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DAS THEODIZEE-PROBLEM
DAS THEODIZEE-PROBLEM
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eBook318 Seiten3 Stunden

DAS THEODIZEE-PROBLEM

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Über dieses E-Book

Es war das Jahr 2023. Ein Atomschlag hatte die Strahlenbelastung in Europa dauerhaft auf einen Wert ansteigen lassen, dem das menschliche Erbgut nichts entgegenzusetzen wusste.

Jetzt, zwei Jahrzehnte später, bleibt nur noch ein Ausweg – ein Vorhaben, das sechsundsiebzigtausend Menschen retten kann. Sechsundsiebzigtausend von achtzehn Millionen! Allerdings gibt es einen Zweifler. Und wenn dieser recht behält, wird nicht ein Einziger überleben.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum1. Nov. 2020
ISBN9783957658753
DAS THEODIZEE-PROBLEM

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    Buchvorschau

    DAS THEODIZEE-PROBLEM - Ron Müller

    3

    1

    Die Chefin des Kanzleramtes zog den Anhänger ihrer Kette aus dem Ausschnitt und küsste ihn. Ohne die Lippen vom silbernen Kreuz zu lösen, schloss sie die Augen.

    Heute wird beginnen, was du uns aufgetragen hast. Schon einmal war deine Strafe verheerend, vor viereinhalbtausend Jahren. Doch diesmal ist es kein Wasser, keine Sintflut. Zu viele von uns haben die Warnungen noch immer nicht verstanden. Und das werden sie auch nicht! Deswegen strafst du sie mit Krankheit und Tod und lässt die Gläubigen nun Archen bauen – aber nur die, die reinen Gewissens sind. Und sie werden gewaltig sein, diese Archen. Lass uns unter Beweis stellen, dass wir würdig für einen neuen Bund mit dir sind – denn Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme.

    Sie ließ das Kreuz ihrer Kette zurück in den Ausschnitt gleiten. Es hatte geklopft.

    Ein Mann in Uniform deutete einen militärischen Gruß an und wartete darauf, dass die Chefin des Kanzleramtes vom Schreibtisch aufblickte.

    »Ist alles in die Wege geleitet?«, fragte sie den Leiter des Sicherheitsdienstes und ließ ihre Unterlagen keinen Moment aus den Augen.

    »So wie Sie es wollten«, erwiderte Roth.

    Wäre er noch bei der Truppe und nicht ins Kanzleramt abkommandiert worden, hätte er seinen Antworten ein »Frau Staatssekretärin« anhängen müssen. Unter Politikern und hochrangigen Beamten jedoch war es üblich, diese Phrasen zu vermeiden.

    »Wo haben Sie sie hingelegt?« Die Staatssekretärin sah zu ihm auf.

    »In das Fach im Rednerpult.«

    »Sie wissen, dass wir damit Geschichte schreiben?«

    Er nickte, obwohl er keine Vorstellung davon hatte, was das tatsächlich hieß.

    Sie erhob sich. »Dann fehlt wohl nur noch die, die durchs Programm führt.«

    Sie strich ihr steif wirkendes Kostüm glatt, verließ das Büro und schritt auf den Saal zu, vor dem einige von Roths Männern bereitstanden.

    »Viel Glück«, kam es ihm über die Lippen.

    Nur für den Bruchteil einer Sekunde war in ihm eine Emotion hochgeschlagen, als er sich der Endgültigkeit dessen bewusst wurde, was der Staatssekretärin bevorstand.

    Kaum war die Floskel ausgesprochen, fluchte er innerlich. Seitdem er für die engste Vertraute des Kanzlers arbeitete, bestach er durch Sachlichkeit und Äußerungen, die er auf das erforderliche Mindestmaß reduzierte.

    »Glück sagen Sie? Das Glück ist mit den Dummen, Roth. Mit den Dummen! Was wir brauchen, sind Resultate. Und zwar so nötig wie nie zuvor, sonst hat das alles hier bald keinen Bestand mehr.«

    Mit einer Arroganz, die den Leutnant, der Anfang dreißig war, beeindruckte, schritt sie auf einen der drei Eingänge des Sitzungssaals zu.

    »Es beginnt, meine Herren!«, rief sie durch die Vorhalle.

    Roth wartete, bis man die schweren und an die vier Meter hohen Türen hinter ihr verschloss und die Blicke seiner Männer auf ihn gerichtet waren.

    »Verriegeln!«

    Kaum hatte er den Befehl gegeben, wurden Ketten durch die Griffe der Flügeltüren gezogen. Sekunden später rasteten Vorhängeschlösser ein und er ordnete die Räumung des Kanzleramtes an.

    2

    »Denkst du, mich interessiert, was du sagst?«, brüllte Zoe über den Flur. »DU KOTZT MICH EINFACH NUR AN!«

    Das Mädchen schmiss die Tür zu ihrem Zimmer mit aller Wucht zu und ließ einen Vater zurück, dessen Ratlosigkeit ein erschütterndes Ausmaß annahm.

    »Kannst du aufhören, deine Mutter Tag für Tag in den Himmel zu heben? Als du noch bei ihr gewohnt hast, war auch nicht alles toll. Aber so was wird von dir ja komplett verdrängt. Hör auf, ihr ständig einen Heiligenschein aufzusetzen!«

    Zornig schwollen der Pubertierenden die Adern am Hals an, während sie die Tür wieder aufriss und die Antwort durch die Wohnung schrie.

    »WER VON UNS BEIDEN HAT DENN DIE MUTTER VERLOREN?«

    Jetzt ist Schluss!, durchfuhr es Marten.

    Am liebsten hätte er ihr eine runtergehauen. Es juckte regelrecht in seinen Fingern, sobald sie mit diesem Totschlagargument kam. Doch auch wenn er ihr nun unmissverständlich klarmachte, dass er sich gleich vergessen würde, brächte sie das nicht zum Schweigen. Er würde sie damit nur weiter provozieren und immer lauter werden lassen. Er hatte sich in seiner Wut sogar schon einmal ihr damals brandneues Clearphone gegriffen, ein komplett transparentes Handy, das einen ähnlich hohen Marktanteil hatte, wie das iPhone vor dreißig Jahren. Während er das gläserne Gerät in den Händen hielt, registrierten Sensoren die Pulsfrequenz an seinen Fingerkuppen. Angesichts der Schlagzahl schaltete es in den Notfallmodus. Ein Befehl von ihm, und der Leitstelle wären sein Standort, die aktuellen Vitaldaten und alle Vorerkrankungen übermittelt worden. Wer in diesem Erregungszustand ein Handy berührte, musste sich – den Logarithmen sämtlicher Smartphoneanbieter zufolge – mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Notsituation befinden. Aber Marten war nicht in Not, als er mit Zoe damals gestritten hatte. Er war stinksauer, weil seine Tochter seit zwei Jahren jegliche Streitkultur vermissen ließ und bei diesem Thema immer nur mit Melodramatik und einer Vielzahl an übelsten Beschimpfungen unterwegs war. Das änderte sich nicht einmal, als er das Gerät mit einem kurzen Befehl für vierundzwanzig Stunden gesperrt hatte – selbst diese drastische Maßnahme ließ die Pubertierende nicht verstummen. Auch nicht als er auf achtundvierzig und dann auf zweiundsiebzig Stunden erhöhte. Zoe war bei einem Streit durch nichts zu bremsen.

    So wie heute.

    »Ich setze Mama also einen Heiligenschein auf, ja?« Sie war noch nicht fertig. »Hast du eine Vorstellung, wie es ist, wenn der Sarg deiner Mutter in die beschissen kalte Erde runtergelassen wird?«

    »Geht es auch weniger theatralisch.« Marten verdrehte die Augen. »Wie oft willst du noch damit kommen? Jedes Mal, sobald dir etwas gegen Strich geht?«

    »Hätte ich an deiner Stelle jemanden wie Mutter kennengelernt, dann hätte ich sie auf Händen getragen. DU EKELHAFT SELBSTGEFÄLLIGER ARSCH!«, brüllte Zoe. »Warum bist du denn seit ihrem Tod allein? Denk mal drüber nach, Mann. Vielleicht liegt’s ja an dir.«

    »ZOE!« Martens Blut kochte. »Warum hattest du bei deiner Mutter so ein gutes Leben? Weil ich es jahrelang finanzierte.«

    »Mit Geld kannst du mich also kaufen?«

    Halt die Klappe, sonst scheuer ich dir heute tatsächlich eine!

    »ES IST SO ZUM KOTZEN HIER!«

    Schallend flog die Tür zu, während Zoe sich innerlich schwor, nie wieder mit ihrem Vater ein Wort zu wechseln.

    SO … WAS … GIBT’S … DOCH … GAR … NICHT!

    Mit jeder Silbe schlug er wieder und wieder auf den Türrahmen ein, bis ein kleiner blutiger Abdruck zurückblieb.

    »Deine Mutter hat dich wirklich super erzogen«, fluchte Marten vor sich hin.

    »BEI MAMA HATTE ICH WENIGSTENS EIN LEBEN!«, feuerte sie durch die geschlossene Tür zurück. Ihre Stimme hatte längst den Normalbereich verlassen und überschlug sich.

    »Ach, dann leck mich doch«, resignierte Marten. »Ich bin doch hier nicht immer der Arsch!«

    Leck mich? Hab ich das tatsächlich eben zu meiner Tochter gesagt, fluchte er. Früher hatte ich mich besser im Griff. Aber da glaubte ich auch noch, dass ich das mit Zoe hinbekomme.

    Niedergeschlagen ging er in die Küche und drückte auf den Knopf des Wasserkochers.

    Es war lange her, dass eine Nachricht auf der Mailbox sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte und er mit einem Mal nicht mehr allein wohnte.

    »Du … ich«, hörte er damals die dünne Stimme von Zoes Mutter, »ich bin aus dem System gefallen.«

    Sie hatte mit der Fassung gerungen und es hatte nicht viel gefehlt, dass sie zusammengebrochen wäre.

    »Du musst das mit Zoe … du musst das übernehmen. Ich war lange genug für sie da. Die Hintergründe kann ich nicht erklären. Hol ihre Sachen ab. Die Zahlenkombination an der Wohnung ist ihr Geburtstag. Zoe ist heute und morgen bei einer Freundin. Ich lasse sie von da direkt zu dir bringen. Leb wohl!«

    Dann hörte er das Unterbrechen der Leitung und die Stimme der Mailbox fragte, ob er die Nachricht löschen wollte.

    Noch am gleichen Abend hatte er sein Schlafzimmer geräumt und so umgestaltet, dass es der damals Elfjährigen zusagen konnte.

    Das war nun zwei Jahre her und er hatte seitdem von seiner Ex-Frau nichts mehr gehört.

    Marten goss das siedende Wasser in eine Tasse. Als sich das Pulver darin gelöst hatte, zog Kaffeegeruch durch die Küche. Er hatte keine Vorstellung mehr davon, wie echter Kaffee roch. Nach der Katastrophe vor über zwei Jahrzehnten war von den früheren Agrarflächen nur ein Bruchteil übrig geblieben, den man dekontaminieren und durch Treibhäuser vor der Strahlung schützen konnte. Niemand kam in den Folgejahren auf die Idee, dort Genussmittel anzubauen – zu problematisch war es allein schon auf den begrenzten Flächen ausreichende Erträge an genverändertem Getreide, Obst und Gemüse zu erwirtschaften. Wer Kaffee oder Tabak wollte, musste auf Altbestände zurückgreifen, die vor der Katastrophe produziert worden waren – unbezahlbar für den Großteil der Bevölkerung. Alternativ gab es noch synthetisch hergestellte Substitute, wie das braune mit Koffein versetzte Pulver, dessen Geschmack und Geruch man im Labor an das Original angenähert hatte.

    Marten wartete in der Küche. Es war Viertel vor acht. In den nächsten Minuten würde Zoe durch den Flur Richtung Schule rauschen und das Frühstück ignorieren, das er für sie gemacht hatte. Es würde ihr egal sein, dass ihr Vater überhaupt keine Nerven für diese Auseinandersetzungen hatte. Eigentlich sollte er längst an einem Vortrag arbeiten. Gewöhnlich hielt er ihn vor bis zu zwanzig Personen. Am heutigen Abend würden es achthundert sein.

    »Ich hasse ihn! Ich hasse ihn wirklich!«, fluchte Zoe leise vor sich hin.

    Sie stellte auf der Armbanduhr fünfundvierzig Minuten ein und stampfte auf kürzestem Weg aus dem Haus, um dem Verursacher ihres Ärgers kein weiteres Mal unter die Augen treten zu müssen.

    Der Weg war überschaubar. Ein glücklicher Umstand, da es inzwischen nur noch eine Schule in der sechzigtausend Einwohner zählenden Stadt gab. Manche in der Klasse kamen von so weit her, dass sie jeden Morgen eine halbe Stunde Weg vor sich hatten. Eine Belastung, bei der die Partikelfilter, die den radioaktiven Feinstaub von den Lungen fernhalten sollten, an ihre Grenzen stießen. Die Filterkartuschen wurden auf eine Halbmaske geschraubt, die Nase, Kinn und Mund umschlossen. Vom Gesicht sah man damit nicht mehr als Augen und Stirn.

    Zoe war selbst das noch zu viel.

    »Am besten wäre so eine alte Maske aus den Weltkriegen«, hatte sie einmal zu ihrem Vater gesagt, als sie im Winter vor vier Jahren mitten in der Nacht zum Flughafen aufgebrochen waren und der Wagen warmlief. Kurz darauf ließ ein Gesetz nur noch Fahrzeuge mit Brennstoffzellen auf die Straße – eine Regelung, die Autos für die meisten Familien unerschwinglich machte. »Weißt du, was ich meine? So ein Gummiding, bei dem bis auf die Augen das komplette Gesicht verdeckt ist.«

    Marten hatte damals eine Vorstellung davon gehabt, was seine Tochter gemeint hatte, die mit dem Finger auf der beschlagenen Beifahrerscheibe etwas zu zeichnen versuchte.

    »Damit man nicht mehr sieht, wie alt der darunter ist«, sagte sie mit einer Mischung aus Verbitterung und Traurigkeit.

    »Ich hasse es so, in die Augen der ganzen Erwachsenen zu sehen, sobald sie mitbekommen, wie jung ich bin. Diese neidischen Blödmänner!«

    Das Bild auf der Scheibe nahm Formen an, bevor die Klimaanlage es trocknete: eine Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger, zerrissen von Kondenswasserrinnsalen.

    »Was soll ich sagen, Zoe?«, hatte Marten geantwortet. »Komme mal als Erwachsener mit der Diagnose klar, dass du nie Kinder haben wirst. Und die hat inzwischen fast jeder. Das ist schwer zu verkraften.«

    Das ist mir doch kackegal, Mann! Versuchst du überhaupt manchmal, mich zu verstehen?!, hatte sie ihn in Gedanken angefaucht.

    Sie hatte damals nicht vorgehabt, ihm zu antworten. Das Gespräch war mit dem Schwachsinn, den er von sich gegeben hatte, für sie beendet.

    Zoe war zu diesem Zeitpunkt bereits das einzige Kind in ihrer Straße. Im Sommer zuvor gab es noch ein zweites, doch das erlag Monate später einem Lungenkarzinom. Seitdem hatte es keine Lebendgeburt mehr gegeben – auf einer Strecke von zwölfhundert Metern mit über hundertsechzig Hausnummern und an die siebenhundert Menschen.

    Zoe trat vom Grundstück hinaus auf die Straße und zog die Kapuze des Capes tief ins Gesicht. Sie schluckte den Ärger des morgendlichen Streits mit ihrem Vater hinunter und spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Das passierte an jedem Tag, an dem sie zur Schule musste, denn sie wusste genau, was sie auf dem Weg dorthin erwartete.

    Die alte Frau aus dem Nachbarhaus stand hinter der Gardine und schien noch immer nicht begriffen zu haben, dass man ihr Geglotze von draußen sah – unabhängig davon, ob sie das Licht im Zimmer ein- oder ausgeschaltet hatte. Zoe riss den Arm zornig in Richtung der Alten und verzog ihr Gesicht zu einer wütenden Fratze.

    Erschrocken wich die Frau zurück.

    Zoe ging weiter, wohlwissentlich, dass gleich auf der anderen Straßenseite die Tür geöffnet würde.

    Der Typ, der das heruntergekommene Haus allein bewohnte, sollte wie immer ohne Cape, nur in dreckigen, schlabberigen Klamotten vor bis an den Zaun gehen, Zoe zulächeln, den Müll in die Tonne werfen und erst wieder hineingehen, wenn sie außer Sicht wäre. Natürlich sah sie dessen Gesicht unter der Maske nicht, aber so, wie sich die Augen verzogen, konnte es nur ein widerliches Lächeln sein, das er ihr allmorgendlich entgegenbrachte. Der Mann ekelte Zoe an.

    »Mann, verpiss dich, du pädophiles Schwein!«, schrie sie über die Straße und verscheuchte ihn, als er, wie erwartet, die Haustür öffnen wollte.

    Ohne sich noch einmal umzudrehen, zog sie das Tempo an, um ihrem Ziel näherzukommen.

    Der Rest der Anwohner war unauffällig und selten zu sehen. Es gingen ohnehin nur noch die ins Freie, die keine andere Möglichkeit hatten. Abgesehen von dem Personenkreis, bei dem es egal war, weil die tödliche Diagnose bereits feststand.

    Ihnen allen war eines gemein: die Art, Zoe anzusehen – vorwurfsvoll und anschuldigend zugleich.

    Man konnte dafür Verständnis aufbringen, sobald man eine gewisse Reife hatte. Doch für einen Teenager war es unerträglich. Blicke dieser Art erdrückten.

    Ist es zu viel verlangt, dass du etwas demütiger bist, du undankbares Miststück? Du wirst leben, obwohl du in deinem Alter noch nichts geleistet hast, schien ihr eine abgerissen wirkende Sechzigjährige entgegenzuschreien, die sich Zoe auf dem Gehweg näherte. Doch aus dem Mund der Frau war kein Ton gekommen. Nur das Fehlen ihrer Haare sprach Bände.

    Zoe war froh, dass ihr Schulweg nur dreihundert Meter betrug. Weitere solche Begegnungen verkraftete sie heute nicht.

    Nur noch die Straße runter, einmal abbiegen und …

    »Ach Kacke!«

    Als sie um die Ecke kam, stand ein Bus vor der Einfahrt.

    Der Geschichtsausflug.

    Geschichte fand Zoe grundsätzlich gut. Nur die Jungen aus ihrer Klasse nervten und machten aus jedem Ausflug eine Katastrophe.

    Bei der Klassenfahrt im Frühjahr hatten die vier Halbwüchsigen beispielsweise festgelegt, wer welches der drei Mädchen bekäme, auch wenn das völlig aussichtslos war. Es wurden sogar Wetten abgeschlossen, wer es wohl schaffen würde, seines zu küssen.

    Die Tatsache, dass es in der Klasse rein rechnerisch nicht für jeden Jungen ein Mädchen gab, sorgte dabei regelmäßig dafür, dass solche Spiele mit Ärger endeten. So hatte Zoe während der Klassenfahrt kaum eine halbe Stunde gehabt, ohne von einem der Halbstarken belagert zu werden oder eine ihrer unreifen Streitereien zu ertragen.

    Sie ahnte, dass sich der heutige Tag ähnlich entwickeln würde.

    Und tatsächlich liefen die Jungen zu Höchstform auf und belästigten sie auf der Hinfahrt – abgesehen von Liam, der seit zwei Wochen ungewohnt still war.

    Genauso genervt wie von ihrem Vater war Zoe acht Minuten später die Erste, die dem Bus und damit den unsäglichen Annäherungsversuchen der Halbgewalkten entfloh und sich lieber der Strahlung als deren billigen Sprüchen aussetzte.

    Jetzt habe ich tagsüber diese Hirnis zu ertragen und zu Hause den Arsch. Zu Hause? Das ist es ja nicht einmal. Mein Zuhause war bei Mama!

    »ZOE, WO IST DEIN CAPE?«, brüllte ihr der Lehrer hinterher.

    Zoe war zu entnervt, als dass die Ermahnung etwas bewirken konnte. Lediglich die anderen sechs gehorchten und streiften teils widerwillig transparente Wegwerfumhänge über, die den Staub von Kleidung und Haaren fernhalten sollten. Von Erwachsenen eine konsequent genutzte Schutzvorkehrung. Bei Pubertierenden in der täglichen Anwendung regelmäßig schwierig.

    »Wir finden uns im Foyer zusammen«, drang vor dem Bus eine verärgerte Stimme durch das allgemeine Gemurmel und Gelächter. Der Lehrer hatte sich für den Ausflug legerer als sonst gekleidet und wollte den Tag etwas zurückhaltender angehen – was er nun mit lautstarken Ansagen korrigierte.

    »Hört mir jetzt mal zu«, begann er gereizt, als der Letzte es endlich in den Vorraum des Landesmuseums geschafft hatte. »Meine Herren, geht es auch mal ohne Gequatsche?!«

    »Ungern«, kam es aus der zweiten Reihe.

    »Zuhören! Ich will bei einem Ausflug nie wieder jemanden ungeschützt draußen rumlaufen sehen. Und auf dem Rückweg lasst ihr das Herumgequatsche. Ihr habt am Tag nur eine dreiviertel Stunde im Freien. Da können wir nicht fünf Minuten mit dem Weg vom Bus bis hierher verplempern. Ist das bei jedem angekommen? Und falls manche unter euch schwer von Begriff sind: Ich habe noch zwei Vorträge zu vergeben. Einen über Geschlechtskrankheiten und einen über Sexualität im Alter. Der Nächste, der mir Anlass dazu gibt, bekommt einen.«

    Der Lehrer hatte tief in die Trickkiste gegriffen. Es gab keine solchen Unterrichtsthemen geschweige denn entsprechende Vorträge. Aber Drohungen dieser Größenordnung funktionierten, wenn man sie nicht zu oft einsetzte.

    »So, und jetzt für alle. Das waren insgesamt dreizehn Minuten für den Hinweg.«

    Jeder der Jugendlichen zog sein Smartphone aus der Jackentasche oder gab an der Armbanduhr den angesagten Wert ein. Zoe verblieben für den Tag noch achtundzwanzig Minuten. Liams Uhr zeigte weniger als fünf an.

    »Ich weiß, dass es manchem schwerfallen wird, aber ich erwarte während des Rundgangs ein Mindestmaß an Respekt. Das Thema haben wir lang und breit behandelt. Dennoch glaube ich, dass dieser Ausflug wichtig ist, damit ihr euch des Ausmaßes der Zerstörung durch die Anschläge von 2022/2023 bewusst werdet. Die Opferzahlen sind weit höher als die des Zweiten Weltkrieges. Und das, obwohl nur einige Hundert Leute das Ganze geplant und umgesetzt haben. Es brauchte nicht einmal eine Armee, und das bei einer Katastrophe, die selbst jetzt noch jedes Leben bestimmt. Das muss man sich vor Augen halten! Also, verhaltet euch entsprechend. Vor allem du, Florian.«

    Der Angesprochene verstummte. Er wollte keinen der beiden Vorträge bekommen. Das waren seine Kaspereien nicht wert.

    »Na dann, lasst uns in den Bereich der sogenannten Voranschläge gehen.«

    Die Klasse betrat die erste Halle und verteilte sich dort bemerkenswert ruhig. Der Raum wurde nur minimal erhellt und gab allein durch die Dunkelheit einen Teil der bedrückenden Stimmung an die Jugendlichen ab. Nur wenige Strahler lenkten den Fokus der Besucher auf die Seitenwände.

    »Wir sehen hier die erste Anschlagswelle vom Sommer 2022. Sie ist von den Dimensionen und der Art der Ausführung her mit dem Angriff auf das World Trade Center im Jahr 2001 zu vergleichen. Es waren die letzten Attentate der Terrorgruppe ATG, bei denen Flugzeuge zum Einsatz kamen. Die Organisation hatte afrikanische Wurzeln und richtete sich nicht nur gegen die gesamte westliche Welt, sondern gegen jegliche Nationen nichtafrikanischen Ursprungs.«

    Eine Hand wurde zaghaft gehoben.

    »Ja, Sveda?!«

    »Was heißt ATG?«

    »In der Originalsprache ist es ein Zungenbrecher, aber übersetzt bedeutet es afrikanische Wiedergeburt. Gibt es weitere Unklarheiten?«

    »Warum hatte die Gruppe einen so großen Hass auf alle?«

    »Gute Frage! Die Situation auf dem Kontinent war damals ähnlich katastrophal wie heute. Eine HIV-Quote von neunzig Prozent und noch andere nicht enden wollende Epidemiewellen, denen die Bevölkerung ausgeliefert war. Der Niedergang Afrikas zeichnete sich schon zu dieser Zeit ab, und die gesamte restliche Welt sah tatenlos zu. Hier seht ihr einige Dokumente aus dem Umfeld der Terroristen.«

    Der Klassenlehrer wies auf eine Vitrine mit Briefen und Bekennerschreiben, die die Schüler kaum beachteten – alle blickten auf die großflächigen Projektionen an den Wänden. Niemandem fiel dabei die veraltete Technik aus den Zweitausendzwanzigerjahren auf, bei der Monitorfolien einen Teil der Terroristenwerkstatt darstellten. Erst

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