiten und Alltagskleinigkeiten ein Dorf ist, in dem es sich zu leben lohnt. Zudem ist es mit seiner Nähe zur Autobahn und dem eigenen Bahnhof verkehrstechnisch sehr günstig gelegen.

    Als Kelly ausgezogen ist, haben wir uns einen Hund angeschafft. Weil David sein männliches Ego nicht mit einer speziellen Hunderasse aufpolieren muss, haben wir uns in einem Tierheim umgesehen und uns für einen zweijährigen, mittelgroßen, struppigen und süßen Mischlingshund entschieden, den wir sofort ins Herz geschlossen haben. Eigentlich hieß er Lumpi. Aber wegen seinem dreifarbigen, in alle Richtungen abstehenden Fell, tauften wir ihn um und gaben ihm den Namen Struppi. Tagsüber ist er bei mir in der Agentur, für die ich und Marc in der Nähe des Dorfzentrums im Parterre einer Liegenschaft ein Geschäftslokal gemietet haben, in welches man direkt vom Gehsteig aus eintreten kann. Das Lokal besteht aus vier Räumen. Je einen Raum haben Marc und ich in Anspruch genommen und mit modernen Büromöbeln eingerichtet. Im Eingangsbereich, wir nennen ihn ‚Lobby’, stehen ein gewinkelter Schreibtisch, ein Rollcontainer, diverse mit Ordnern gefüllte Regale, ein Kopiergerät und ein Aktenschrank. Den vierten und kleinsten Raum, gleich neben der kleinen Küche, haben wir mit einem viereckigen Glastisch und schwarzen Ledersesseln ausgestattet und nutzen ihn für Besprechungen oder als Pausenraum. In den ersten Wochen habe ich Struppi daran gewöhnt, dass im Büro weder gebettelt noch gespielt und zu Hause alles nachgeholt wird. Ich besuchte mit ihm einen Erziehungskurs und blieb bei einer Trainingsgruppe hängen, die sich einmal pro Woche an einem Abend auf einem Übungsplatz trifft. Trainieren zu sagen wäre übertrieben, denn die meisten von uns sind nicht so konsequent, dass die Hunde die Übungen prüfungsgerecht ausführen könnten. Trotzdem lernen die Hunde viel und vor allem, sie sind unter Artgenossen. Ein eigenes Geschäft zu führen ist praktisch, weil es mir erlaubt, mich vom Arbeitsplatz zu entfernen, wenn der Hund oder mein Vater einen Bedarf haben. Eine Studie die besagt, dass Tiere motivierend auf das Arbeitsklima wirken, bestätigt sich auch bei uns. Lena, unsere Lehrtochter im zweiten Lehrjahr, die den Fokus ihrem Alter entsprechend auf Jungs, Mode, Kosmetik und Discos - Lena nennt sie Dance Clubs - legt, findet Struppi toll. Am Anfang wollte sie ihm unermüdlich das Apportieren beibringen und brachte ihn soweit, dass er die Post in den Fang nahm. Aber jedes Mal, wenn er mit den Briefen in der Schnauze in mein Büro laufen sollte, ließ er sie auf halbem Weg fallen. Lena gab es schließlich auf. Aber die Freude blieb und wehe, der Hund ist einmal einen Tag nicht da, weil David einen freien Tag hat oder Struppi bei Kelly ist, die ihn ab und zu hütet. Lena ist an diesen Tagen mürrisch und schiebt fast eine depressive Krise. Marc hat mit Hunden nicht viel am Hut aber nichts dagegen, dass er hier ist und überwindet sich sogar, ihm ab und zu liebevoll über den Kopf zu streicheln.

    Marc ist fünf Jahre jünger als ich und wir haben uns bei einem Expertenweiterbildungskurs kennen gelernt. Er sieht sehr gut aus - sein Studium hatte er sich mit Modeljobs finanziert – ist überzeugter Single, trotzdem sehr umgänglich und verfügt über einen gesunden Menschenverstand. Bei der Weiterbildung arbeiteten wir am gleichen Projekt und haben als Team sehr gut funktioniert. Deshalb haben wir beschlossen, die Zusammenarbeit zu wagen und haben es bis jetzt nicht bereut.

    Struppi ist auch bei Kelly höchst willkommen, denn Lynn, ihre kleine Tochter, ist von ihm hellauf begeistert. Sie und Struppi sind ein Herz und eine Seele und ihre Eltern müssen sie selten zu Aktivitäten überreden, wenn der Hund dabei sein wird. Bei schönem Wetter holt oft mein Vater den Hund ab und streift mit ihm durch die Wälder. Allerdings muss ich ihm, bevor er sich auf den Weg macht, die Hälfte der Leckerlis aus seinen prall gefüllten Taschen nehmen, damit der Hund nicht zu dick wird. Vater kann noch weniger als ich diesem speziellen Hundeblick widerstehen, bei dem die meisten weich werden. Ich wünschte mir, ich könnte diesen traurig treuen Hundeblick bei potenziellen Kunden aufsetzen, ich würde jeden Auftrag nach Hause bringen. Für Vater, Struppi und mich ist es eine win-win-Situation. Der Hund kommt tagsüber zu längeren Ausflügen, Vater bleibt in Bewegung und ich habe mehr Zeit, mich meiner Arbeit zu widmen. Das Abholen und Zurückbringen von Struppi schafft einen zusätzlichen Kontakt zu meinem Vater und ich weiß darum immer, wie es ihm geht.

    Im Dorfzentrum von Kaltbad steht auf dem großen, von alten Kastanienbäumen umsäumten Platz ein großer Brunnen, an dem Bauern und Reiter ihre Pferde tränken und in dem im Sommer Kinder baden. In die alten und schön restaurierten Häuserzeilen ist eine Bäckerei mit einem kleinen Café, eine Pizzeria und ein Restaurant, der ‚Bären‘ integriert. In den warmen Monaten stellen die Gastwirte Tische und Stühle hinaus und bewirten die Gäste draußen. In den Bären, mit seiner gemütlichen und unkomplizierten Gastlichkeit kehren die Kaltbader gerne nach den Turn- und Musikübungsstunden ein. Die Musikgesellschaft von Kaltbad ist für ihre musikalischen Darbietungen weit herum bekannt. Nicht weit vom Zentrum entfernt findet man am Rande eines Parks, in einem historischen Gebäude, das Gasthaus Riederhof, dessen Name von einem Sumpfgebiet mit Schilfrohr und Riedergras herrührt, das es hier gab, bevor das Land bebaut wurde. Der Riederhof wird mit seiner gehobenen Ausstattung und der Fünfsterneküche bevorzugt dann besucht, wenn es etwas zu feiern gibt.

    Mein Vater war weder Stammgast in einem der Restaurants noch Mitglied eines Vereins und kannte deshalb nicht viele Leute im Dorf. Vor zwei Jahren hatte er, nach ein paar Besorgungen am Vormittag, keine Lust in die Leere seiner Wohnung zurück zu kehren und die schattigen Plätze vor dem Bären luden an diesem warmen und schönen Frühlingstag zum Einkehren ein. Er suchte sich einen freien Tisch, setzte sich hin und schaute sich schüchtern um. Er bestellte einen Kaffee und während er daran nippte, beobachtete das Geschehen an den Nebentischen. Einer der Tische füllte sich langsam mit älteren Herren, im Durchschnitt um die siebzig Jahre alt, die nach und nach eintrudelten und sich gut zu kennen schienen. Einer der Senioren zog Vater über den Tisch hinweg in die Unterhaltung ein und Vater beantwortete bereitwillig die Fragen, die er stellte. Die Senioren waren beeindruckt, als sie sein Alter erfuhren. Sie kannten viele, die in diesem Alter auf einer Pflegestation liegen, senil sind oder nicht mehr wissen, was um sie herum geschieht und jetzt saß da ein rüstiger alter Herr, gesund und geistig klar. Sie boten ihm an, sich an ihren Tisch zu setzen. Dankbar nahm Vater das Angebot an und fühlte sich geschmeichelt, dass er zu dieser fröhlichen Runde gehören durfte. Weil er lieber zuhörte, trug er nicht viel zur Unterhaltung bei, verstand aber jeden Witz und wusste über viele Themen und das Weltgeschehen Bescheid. Von da an gehörte der Stammtisch im Bären zu seinem festen Vormittagsprogramm. Er lernte auch noch ein paar andere Personen kennen, mit denen er immer öfters auch zum Mittagessen im Bären blieb.

    Mir gefiel diese Entwicklung, weil sie mich entlastet und Vater nun auch unter der Woche Gesellschaft hat. Meine Aufträge sind meistens termingebunden, dulden keinen Aufschub und

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