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Warum es keine Höhlenmalereien über die Liebesabenteuer der erfolgreichsten Mammutjäger gibt
Warum es keine Höhlenmalereien über die Liebesabenteuer der erfolgreichsten Mammutjäger gibt
Warum es keine Höhlenmalereien über die Liebesabenteuer der erfolgreichsten Mammutjäger gibt
eBook453 Seiten6 Stunden

Warum es keine Höhlenmalereien über die Liebesabenteuer der erfolgreichsten Mammutjäger gibt

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Über dieses E-Book

Felix Niggli erwacht regelmäßig – unter Höllenqualen. Nur, um dann wieder in sein Wachkoma zurückzufallen; in jenen seit Jahren anhaltenden Zustand, der ihn stoisch alles und alle über sich ergehen lässt. Felix liegt aber nicht auf der Intensivstation, sondern sitzt in der Redaktion einer angestaubten und angezählten Klatschillustrierten. Der schönste Job der Welt. Findet seine überambitionierte und nimmermüde Chefredakteurin Isabel Lärchinger. Nicht einfach bloß eine stumpfsinnige und nutzlose, sondern vor allem eine demütigende Daseinsvergeudung – findet Felix. Als unverzichtbare Systemkomponente im gesellschaftlichen Räderwerk definiert Isabel Lärchinger ihr Tun, für Felix ist es das größte Fragezeichen hinter unserem Selbstverständnis als zivilisatorische Gipfelstürmer. Niemals allerdings hat er es geschafft, seine kurzen luziden Momente zu nutzen, um sich dauerhaft aus seiner Lebensgrube, in die er im Laufe der Jahre so irgendwie hineingestolpert ist, zu befreien. Bis zu jenem Tag, als seine Chefin seinem umfassenden Unvermögen nicht mit der gewohnten Geduld einer fürsorglichen Mutter beizukommen versucht – sondern unter der Last einer geheim zu haltenden Verzweiflung wie eine Furie über ihn hereinbricht. Dieser Moment entflammt neues Leben in ihm – und er begibt sich mit den Mitteln des Till Eulenspiegel auf einen subversiven Feldzug gegen die Stupidität unserer Gesellschaft, die er ganz maßgeblich in der Person von Isabel Lärchinger verkörpert sieht.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Apr. 2017
ISBN9783742791801
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    Buchvorschau

    Warum es keine Höhlenmalereien über die Liebesabenteuer der erfolgreichsten Mammutjäger gibt - Nic Meyer

    Titel

    Nic Meyer

    Klatschjob

    …oder warum es keine Höhlenmalereien über die Liebesabenteuer der erfolgreichsten Mammutjäger gibt

    Publiziert 2017 bei neobooks.com.

    Überarbeitete Ausgabe vom August 2021.

    ISBN: 978-3-7427-9180-1

    1

    «Das Leben ist eine Tanne…»

    Felix Niggli war mit sich selbst uneins, was ihm mehr Schmerzen bereitete: Die Stimme seiner Chefin, die sich, einem penetranten Tinnitus gleich, in seinen Gehörgängen eingenistet hatte, oder sein linker Backenzahn, der ihn an diesem Samstagmorgen zu einer Notfallkonsultation eines Zahnarzts gezwungen hatte. Er saß im Wartezimmer einer 24-Stunden-Praxis, unweit seiner Wohnung im Hamburger Stadtteil Sankt Georg, und litt.

    «Das Leben ist eine Tanne…»

    Felix’ Ungemach an diesem Vormittag war groß. Das war in seinem Leben zwar nichts Besonderes, bestand ebendieses nach seiner Ansicht doch ausschließlich aus Ungemach. Heute jedoch trafen diverse Plagen in höchst unvorteilhafter Konstellation zusammen. Eine davon war – natürlich – der böse Zahn, der den Zahnarztbesuch nötig gemacht hatte, welcher Felix wiederum den Auftakt seines Wochenendes gehörig ruinierte. Das hätte aber eigentlich gerade heute ein kaum ins Gewicht fallendes Problem sein sollen, da der gestrige Tag weit mehr Widrigkeiten und Erniedrigungen über Felix ausgekippt hatte, als es ein Tag sonst so tat. Und damit bereits schlagkräftig und nachhaltig dafür gesorgt hatte, dass sich Felix nicht wirklich an seiner Freizeit erfreuen konnte; überholende Kausalität sozusagen. Natürlich war das aber kein Trost – man reagiert ja auch nicht gerade mit Gelassenheit auf den Laster, der auf einen zudonnert, während man tödlich angeschossen auf der Straße liegt und verblutet.

    Angeschossen war Felix von seiner Chefin worden. Einer Powerfrau mit großer Liebe fürs Detail. Sie hatte sehr klare Vorstellungen und eine todernste Auffassung von der Art und Weise der Arbeitserfüllung. Felix dagegen eher nicht so. Und diese ideologische Diskrepanz war es denn letztendlich auch gewesen, die zu den Ereignissen von gestern geführt hatte. Ereignisse, die nicht einfach nur verdrießlich gewesen waren, sondern vor allem demütigend. Noch demütigender, als es Felix‘ Broterwerb üblicherweise war.

    Der eiskalte Blick von Heino Ferch, der so viel Geringschätzung zu transportieren vermocht hatte, wie es Felix selbst mit der gehässigsten Tirade nicht hingekriegt hätte, ließ ihn nicht los.

    Schauspieler haben das echt drauf. Logo; die haben ja auch all die verschiedenen Gesichtsausdrücke über Jahre hinweg perfektioniert, dachte Felix peinlich berührt. Immer und immer wieder spielte er die Szene vor seinem geistigen Auge ab. Hatte er wirklich ihn gemeint? Oder hatte der Blick vielleicht doch seiner Chefin gegolten, die hinter ihm gestanden hatte? Ganz abwegig wär’s ja nicht gewesen. Diese schrille Eule mit ihrem hochfrisierten Haar und der dunkelgrünen, schweren Abendrobe, die ausgesehen hatte, als hätte sie sie selbst aus den Vorhängen aus Omas Wohnzimmer geschneidert. Doch es half nichts; Felix wusste genau, dass es Heino Ferch auf ihn abgesehen hatte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte er ihn gemustert, bevor er sich wortlos abgewandt hatte. Es versetzte Felix auch jetzt noch immer einen Stich in die Magengrube, wenn er an dieses deklassierende Antlitz dachte.

    Apropos Stich: Gerade schickte sein Zahn wieder eine Schmerzspitze durch seinen ganzen Schädel. Das ging nun schon seit Wochen so. Bis gestern immerhin nur dann, wenn der Zahn mit Kaltem oder Süßem in Berührung kam oder beim Kauen. Seit letzter Nacht jedoch war der Schmerz Felix‘ fortwährender Begleiter. Es machte ihn beinahe verrückt.

    Keine günstige Voraussetzung für die Konfrontation mit diesen beiden in einen eifrigen Informationsaustausch vertieften Zeitgenossinnen, die bereits das Wartezimmer okkupiert hatten, als Felix hereingetreten war. Seit etwa fünf Minuten prasselte deren Palaver unablässig auf ihn ein. Wie er bereits nach wenigen Sekunden erfahren hatte, waren die beiden Mutter und Tochter, wobei die Mutter – Rentnerin mit Goldrandbrille, roter Polyesterweste über grauem Sweater und Warze zwischen Mund und Nase – diejenige war, die nach zahnmedizinischem Beistand verlangte. Die Tochter, mit ihren gelb-blauen Leggings, der schwarzen Kunstlederjacke und der ultrakrausen, bis auf die Schultern herabhängenden Pudel-Dauerwelle modisch von der Frau Mama emanzipiert, diente lediglich als Chauffeuse.

    Seit wann befällt Karies denn die dritten Zähne?, schleuderte Felix der Alten gehässig entgegen – in seiner Phantasie. Über die Lippen brachte er den Spruch, auf den er eigentlich recht stolz war, nicht. Was macht ihr beiden Unterschichtengrazien überhaupt am Samstag hier?, herrschte er sie gedanklich weiter an. Haben eine Rentnerin und ihre Hausfrauentochter nicht die ganze liebe lange Woche Zeit, um zum Zahnarzt zu gehen?

    Felix steigerte sich in einen regelrechten Hass gegenüber den beiden Frauen hinein, die sich angeregt über Kindererziehung unterhielten. Die Tochter, ihrerseits selbst Mutter, schilderte die jüngsten Entwicklungen ihres fünfjährigen Sohns. Stolz war sie auf den kleinen Kerl, der sich von keinem was sagen ließ und sogar seine Meinung gegen die vom Papa durchsetzen konnte. Anzeichen von Verhaltensstörungen wollte dagegen die Vorschullehrerin festgestellt haben – bloß, weil er oft minutenlang schreiend und schlagend im Kreis rannte, wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging. Spießig sei die, fand die Mutter.

    «Kompletter Unsinn», pflichtete die Großmutter bei. «Die kann das doch nur nicht ab, dass der Junge eine so starke Persönlichkeit hat. So sieht’s doch aus. Kompletter Unsinn das.»

    Felix rieb sich verzweifelt die Schläfen. Nur wenig später allerdings wäre er froh gewesen, die beiden Damen wären bei dem Thema geblieben.

    «Ist das nicht schrecklich?», sagte die ältere nämlich auf einmal zu ihrer Tochter, als sie das Titelbild einer im Wartezimmer ausliegenden Illustrierten erspähte. «Das mit Samantha Kanter, mein‘ ich. Sie war eine so gut aussehende Frau.»

    Nein!, schreckte Felix innerlich auf. NEIN! Bitte nicht! Haltet doch die Klappe, ihr blöden Suppenhühner!

    «Ja», pflichtet die Tochter bei. «Da denkste immer, so was passiert den Stars nicht.»

    «Das sind eben auch nur Menschen.»

    «Was meinst du? War das nun Selbstmord oder ein Unfall?»

    «Natürlich war das Selbstmord, was denn sonst. Stand ja in der ‹Blitz›-Zeitung.»

    «Hat die Polizei das jetzt so schnell schon rausgekriegt?»

    «Soviel ich weiß, haben die noch nichts offiziell dazu gesagt – außer, dass sie hackedicht war. Aber was gibt’s da noch groß zu ermitteln? Die kommt am helllichten Tag auf dem Bahngleis fünfzig Meter hinter ihrem Haus unter den Zug und hat dabei fast drei Promille im Blut. Ich mein‘, wer tankt mitten an ´nem normalen Wochentag einfach so drei Promille, frag ich da. Ne, ne, Mut hat sich die angesoffen, das hat die. Da ist der Fall ja wohl klar. Das denkt auch die ‹Blitz›.»

    «Fürchterlich, wirklich», geriet die Tochter ins Grübeln. «Warum tut eine Frau, die alles hat, so was?»

    «Na ja», sagte die Mutter, «Geld und Erfolg alleine machen halt auch nicht glücklich, weiß man ja. Wie sich jetzt nämlich rausgestellt hat, hatte sie offenbar seit Jahren ein zerrüttetes Verhältnis zu ihrem Vater. Die haben seit langer, langer Zeit kaum noch miteinander gesprochen. Du hast, anders als die Mutter, den Vater auch nie mit ihr zusammen in der Öffentlichkeit gesehen und in Interviews hat sie ihn nie erwähnt. Die haben kürzlich im Fernsehen sogar einen Ausschnitt aus einem alten Interview gezeigt, wo sie sie gefragt hatten, ob ihre Eltern stolz auf sie seien und so was alles. Sie hat dann nur immer über die Mutter geredet. Nur die Mutter immer. Die, mit der, wo sie gesprochen hat, hat sie dann gefragt, was denn der Papa so über ihre Karriere denkt. Diese Frage hat ihr gar nicht gepasst, das hast du sofort gemerkt. Sie hat dann auch nicht darauf geantwortet.»

    «Ach ja? Aber nur, weil du Zoff mit deinem Vater hast, springst du doch nicht vor den Zug.»

    «Kommt immer drauf an, was da alles dahintersteckt…», sagte die Alte andeutungsvoll.

    «Was meinst du damit?», fragte die Tochter aufgeregt; ein hibbeliges Wogen ging dabei durch die Krausmähne.

    «Also, ich würd mich ja gar nicht wundern», begann die Mutter ihre Erklärung mit einer Intonation, als hätte sie gerade vor den internationalen Medien die Lösung des Welthungerproblems bekannt gegeben, «wenn da sexueller Missbrauch im Spiel gewesen wäre. Ist ja heutzutage immer dasselbe, das kennt man ja.»

    Entsetzt starrte Felix zu den beiden Frauen hinüber.

    «Is‘ ja ´n Ding!», rief die Tochter aus. «Also das hätt ich nun nie gedacht. Auf so was würdest du gar nicht kommen, wenn du dir die so ansiehst.»

    «Das gibt‘s mehr, als man wahrhaben will. Und am Schluss sind‘s doch immer die, bei denen du‘s am wenigsten vermutet hättest. Für Täter wie für Opfer gilt das.»

    «Arme Samantha Kanter. Was muss sie nur durchgemacht haben?»

    Felix schoss aus seinem Stuhl hoch und stürzte aus dem Wartezimmer, wortlos vorbei an der verdutzten Praxisassistentin hinaus auf die Straße. Kopfschüttelnd und murmelnd vor sich hin fluchend stapfte er den Häuserzeilen entlang.

    «Das Leben ist eine Tanne, die wir zum Christbaum veredeln!», sagte er in spöttischem Ton, bevor er abrupt dazu überging, die Silben giftig herauszuspucken: «So ein Bockmist! Diese alberne Sirene. Blöde Ziege!»

    Vor dem Schaufenster einer Boutique blieb er stehen, betrachtete sich in einem Spiegel, der zwischen den Kleiderpuppen aufgebaut war.

    «Hallo, du Null», sagt er zu seinem Spiegelbild. «Das Leben ist eine Tanne. Von wegen. Deins ist eine Trauerweide.»

    Sogleich wandte er sich ab – ertrug er seinen eigenen Anblick schon an ‹guten› Tagen nicht sehr lange, widerstand ihm jener heute erst recht.

    Mit noch zügigeren Schritten setzte er seinen Weg nach Hause fort, rempelte dabei unwirsch zwei Passanten an. Doch das nahm er kaum wahr. Er wollte nur noch in das Reduit seiner eigenen vier Wände.

    Nicht mal beim Zahnarzt habe ich meinen Frieden, dachte er aufgelöst, angewidert, erschöpft. Ich könnte kotzen.

    Diese kleine, an sich so bedeutungs- wie harmlose Szene im Wartezimmer hatte Felix nach den vergangenen Tagen, an deren Geschehnisse sie mit psychoterroristischer Perfektion nahtlos angeschlossen hatte, den Rest gegeben. Das war zu viel gewesen.

    Na ja, in Felix‘ Leben war im Grunde bereits ein verklemmter Reißverschluss, Kabelsalat oder widerborstiges Verpackungsmaterial zu viel; bei einer Frustrationstoleranz so fragil wie eine Seifenblase im Sandsturm. Aber im Moment wurde sie auch etwas arg strapaziert.

    Und die Wurzel dieses aktuellen Übels war Samantha Kanter.

    Seit die Schauspielerin vor zwei Wochen gestorben war, rannte Isabel Lärchinger, die unermüdliche Chefredakteurin des Fachmagazins für bunte Berichterstattung über illustre Persönlichkeiten ‹Die Sternwarte›, mit dieser Angelegenheit hinter Felix her. Als der für das Ressort ‹Film & Fernsehen› zuständige Redakteur war es schließlich seine jobgegebene Pflicht, sich gebührend mit den mysteriösen Umständen dieses prominenten Todesfalls auseinanderzusetzen; so was kriegte man nicht jeden Tag geschenkt. Schon in der letzten Ausgabe des Hefts hatte er freimütig darüber fabulieren müssen.

    Und nun stand die logische Fortsetzung der Mär an; solche Geschichten boten Schreibstoff für Wochen. Nicht aber für Felix. Wie so oft, wenn es darum ging, aus einer thematischen Ausgangslage mehr als bloß einen Beitrag rauszuquetschen, gestaltete sich für ihn die Niederschrift des nächsten Kapitels als hartnäckiges Pièce de Résistance. Dieses Mal war es aber besonders schlimm; es wollte ihm beim besten Willen nichts einfallen. Das war ohne Zweifel – aber bedenklicherweise längst nicht alleine – darauf zurückzuführen, dass Felix sich mit Recherche im Allgemeinen schwertat; und das meinte in der Tat, dass er nur schon Unlust zeigte, Google zu Rate zu ziehen oder einschlägige Konkurrenzpublikationen zu studieren. Aber auch wenn er jeweils die maßgeblichen Fakten zusammengetragen hätte – er hätte damit nicht viel anzufangen gewusst.

    Begreiflich, dass seine Chefin deswegen regelmäßig zur Zwiesprache lud. In akuten Lagen, wie es die Kanter-Situation eine war, zeigte sie sich aber übersteigert beharrsam; während der ganzen letzten Woche hatte sie Felix täglich, stündlich bearbeitet. Nicht mit Zwang, Druck oder unter Androhung von Repressalien, das war ganz und gar nicht ihr Stil. Sie hatte Felix vielmehr unter gutem Zureden dazu zu motivieren versucht, den geforderten Artikel zu erarbeiten. Immer und immer wieder. Und immer und immer wieder hatte sie ihm ihr unsägliches Motto um die Ohren geschlagen: «Das Leben ist eine Tanne, die wir zum Christbaum veredeln!».

    Felix hätte seiner Chefin den Christbaum am liebsten sonstwo hingepflanzt.

    Gestern dann war es kaum noch auszuhalten gewesen. Fast den ganzen Tag hatte sie an ihm geklebt; wollte sie doch zumindest einen Vorschlag für den Artikel bis Montag auf dem Tisch haben. Was Felix dabei zum Kochen brachte, war die Tatsache, dass er genau wusste, dass die Alte selbst schon längst das Thema des geforderten Artikels in ihrem Hinterkopf mit sich trug. Wieso konnte sie ihm das nicht einfach im Sinne einer Arbeitsvorgabe offenlegen? Aber nein, es war ihr wichtig, dass Felix von selbst darauf kam. Des Lerneffekts wegen. Von wegen.

    Zu seiner Erleichterung war mit dieser desavouierenden Übung gegen drei Uhr Schluss gewesen. Um diese Uhrzeit nämlich war die Lärchinger zum Friseur gegangen – Vorbereitungsmaßnahmen für die Premiere des neuen Otto-Films im CinemaxX Dammtor am Abend.

    Das sollte aber nur der Auftakt für Felix‘ nächste Quälerei gewesen sein. Denn die Lärchinger hatte es für sinnvoll und notwendig befunden, ihren schwächelnden Mitarbeiter auf eine intensive Lektion im Felde mitzunehmen. Zu diesem Zweck hatte sie ihn an besagte Premiere und dort in der Kino-Lobby von Promi zu Promi geschleppt, auch wenn ein Anwesender nur annähernd dieses Kriterium erfüllt hatte. Zum Kontakteknüpfen und so; ähnlich einer Mutter, die ihren verklemmten Sohn auf Teufel komm raus mit einer Frau zu verkuppeln suchte. Das war dann eben der Anlass für jene beschämende Begegnung mit Heino Ferch gewesen. Damit hatte es sich allerdings auch schon gehabt mit Kontakten; denn die Mutter war – was sie jedoch mit der mentalen Vehemenz eines Psychopathen aus der für sie geltenden Realität zu verbannen wusste – gesellschaftlich leider genauso irrelevant wie der Sohn. Daher war es auch nicht erstaunlich oder außergewöhnlich gewesen, dass alle anderen – und nicht nur die Schönen und Reichen, sondern auch die Kollegen von der Konkurrenz – an Felix und der Lärchinger vorbeigeilt waren, ohne die beiden eines Blickes zu würdigen: Ebenso peinliches Business as usual für die glücklosen Promi-Chronisten der ‹Sternwarte›. Konnte ein Freitagabend noch misslungener geraten?

    Unnötig zu erwähnen, dass ihn seine Chefin bei der Verabschiedung spätabends nochmals eindringlich an seine Hausaufgaben ermahnt hatte: Exposé für Kanter-Artikel. Bis Montag!

    Felix, dessen Batterien normalerweise spätestens mittwochnachmittags ausgebrannt waren, war nach dieser intensiven Woche mit superintensivem Schlussspurt völlig erledigt; der Zahnschmerz schaffte ihn zusätzlich. Nein, genießen würde er sein Wochenende nicht können, damit hatte er sich abgefunden. Aber etwas Seelenfrieden, den hatte er sich schon erhofft.

    Doch dann hatte diese Mutter-Tochter-Combo seinen Weg kreuzen müssen. Und seinen Seelenfrieden niederträchtig gemeuchelt.

    Das von den beiden so verübte Verbrechen umfasste dabei genaugenommen zwei Tatbestände. Grundsätzlich hatte es ja bereits gereicht, dass sie sich derart angeregt über die Klatschspalten unterhalten hatten. Alleine das war Felix unerträglich gewesen.

    Die aber weit verwerflichere und schwerwiegendere Tat lag darin, dass sie ihm – geholfen hatten. In ihrer entsetzlichen Einfalt hatten sie ihm tatsächlich geliefert, worauf es seine Chefin abgesehen hatte: Den Aufhänger für den nächsten Abschnitt der Hintergrundanalyse der Umstände des Todes der Samantha Kanter.

    Das Schicksal schien sich einen Spaß daraus zu machen, Felix in immer kreativerer Weise seine eigene erbärmliche Unzulänglichkeit vor Augen zu führen. Auch wenn es ihm ganz und gar zuwider war, solchen Buchstabenmüll zu fabrizieren, wäre er doch dankbar gewesen, wenn nicht fast jeder redaktionelle Beitrag, den er abzuliefern hatte, eine derartige Zangengeburt für ihn bedeutet hätte. Es mochte ja nachvollziehbar sein, dass sein Denkorgan bei dieser Art von Arbeit den Dienst verweigerte – trotzdem war das keine Entschuldigung, da machte er sich nichts vor. Denn erstens war dieses Gehabe durch und durch grotesk und zweitens konnte man Textlein, wie er sie vorzulegen hatte, streng genommen auch im Koma verfassen. Außerdem hätte er es noch aus einem anderen Grund begrüßt, wenn ihm seine Pflichten etwas leichter von der Hand gegangen wären. Seiner Chefin wegen – und, so verstörend das war, nicht bloß deshalb, weil er unter diesen Voraussetzungen zumindest ein klein wenig befreiter von ihren Bevormundungen gelebt hätte.

    Jetzt bin ich schon auf die Hilfe von zwei Proletarierschnepfen angewiesen, dachte er, während er die Treppe zu seiner Dreizimmerwohnung hochstieg. Aber warum rege ich mich eigentlich darüber auf? Wir wären ein super Team: Ich kann mir nicht so schöne Geschichtchen ausdenken und die beiden dürften ihre liebe Mühe mit dem Alphabet haben.

    Nachdem er die Wohnungstüre hinter sich geschlossen hatte, ließ Felix seine Jacke auf den Boden fallen, entledigte sich auf dem Weg zu seinem Schlafzimmer seiner Schuhe und grub sich in seinem Bett ein. Viel lieber hätte er sich zwar einem grenzenlosen Besäufnis hingegeben; seit er sich allerdings vor fünf Jahren unter dem Einfluss maximaler Ethanolintoxikation die Geleise der Hamburger Hochbahn als Schlafstatt ausgesucht hatte und beinahe überfahren worden wäre, hatte Felix Respekt vor Alkohol und deshalb das Zeug aus seinem Leben verbannt.

    Also versuchte er, sich in Morpheus‘ Arme zu flüchten. Müde war er eigentlich immer, weshalb sich diese Art der Selbstbetäubung in aller Regel als sehr zweckmäßig und effektiv erwies. Doch noch wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Zu heftig kreisten die Gedanken: Verdammt, wie tief kann ich eigentlich noch sinken? Ich hätte nicht gedacht, dass tiefer überhaupt noch möglich ist. Ein erwachsener Mann von 38 Jahren, der sein Leben an… an Zeug vergeudet – und dabei auch noch versagt. Jämmerlicher geht nicht.

    Felix entfuhr ein kehliger Schrei. Er zerrte das Kissen unter seinem Kopf hervor und schleuderte es quer durch sein Schlafzimmer. Das Kissen traf das eine von zwei Regalen auf der anderen Seite des Raumes, das daraufhin – bedingt durch seine schwedische Leichtbauweise – unter Getöse zusammenbrach. Was Felix nur noch zorniger machte. Also riss er die Bettdecke von seinem Körper weg, stürmte aus dem Bett – und verfing sich in der Bettdecke, die zur Hälfte auf dem Boden lag. Er stolperte, versuchte noch, sich auf dem Nachttisch abzustützen, und fiel dann doch hin.

    Was soll man noch sagen? Deeskalierend wirkte das nicht gerade. Felix, dem das geforderte Herz bis zum Halse schlug, wollte eigentlich vor Ärger laut aufschreien, doch war er so unglücklich auf den Rücken gefallen, dass es ihm für einen Moment den Atem verschlagen hatte. Tonlos riss er seinen Schlund auf, um den herum sich das Gesicht rot verfärbte. Erst nachdem er wieder hatte Luft holen können, stieß er mit hervortretenden Augäpfeln einen martialischen Schrei aus, in den er seinen ganzen Unmut packte. Als er so dalag und seinem Stimmorgan freien Lauf ließ, gemahnte sich der leidenschaftliche Cineast für den Bruchteil einer Sekunde selbst an Al Pacino, wie er am Ende von ‹The Godfather III› auf der Treppe des Teatro Massimo in Palermo um seine sterbende Filmtochter weinte.

    Aber Felix wollte nicht der vornehme Gentlemanmobster Michael Corleone sein. Vielmehr wünschte er sich, es Michael Douglas in ‹Falling Down› nachtun zu können und mit allem rigoros aufzuräumen, was ihm in dieser Welt auf den Zeiger ging – und das war eine Menge. Doch für den Moment würde es schon das noch intakte, zweite, baugleiche und daher im Sinne der Anklage schuldige Regal tun. Felix sprang auf, stürzte zu besagtem Möbelstück und begann wie wild daran zu rütteln und zu schütteln, Bücher und Nippes herauszuschleudern, es mit Schlägen und Fußtritten zu bearbeiten. Selbstverständlich bereitete ihm das nur weitere Schmerzen, was ihn wiederum in seiner Kleinholz-Manie befeuerte. Nachdem endlich das ganze Regal in seinen Einzelteilen und der einstmalige Inhalt auf dem Schlafzimmerboden verstreut waren, warf sich Felix wieder in sein Bett und vergrub seinen Kopf in den Kissen.

    2

    Der Bahnsteig, auf dem Felix wartete, war ungewöhnlich weitläufig. Er schien den Gleisen bis zum nächsten Bahnhof entlang zu folgen. Aber auch das Feld von weiteren Bahnsteigen und Geleisen, das sich vor Felix ausbreitete, war unüberblickbar weit und verlor sich irgendwo im Dunkel der Nacht. Auf keinem der dazwischenliegenden unzähligen Schienenpaare stand oder fuhr ein Zug. Dadurch wirkte die gewaltige Dachkonstruktion, die sich über diese Szenerie der Leere wölbte, mit ihren in mattem Dunkelgrün gestrichenen, hoch hinaufgezogenen Stützpfeilern noch gespenstischer. Hinter Felix tat sich ein Labyrinth von schäbig-schmuddeligen Ladenpassagen auf. In der gesamten Bahnhofshalle herrschte Totenstille. Nur auf Felix’ Bahnsteig warteten Passagiere – dies dafür umso zahlreicher; sie standen mit so fahlen wie ausdruckslosen Gesichtern orientierungslos und schweigend umher.

    Plötzlich erschien – ohne dabei auch nur den Hauch eines Geräusches von sich zu geben – der einfahrende Zug vor Felix. Die Waggons der Zugskomposition waren, der Bahnhofshalle entsprechend, auf eine Furcht einflößende Art überdimensioniert und düster. Zu besteigen waren sie über schmale, steil angebrachte Metallstufen. Das Innere der Waggons war ausgesprochen eng – ganz und gar nicht das, was man aufgrund des äußeren Anblicks hätte erwarten dürfen. Und chaotisch war es; einige Abteile lagen erhöht auf Podesten, manche waren sehr langgezogen, andere wiederum erstreckten sich in ihrer Breite von Seitenwand zu Seitenwand. Einen Waggon zu durchqueren glich einem Geländelauf. Der Zug war bereits bei der Einfahrt in den Bahnhof vollbesetzt gewesen. Dennoch fanden all diejenigen, die zusammen mit Felix gewartet hatten, problemlos Platz. Nur er sah sich vergebens nach einem freien Sitz um.

    Als sich der Zug in Bewegung zu setzen begann, bemerkte Felix nach einem Blick aus dem Fenster, dass sie durch eine ihm völlig unbekannte Gegend fuhren – ganz offensichtlich war es zwischenzeitlich Tag geworden. Felix erschrak; war er doch auf dem Weg zu einem Termin, den er dringend wahrzunehmen hatte. Zwar vermochte er sich nicht an das Wann, Wo oder Warum jenes Termins zu erinnern, aber er war sich ganz sicher, dass er im falschen Zug saß.

    Im engen Führerstand der altertümlichen Dampflokomotive breitete sich ein ganzer Wald von kleinen Tannenbäumchen aus, dem es nicht in den Sinn kam, sich von den Außenwänden begrenzen zu lassen. Außer Felix und den Tannen war da sonst aber keiner. Er drehte sich zu der Lärchinger um und wollte wissen, wann sie den nächsten Bahnhof erreichen würden. Ohne auf seine Frage einzugehen, hieß sie ihn, kräftig in den Kessel einzufeuern. Seiner Vorgesetzten gehorchend griff sich Felix eines der Bäumchen und stopfte es in den lodernden Innenraum der Feuerbüchse. Dem ersten folgte ein zweites, drittes, viertes… doch Felix hatte noch immer keine Antwort auf seine Frage erhalten. Er wusste, er musste aus diesem Zug aussteigen. Erneut wandte er sich zu seiner Chefin.

    In diesem Moment schlug er die Augen auf.

    Die Luft in Felix’ Schlafzimmer war heiß und stickig. Benommen suchte er nach dem leuchtenden Display seines Weckers; dem einzigen Orientierungspunkt in dem dunklen Raum.

    Ich sollte Handschuhe tragen, dachte Felix währenddessen. Diese verdammten Tannen piksen wie verrückt, außerdem kriege ich Ausschlag.

    Ein Teil seines Bewusstseins fuhr immer noch Zug.

    Verschwommen nahm er drei grüne Ziffern wahr; allerdings nicht dort, wo er sie vermutet hatte. Erst jetzt merkte er, dass er quer über die Matratze lag. 6.49 Uhr war es. 6.49 Uhr. In elf Minuten würde ihn der Wecker aus dem Bett befehlen. Er war überrascht, dass es schon so spät war.

    Felix hasste es, mit dem Eindruck zu erwachen, es sei noch mitten in der Nacht, während tatsächlich das Aufstehen kurz bevorstand. Eigentlich hasste er es überhaupt zu erwachen: Sich der Realität, dem Leben, sich selbst stellen zu müssen, nachdem man für ein paar Stunden so scheinbar unendlich weit weg von allem war. Schlafen war für Felix ein bisschen so, wie tot sein. Nein, er erwachte wahrlich nicht gerne. Auch dann nicht, wenn sein Schlaf von so unruhigen und wirren Träumen heimgesucht wurde wie gerade noch vor ein paar Minuten: Kein wirklicher Alptraum zwar, eigentlich belangloser Unsinn, aber trotzdem beschwor er eine ungemütliche, gar bedrohliche Atmosphäre herauf, sodass da unterschwellig stets ein plagender Alpdruck präsent war.

    Diese Sorte von Traum kannte Felix nur zu gut; sie suchte ihn fast immer dann heim, wenn ihn etwas bedrückte. Atemlos wurde er dann von Szenario zu Szenario geschubst, eines verrückter als das andere. Diese wilde Träumerei bewirkte nicht selten, dass er sich, so wie jetzt, nach dem Aufwachen noch erschlagener fühlte als vor dem Einschlafen.

    Er hatte den Führerstand der Lokomotive inzwischen verlassen und sein Geist war vollständig im Diesseits angekommen. Die Realität, das Leben, sein Selbst: Es traf ihn wie Faustschläge ins Gesicht. Wie jeden Morgen. Nur heute noch ein bisschen wuchtiger als gewöhnlich. Mit jedem Haken taumelte er mehr und mehr in eine schwere, bleierne Trägheit hinab, die zu den üblichen morgendlichen Anlaufschwierigkeiten hinzukam und mit ihnen zusammen zur unüberwindbaren Hürde wurde.

    Wimmernd steckte er seinen Kopf unter das durchgelegene und vom Nachtschweiß durchnässte Kissen. Jede Faser seines Körpers schien sich mit ganzer Kraft geradezu in die Matratze zu drücken.

    «Nein», sagte er. Er kroch unter seinem Bettzeug hervor. «Nein!»

    Kurzentschlossen deaktivierte er die Alarmfunktion seines Weckers, entstieg seinem Bett, um seiner Blase die nötige Erleichterung zu gewähren und legte sich danach wieder hin.

    Felix trat auf die Terrasse des blassgelb verputzten Neubaus hinaus, von dessen Fensterscheiben noch nicht einmal die Herstelleraufkleber entfernt worden waren, der aber trotzdem wie eine zerbombte Kriegsruine wirkte. Die vier, fünf Menschen, die dort standen und auf das weite, olivgrüne Meer hinausblickten, drehten sich zu ihm um; seine Familie. Er erkannte kein einziges der Gesichter, aber es war seine Familie. Felix sah sich um. Er stellte fest, dass sich zu seiner Linken wie zu seiner Rechten Strandbungalow an Strandbungalow reihte; von Horizont zu Horizont – und ein jeder derselbe schmucklose Betonbunkerquader in Blassgelb. Unbewohnt und leerstehend. Felix vernahm von Weitem die Stimme seines alten Klassenlehrers, der ihn und alle anderen Kandidaten ins Unterrichtszimmer rief. Mit Schrecken erinnerte er sich auf einmal daran, dass heute Prüfungstag war! Und er war kein bisschen vorbereitet. Seine Matura; nachdem sich überraschend herausgestellt hatte, dass er damals vor bald zwanzig Jahren nicht alle Prüfungen abgelegt hatte, musste er diese nun nachschreiben. Ängstlich schritt er den ausladenden Flur mit dem schwarz-weißen Mosaikboden entlang auf die doppelflügelige, schwere Holztüre zu, hinter der sich ein großer Saal auftat. Er blieb stehen und spähte zwischen dem Türspalt…

    Der eindringliche Klingelton seines Mobiltelefons riss Felix aus seinem fortgesetzt unruhigen Schlaf. Er musste gar nicht auf das Display schauen, um zu wissen, wer ihn anrief; sein Wecker hatte ihm verraten, dass es inzwischen 8.30 Uhr war. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er rangehen sollte, doch da hörte das Gerät bereits auf zu läuten. Sekunden darauf klingelte dafür sein Festnetztelefon. Mit einem tiefen Seufzer schlurfte er aus seinem Schlafzimmer in den Korridor zu der Kommode, auf dem sein Telefon stand. Er nahm das lärmende Stück Kunststoff widerwillig in die Hand, blickte kurz darauf und drückte dann die Annahmetaste. Begleitet von einem Räuspern führte Felix das Telefon an sein Ohr.

    «Hallo?», sprach er in die Muschel.

    «Felix, was ist denn mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut? Sind Sie krank?», meldete sich auf der anderen Seite Isabel Lärchinger.

    Es war diese Eigenschaft seiner Chefin, die Felix überhaupt am meisten verfluchte. Herzlichkeit. Felix wusste, dass hinter ihren Fragen ehrliche Sorge um sein Wohlergehen steckte. Sie mochte zwar eine schleifende Vorstellung der Pflichterfüllung haben und damit ihren Redakteuren auch ständig auf penetrante Art und Weise im Nacken sitzen, aber es war ihr ein zentrales Anliegen, dass es ihren Leuten gut ging, sowohl privat als auch geschäftlich. Bemerkte sie eine Frequenzabweichung in den Befindlichkeitsschwingungen eines Mitarbeiters – und sie war durchaus sensibel in ihrer Wahrnehmung diesbezüglich – nahm sie sich Zeit und bot geduldig ihr Ohr an.

    «Morgen, Chefin», sagte Felix leise. «Nein, um ehrlich zu sein, geht es mir… nicht gut.»

    «Wissen Sie, den Eindruck hatte ich schon am Freitag. Warum reden Sie denn nicht mit mir? Was ist los?»

    «Nun... also… das lässt sich nicht so einfach in Worte fassen. Ich… ach, ich weiß auch nicht. Verdammt noch mal.»

    Die andere Seite der Leitung blieb für einige Sekunden stumm. «Hören Sie Felix», sagte die Lärchinger dann, «was immer Sie plagt – Sie wissen, Sie können mit mir darüber reden. Aber vorher brauche ich Sie an der Wochenauftaktskonferenz. Wir haben eine arbeitsreiche Woche vor uns. Das gilt auch für Sie. Sie betreuen wichtige Dossiers. Die Kanter-Sache ist heiß. Die muss man schmieden! Und Holger Krohn hat heute früh angerufen. Er hat das ganze Wochenende über versucht, Sie zu erreichen. Er war sehr kurz angebunden, aber er erwartet Ihren Rückruf. Es gibt anscheinend wichtige News. Also, Felix: Geben Sie sich einen Ruck, kommen Sie an die Konferenz, versuchen Sie, sich für eine Stunde zusammenzunehmen und danach können Sie mir Ihr Leid klagen. Okay?»

    Während Isabel Lärchingers Redeschwall über Felix niederging, drückte er mit einem gequälten Gesichtsausdruck seinen Kopf so fest gegen die Zimmerwand, dass es ihn an Stirn und Nacken schmerzte.

    «Felix, sind Sie noch da?»

    «Mhm. Ja. Noch da.»

    «Können Sie in einer halben Stunde hier sein? Ginge das?»

    «Also…» Felix tat einen schweren Atemzug. «Denke wohl schon.»

    «Super. Ich danke Ihnen. Und keine Sorge, gemeinsam packen wir Ihre Krise schon. Bis gleich.»

    Nachdem die Lärchinger aufgelegt hatte, verharrte Felix mit geschlossenen Augen an der Wand, seinen hängenden Kopf dagegengelehnt.

    «So kann das nicht weitergehen», sagte er zu sich selbst und schüttelte den Kopf. Das Kopfschütteln ging langsam in ein heftiges Kopfhämmern gegen die Wand über.

    «So. Kann. Das. Nicht. Weitergehen.»

    Zu dieser Überzeugung gelangte Felix regelmäßig – ungefähr vierteljährlich; vor allem zu Jahresbeginn. Immer dann, wenn sich so viel Frust in ihm angesammelt hatte, dass sein Verdrängungsmechanismus zeitweilig den Dienst versagte, und er sich der aufrichtigen Auseinandersetzung mit der Erbärmlichkeit seines Daseins nicht mehr entziehen konnte. Doch dieses Mal waren Felix‘ Worte mehr bilanzierende Feststellung als Absichtskundgabe. Denn so kaputt war er noch nie. So kaputt, dass ihm fürwahr tage-, fast wochenlang keine Idee, nicht mal ein Ansatz davon, für einen Artikel zufallen wollte.

    So kaputt, dass er morgens einfach liegen und der Arbeit fernblieb. Obschon er sich jeden Tag zwingen musste, sich zur Arbeit zu schleppen, hatte es so etwas noch nie gegeben. Er spürte, dass seine Ressourcen im Begriff waren auszubrennen, zu erlöschen. Und es war ihm klar, dass er, würde sich nichts ändern, auf eine Tragödie zusteuerte.

    Es musste sich etwas ändern.

    Felix hielt einen Moment inne, bevor er sich überwinden konnte, seinen Badge durch das Lesegerät zu ziehen. Er stand vor dem Personaleingang des Gebäudes, in dem die Redaktion der ‹Sternwarte› untergebracht war: Eine beachtliche, direkt am Alsterfleet gelegene, langgezogene zehngeschossige Baute, die klassische hanseatische Rotklinkerfassadenelemente mit großflächigen, modernen Glasfronten kombinierte.

    Felix sah seinem Befinden entsprechend aus; notdürftig frisiert und rasiert und sein Blick sprach Bände.

    «Ist der Badgeleser kaputt?»

    Felix drehte sich erschrocken um und blickte in das Gesicht eines ihm flüchtig bekannten Mitarbeiters der Layout-Abteilung.

    «Was?», fragte Felix.

    «Ob der Badgeleser kaputt ist, habe ich gefragt.»

    «Äh, nein… nein, ich denke nicht. Keine Ahnung.»

    «Alles in Ordnung mit Ihnen?», wollte der Layouter misstrauisch von Felix wissen.

    Nein, nichts ist in Ordnung, Mann! Es ist verdammt nochmal Montagmorgen, ich hasse meinen Job, ich hasse mein Leben und ich hasse ganz besonders deine dämliche Fresse, wie sie unter deinen lächerlichen langen Haaren hervorlugt, du blöder Hippie-Punk! Und jetzt lass mich gefälligst in Frieden und geh in den Hinterhof deinen Joint rauchen, damit du nachher den unerträglichen Mist, den ich mir aus den Fingern saugen muss, in hübsche, bunte Farben verpacken kannst! –  wollte Felix am liebsten herausschreien. Was er aber nicht tat. Stattdessen gab er ein knappes «Ja, alles okay» zurück. Der Layouter zog – jetzt mit noch misstrauischerem Blick – wortlos seinen Badge aus der Tasche und öffnete die Tür. Ebenfalls wortlos folgte ihm Felix hinein – wie einst ein verdammter Grieche Charon hinab in den Hades folgte. Der Layouter durchquerte mit zügigen, großen Schritten die Eingangshalle, während er eine nicht zu identifizierende Melodie über seine Lippen gleiten ließ. Auf der gegenüberliegenden Wand der Eingangshalle drückte er den Nach-oben-Knopf des Liftes – worauf sich sogleich die Türe von Lift Nr. 2 öffnete. Er betrat die Liftkabine und blockierte die Lichtschranke, um die Türe für Felix offenzuhalten, was diesem nicht entgangen war. Das Letzte aber, was Felix jetzt brauchen konnte, war es, die Enge eines Aufzuges mit einem pfeifenden Langhaarigen zu teilen, der an einem Montagmorgen unanständig motiviert war. Wäre es so weit gekommen, hätte er den Mann töten müssen. Und zwar auf bestialische Art. Um ein Zeichen zu setzen. Felix machte mit seiner Hand eine ablehnende Geste und fügte hinzu, er werde zu Fuß gehen.

    «Okay. Wie Sie meinen», sagte der Layouter und betätigte die Türe-zu-Taste. Felix starrte missmutig auf die nun geschlossene Lifttüre. Nach einiger Zeit schlurfte er zu der Bedientafel zwischen den Aufzügen und drückte seinerseits den Nach-oben-Knopf. Wenig später bestieg er Lift Nr. 1 und fuhr hinauf in den vierten Stock – in die Redaktion.

    Die Redaktion. Die heiligen

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