Tod und Schatten: Der erste Fall für Quint und Leidtner
Von Ole R. Börgdahl
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Über dieses E-Book
Ole R. Börgdahl
Ole Roelof Börgdahl wurde am 23.05.1971 in Skellefteå, Schweden, geboren. Er wuchs in Skellefteå, Malmö und Lübeck auf. Das Lesen ist für Ole R. Börgdahl ein wichtiges Element des Schreibens. “Ich habe keine Lieblingsbücher, ich kann aber Bücher nennen, die mich beeindruckt haben. Hierzu gehört der Zyklus Rougon-Macquart von Émile Zola und Suite Francaise von Irène Némirovsky. Bei Zola gefällt mir die reiche Sprache, bei Suite Francaise hat mich das Schicksal von Irène Némirovsky bewegt.”
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Buchvorschau
Tod und Schatten - Ole R. Börgdahl
Das Buch
Samstagabend. Ein unbekannter Toter und eine schwerverletzte Frau in einem Reisebüro in Berlin-Friedenau. Auftragskiller oder Beziehungsdrama? Spurensicherung und Gerichtsmedizin liefern keine plausiblen Ergebnisse. Warum kann sich die einzige Zeugin an nichts erinnern? Warum verstrickt sie sich in Widersprüche?
Dem unerfahrenen Kriminalkommissar Marek Quint sitzt die Zeit im Nacken. Er braucht schnelle Ergebnisse, damit ihm der neue Mordfall nicht wieder entzogen wird. Und er muss seinen Kollegen Kriminaloberkommissar Thomas Leidtner mitreißen, der längst keine Chance mehr für ihr ungleiches Ermittlerteam sieht. Doch die beiden Kommissare finden wieder zueinander, als der Fall eine ungeahnte Wendung nimmt.
Die Marek-Quint-Trilogie:
Tod und Schatten - Erster Fall (2016) - 978-3-7380-9059-8
Blut und Scherben - Zweiter Fall (2017) - 978-3-7427-3866-0
Kowalskis Mörder - Dritter Fall (2018) - 978-3-7427-3865-3
Weitere Romane von Ole R. Börgdahl:
Fälschung (2007) - 978-3-8476-2037-2
Ströme meines Ozeans (2008) - 978-3-8476-2105-8
Zwischen meinen Inseln (2010) - 978-3-8476-2104-1
Faro (2011) - 978-3-8476-2103-4
Die Tillman-Halls-Reihe:
Alles in Blut - Halls erster Fall (2011) - 978-3-8476-3400-3
Morgentod - Halls zweiter Fall (2012) - 978-3-8476-3727-1
Pyjamamord - Halls dritter Fall (2013) - 978-3-8476-3816-2
Die Schlangentrommel - Halls vierter Fall (2014) - 978-3-8476-1371-8
Leiche an Bord - Halls fünfter Fall (2015) – 978-3-7380-4434-8
Samstag
»Hallo, bist du noch dran, Mia? Hallo?«
Es blieb einige Sekunden stumm. Marek hielt sich das Telefon dichter ans Ohr. Er hörte Schritte und dann wie eine Tasse oder ein Becher neben dem Telefon abgestellt wurden.
Mia schluckte herunter. »Entschuldige«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich habe mir meinen Kaffee aus der Küche geholt, bevor er ganz kalt wird.«
»Du trinkst jetzt noch Kaffee?«, fragte Marek und sein Ton klang beinahe vorwurfsvoll.
»Ja, das tue ich«, entgegnete sie energisch und kam gleich wieder auf das Thema zurück, über das sie noch vor zwei Minuten gesprochen hatten. »Und du weißt genau, dass die Stelle bei dir in Berlin eine höhere Eingruppierung hat?«
»Auf jeden Fall. Was hast du jetzt an der Hochschule, Entgeltgruppe 7? Die Stelle beim LKA hat die Eingruppierung 8 oder sogar 9a.«
Mia überlegte. »Die Frage ist nur, ob sie mich nehmen.«
Marek hörte, wie sie noch einen Schluck Kaffee trank. »Verwaltung ist Verwaltung«, sagte er. »Du hast natürlich einen anderen Verantwortungsbereich. Da gibt es schon Unterschiede, ob man beim Landeskriminalamt oder bei einer Schule arbeitet.«
»Mehr Verantwortung?«, wiederholte Mia.
»Nicht so wie du denkst. Die Aufgaben sind hoheitlicher. Die Arbeit ist nicht schwieriger, nur wichtiger«, versuchte Marek zu erklären.
»Ich weiß nicht, dass macht mir immer etwas Angst. Ich habe es ja eigentlich gut, da wo ich bin.«
»Wie oft hast du dich über deinen Chef beschwert«, warf Marek ein. »Und immer dieser Kleinkram. Klausurnoten in Tabellen eintragen, Formulare ausfüllen, nur damit immer genug Kreide in den Klassenzimmern bereitliegt.«
»Ich habe noch nie Kreide bestellt. Außerdem geht er doch nächstes Jahr in Rente.«
»Wer?«, fragte Marek.
»Na der Alte.«
»Siehst du, da haben wir es doch, der Alte. Und über deine Kolleginnen hast du doch auch immer so oft geflucht und außerdem ...«
»Und was außerdem?« Jetzt wurde es Mia wieder bewusst, warum Marek sie angerufen hatte.
Marek stutzte. Er überlegte, um die richtigen Worte zu finden, aber er fand sie nicht. Er räusperte sich. »Schau mal, ich bin seit einem halben Jahr wieder in Berlin. Wir hatten doch gar nicht ...«
»Doch, das hatten wir«, unterbrach Mia ihn, »und du weißt genau, dass das nicht an Berlin liegt und daran, dass ich in Münster geblieben bin.«
»So habe ich das doch nicht gemeint«, beschwichtigte Marek. »Ich dachte nur, wenn wir ... du musst schon verstehen, dass ich nicht jedes Wochenende nach Münster fahren konnte. Ich muss manchmal auch samstags und sonntags arbeiten, in Bereitschaft sein, so ist der Job eben.«
»Marek! Hallo! Versuchst du dich jetzt zu rechtfertigen? Das brauchst du nicht.« Mia machte eine Pause, holte bedächtig Luft. »Wir sind nicht mehr zusammen, hörst du. Wir waren uns doch einig. Natürlich würde mich Berlin reizen, aber du darfst doch nicht glauben, dass ich deinetwegen nach Berlin komme, wenn ich es überhaupt mache, das mit der Stelle, meine ich. Natürlich ist es schön, dass du dort bist, aber doch auf eine andere Art.«
»Entschuldige Mia, ich wollte nicht ... Ich weiß das ja auch alles. Es ist nur ... Wir hätten das damals anders machen sollen. Ich wusste doch, dass ich nur ein Jahr in Münster sein würde. Ich hätte mir dort etwas suchen müssen. Oder in München. Du weißt doch noch, dass die mich damals in München haben wollten, auch ohne Master. Und du wärst näher bei deiner Mutter gewesen.«
»Ja Marek, das weiß ich«, sagte Mia jetzt ernst, »aber auch München hätte nichts geändert. Wir hatten schöne Monate, aber jetzt ist es Vergangenheit. Es ist aus und das ist eben so, das passiert, es hat halt nicht mehr gepasst. Das hast du doch auch verstanden.«
»Aber mal ganz unabhängig davon, der Job beim LKA würde dich schon interessieren, oder was meinst du?« Marek versuchte das Gespräch jetzt wieder in eine andere Richtung zu lenken.
»Vielleicht«, antwortet Mia zögerlich. Sie holte noch einmal tief Luft. »Schau mal Marek, es ist doch schon nach neun. Wir haben Samstagabend. Ich werde gleich abgeholt. Hast du denn nichts mehr vor, heute Abend? Ich überlege es mir. Entgeltgruppe 9a sagtest du, das klingt doch nicht schlecht. Ich überlege es mir wirklich.«
»Das ist gut«, sagte Marek sofort. »So machst du es. Es ist deine Entscheidung und du hast recht, es hat nichts mit mir zu tun. Ich würde mich nur freuen, wenn du ... aber das ist jetzt ganz egal. Ich lege auf. Soll ich jetzt auflegen?«
»Ja!«
»Dann lege ich jetzt auf, Mia.«
»Ja, bitte, Marek, ich werde gleich abgeholt.«
»Dann wünsche ich dir einen schönen Abend.«
Mia seufzte. »Unternimmst du nichts mehr?«
»Doch, doch«, erwiderte Marek wenig überzeugend.
»Dann leg doch jetzt auf, bitte.«
»Mia?«
»Ja?«
»Ich lege jetzt auf.«
Marek drückte die Taste, starrte aber noch einige Sekunden auf das Smartphone. Er stellte den Fernseher wieder auf laut. Der Naturfilm über die Küsten Grönlands lag in den letzten Zügen. Er zappte in den Programmen zurück. In einer amerikanischen Krimiserie wurden die Bösen gerade von einer Meute Polizeiwagen verfolgt. Beim nächsten Klick erschien ein Stand-Up-Comedian, der das Publikum mit seinen Pointen belustigte. Auf dem Ersten schließlich lief eine der Samstag-Abend-Unterhaltungs-Shows. Das Frühlings-Sommer-Herbst-Fest der Volksmusik oder so ähnlich. Marek drückte schnell hintereinander zwei Programmtasten. Eine Casting-Show, in dem sich ein Nerd gerade vor der gestylten Jury und dem deutschen Fernsehpublikum blamierte. Es war zumindest so amüsant, dass Marek einige Minuten auf dem Kanal blieb und auch nicht umschaltete, als die Werbung begann. Ein Kaugummi, das das Zähneputzen ersetzen sollte. Marek prüfte instinktiv seinen eigenen Atem, konnte aber nichts Auffälliges feststellen. Es folgte eine Bierwerbung. Es sah einladend aus, aber Marek wusste, dass er kein Bier im Hause hatte, nicht im Keller und schon gar nicht im Kühlschrank.
Er dachte an Kaffee. Mia trank abends nur Kaffee, wenn sie glaubte, dass es eine lange Nacht werden würde. Disco, Geburtstag einer guten Freundin, Konzert oder irgendeine andere Feier. Marek starrte noch einmal auf sein Smartphone. Ein, zwei Sekunden, dann zuckte er zusammen. Es klingelte. Hatte seine Beschwörung funktioniert? War doch niemand gekommen, um Mia für den Samstagabend abzuholen? Hatte sie es sich anders überlegt? Marek zögerte, wollte den Moment, wollte die Gedanken nicht zerstören. Dann griff er zu. Der erste Blick auf die angezeigte Telefonnummer war keine wirkliche Enttäuschung. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich noch einmal zurückrufen würde, nicht am Samstagabend, nicht, wenn sie eine Verabredung hatte. Marek nahm das Gespräch an.
»Kriminalkommissar Quint«, meldete er sich vorschriftsmäßig.
*
Auf dem Weg nach Friedenau musste Kriminalkommissar Marek Quint tanken. Dann benötigte er immer noch gut eine halbe Stunde von Frohnau zum Friedrich-Wilhelm-Platz. Er fuhr zweimal an der neogotischen Kirche vorbei, bis er die richtige Straße fand. Einer der beiden Streifenwagen vor dem Gebäude hatte das Blaulicht eingeschaltet gelassen. Marek Quint parkte neben einem dunkelgrünen Mercedes Sprinter des Tatorterkennungsdienstes. Auf dem Bürgersteig stand zudem noch ein weißer Hyundai H-1 der Charité Mitte. Die Gerichtsmedizin war also auch schneller vor Ort, als der Ermittler des Berliner Landeskriminalamtes. Marek Quint stieg aus, hob das rotweiße Absperrband an und betrachtete sich die beiden Eingänge. Neben einem großen Schaufenster führte eine Glastür direkt in das Ladenlokal. Die Leuchtreklame darüber war in gelb gehalten, passend zum Namen des Geschäftes. Sonnenklar Reisen. So simpel wie vielsagend. Das Schaufenster und die Eingangstür waren aber verhangen. An einigen Stellen am Rand der dunklen Tücher bahnte sich das gleißende Licht von Halogenstrahlern den Weg auf die Straße. Mareks Schatten wurde gegen den geschlossenen Kasten des Hyundais geworfen.
Er versuchte gar nicht erst, die Ladentür zu öffnen, sondern wandte sich gleich ein paar Meter weiter dem Hauseingang zu. Das große Klingelschild verwies im ersten Stock auf eine Anwaltskanzlei. Stolle & Partner, Rechtsanwalt. Über dem Messingschild mit schwarz eingelassener Schrift, war ein weiterer, eher schmuckloser Klingelknopf montiert. Marek musste sich vorbeugen, um den Namen hinter der verkratzen Plastikabdeckung lesen zu können, aber es gab nichts zu lesen. Wenn es jemals einen Namen gegeben hatte, war dieser in dem blauen Rand der durchsichtigen Abdeckung verlaufen. Er holte sein Notizbuch hervor, um wenigstens den Namen der Kanzlei zu notieren. Er musste kurz überlegen, wie die Straße hieß, in der er sich befand. Lediglich die Hausnummer hatte er im Kopf behalten. Nach einem letzten Versuch, doch noch die ehemals blaue Schrift des schäbigen Klingelknopfes zu entziffern, drückte er die Türklinke und trat in einen langen Flur, an dessen Ende ein Streifenpolizist auf ihn aufmerksam wurde. Dann wurde unmittelbar neben dem Mann eine Tür geöffnet. Der Beamte stand kurz im hellen Licht, bis sich ein grober Schatten in den Flur schob.
»Da prescht die Einheit Kowalski wieder vor«, donnerte es leicht gedämpft durch den Hausflur.
Kriminalhauptkommissar Ulrich Roose zog sich den Mundschutz unters Kinn, ging durch den Flur und trieb Marek durch die Eingangstür zurück auf die Straße. Draußen ging Roose voran und zum Fahrzeug des Tatorterkennungsdienstes. Er öffnete die große Schiebetür und stieg in den dunkelgrünen Transporter ein. Ein paar Handgriffe und er reichte Marek einen Overall, Einmalgamaschen, Mundschutz, einen Satz Latexhandschuhe und sogar eine kleine Taschenlampe.
»Die Klamotten aber bitte erst im Haus anziehen«, wies Ulrich Roose an.
Marek nickte. »Weiß ich doch.«
Ulrich Roose schaute ihn kommentarlos an, sprang dann aus dem Transporter und ließ die Schiebetür mit einem Dröhnen ins Schloss fallen. Mit leicht gesenktem Kopf folgte Marek dem breiten Kreuz des Kriminalhauptkommissars. Im Flur hatte sich der Streifenpolizist nicht vom Fleck gerührt. Er öffnete schon einmal die Tür, die ins Reisebüro führte. Marek blieb hinter Ulrich Roose stehen, zog sich den Overall, die Gamaschen und zuletzt die Handschuhe über. Die kleine Taschenlampe und den Mundschutz hatte er auf den Boden gelegt, nahm die Sachen jetzt wieder auf und steckte sie in eine Tasche des Overalls. Ulrich Roose drehte sich um und kontrollierte an seinem Gegenüber den Sitz der Schutzkleidung. Er deutete auf den Kopf.
»Die Kapuze nicht vergessen, und wenn Sie drin sind, bitte auch den Mundschutz vor. Wo haben Sie den Mundschutz?«
Marek tippte auf die Tasche des Overalls und machte sich dann an der Kapuze zu schaffen. »Können Sie mich kurz briefen?«, bat er, während er auch den Kragen des Schutzanzuges bis ans Kinn schloss.
»Briefen?«, wiederholte Ulrich Roose.
»Ja, was erwartet mich hier?«
»Eine Leiche.«
»Das weiß ich ja bereits«, erwiderte Marek. »Was weiß ich noch nicht?«
Ulrich Roose zupfte an seinem Mundschutz, der noch über seinem Kinn hing. »Die Kollegen waren gegen 21:00 Uhr vor Ort. Ein Passant hatte Licht im Schaufenster des Reisebüros gesehen. Lichtkegel wie von Taschenlampen. Der Spaziergänger hat an einen Einbruch gedacht und die Polizei gerufen.«
»Wurden die Täter noch angetroffen?«
»Nein, niemand. Die Streife wollte auch schon wieder abziehen, weil in dem Reisebüro keinerlei Aktivitäten mehr zu sehen waren und nichts auf einen Einbruch hindeutete. Unser aufmerksamer Bürger hat aber darauf bestanden, dass er etwas gesehen habe. Die Kollegen sind dem dann doch nachgegangen. Die Eingangstür in den Hausflur war nicht verschlossen, genauso wie die Tür hier. Das war ja schon einmal verdächtig, haben sich die Kollegen gedacht. Womit sie nicht gerechnet haben, war der Leichenfund.«
»Wann waren Sie und Ihre Leute vor Ort?«
Ulrich Roose überlegte. »Gegen 21:30 Uhr. Meine Leute haben das aber genau protokolliert. Auf dem Weg hierher habe ich selbst noch einmal versucht Sie zu erreichen, nachdem mir die Zentrale gesagt hat, dass beim KK Marek Quint von der Einheit Kowalski das Telefon ständig besetzt ist.«
Marek zuckte halbherzig mit den Schultern. »Jetzt bin ich ja da. Was haben Sie sonst noch an Fakten? Wissen Sie schon etwas über die Leiche?«
Ulrich Roose nickte. »Männlich, Schussverletzungen, soweit ich gesehen habe. Identität unbekannt.«
»Keine Papiere?«, fragte Marek.
»Wir haben zumindest noch keine gefunden.«
»Wem gehört der Laden, kann es der Besitzer sein oder ein Angestellter?«
»Tja, das dürfen Sie mich nicht fragen, Herr Kriminalkommissar. Das ist ja wohl Ihr Fachgebiet. Ich liefere nur die Spuren ab.«
Marek nickte. »Konnte denn der Zeuge den Toten nicht identifizieren?«
»Der hat ihn gar nicht zu Gesicht bekommen. Die Streife hat hier gleich alles abgesperrt. Die haben nur die Personalien des Mannes aufgenommen und ihn gehen lassen.«
»Verstehe.« Marek holte sein Notizbuch hervor, klappte es auf und dann gleich wieder zu. »Adresse und Name des Zeugen wurden also protokolliert. Dann zeigen Sie mir mal Ihre Leiche.«
»Mit größtem Vergnügen, Herr Kollege«, sagte Ulrich Roose und lächelte. »Hier entlang.«
Ulrich Roose trat zur Seite und gab den Blick auf den Raum frei, ließ Marek durch den Lichtspot hindurch den Tatort betreten. Die Einrichtung des Reisebüros bestand aus zwei Schreibtischen mit je einem großformatigen Monitor und ergonomisch geformten Bürostühlen davor. Hinter den Schreibtischen befand sich ein großes Regal, in dem griffbereit diverse Reiseprospekte lagen. Jeweils zwei Besucherstühle vor den beiden Schreibtischen schlossen das Ensemble ab. Marek schaute einmal in die Runde. Die freien Wände waren mit Plakaten verziert. Palmenstrände, ein Bergpanorama und der Blick auf das Heck eines Kreuzfahrtschiffes, das in den Horizont und in eine untergehende Sonne hineinfuhr. Vor dem großen Schaufenster, das jetzt mit dunkelgrauen Tüchern verhangen war, standen weitere Besucherstühle um einen kleinen Tisch gruppiert, der ebenfalls reichlich mit Prospekten ausgestattet war. Die Kollegen des Tatorterkennungsdienstes waren bereits bei der Arbeit. Zwei weiße Schutzanzüge hatten sich über den Raum verteilt, eine weitere Person hockte am Boden.
»Und da ist sie schon, unsere Leiche«, verkündete Ulrich Roose, nachdem er Mareks Blicke durch den Raum geduldig gefolgt war.
Der am Boden hockende Schutzanzug drehte sich in die Richtung, aus der gesprochen wurde. Hinter dem Mundschutz und der Kapuze konnte Marek nur ein Paar braune Augen erkennen, was ihn an seinen eigenen Mundschutz erinnerte. Er holte ihn aus der Tasche des Overalls und setzte ihn über Nase und Mund. Dann heftete sich sein Blick auf den Körper, der vor ihm auf dem Boden lag. Das Hemd der Leiche war aufgeknöpft, das Unterhemd nach oben geschoben. Vereinzelte Blutflecke waren auf dem weißen Stoff zu sehen. Auf der linken Brustseite war eine scharfkantige kreisrunde Wunde zu erkennen. Als Marek sich leicht nach unten bückte, sah er in Höhe der Achsel eine weitere Schussverletzung. An dieser Stelle war das zurückgezogene Oberhemd blutdurchtränkt. Marek richtete sich wieder auf, machte vorsichtig einen Schritt zur Seite und stellte sich an das Kopfende der Leiche. Die Hose des Mannes saß locker über der Hüfte, die Gürtelschnalle war geöffnet.
»Sie brauchen hier nicht wie auf Eiern zu laufen«, dröhnte Ulrich Roose. »Mit diesem Bereich sind wir schon fertig, sonst hätten wir die Frau Doktor noch nicht rangelassen.«
Marek blickte auf und sah sich um. Hinter ihm stand Ulrich Roose und neben ihm die jetzt sehr zierlich wirkende Person im Schutzanzug, die eben noch vor der Leiche gehockt hatte. Marek blickte noch einmal in die braunen Augen, die plötzlich ganz anders auf ihn wirkten. Sie nickte und deutete zur Tür. Sie gingen die wenigen Schritte, gefolgt von Ulrich Roose, der sie wieder mit seinem riesigen Körper abschirmte.
»Sander«, stellte sich die Ärztin vor, streifte ihre Latexhandschuhe ab, zog gleichzeitig ihren Mundschutz herunter und reichte Marek die Hand.
»Quint, LKA Berlin! Was haben Sie für mich?«, erwiderte Marek etwas steif und versuchte seine Überraschung einigermaßen zu verbergen.
Die Ärztin zögerte ein, zwei Sekunden, bis Marek begriff und ebenfalls seinen Mundschutz herunternahm. Sie nickte und ein kurzes Lächeln zog über ihren Mund. Ihr Gesicht war weiterhin von der Kapuze des Schutzanzuges umrahmt, so dass Marek ihre braunen Augen fixierte, als sie zu sprechen begann.
»Männliche Leiche, zwei Schussverletzungen im Torso, eine davon mit vermutlich unmittelbarer Todesfolge. Gemäß Rektaltemperatur und unter Berücksichtigung der Raumtemperatur am Leichenfundort, kann der Todeszeitpunkt derzeit auf 18:00 bis 20:00 Uhr eingrenzt werden. Nach einer ersten Leichenschau lassen sich vorläufig keine weiteren Verletzungen ausmachen.«
Schweigen. Marek nickte, er überlegte. »Wie alt schätzen Sie den Toten?« Es war die einzige Frage, die ihm einfiel. Die braunen Augen fixierten ihn, als wenn er einen Fehler gemacht hätte.
»Herr Kollege, die Frau Doktor Sander hatte gerade einmal zwanzig Minuten«, rief Ulrich Roose. »Sie müssen schon die Obduktion abwarten. Jedenfalls ist es kein natürlicher Todesfall, dass sollte Ihnen vorerst genügen.«
Dr. Kerstin Sander wandte ihren Blick von Marek ab und sah Ulrich Roose lächelnd an. »Da haben Sie recht, vor der Obduktion gebe ich immer nur ungern Prognosen ab.« Dann sah sie wieder zu Marek. »Er wird keine zwanzig mehr gewesen sein und auch noch nicht über fünfzig. Mehr kann ich leider nicht sagen.«
»Dann haben wir das ja geklärt«, ging Ulrich Roose erneut dazwischen. »Wir würden jetzt ganz gerne die Leiche loswerden, Frau Doktor Sander. Meine Leute haben noch einiges zu tun.«
Kerstin Sander nickte. »Ich warte nur noch auf den Transport zur Charité.« Sie sah noch einmal zu Marek und ging dann zurück zu dem Toten.
»Wo ist denn eigentlich ihr Kollege«, wandte sich Ulrich Roose wieder an Marek. »Kowalski hatte doch noch einen Ermittler in seiner Operativen Einheit.«
»Der kommt noch«, antwortete Marek. »Inzwischen müssen Sie mit mir vorliebnehmen.«
»Das mache ich ja schon die ganze Zeit«, lachte Ulrich Roose. »Aber hier sollten Sie sich bitte in der nächsten halben Stunde nicht herumtreiben. Wir müssen noch ein bisschen Gas geben.«
»Was ist mit dem Gebäude?«, fragte Marek. »Sind noch Personen im Haus? Was ist mit der Anwaltskanzlei und ganz oben gibt es doch eine Wohnung?«
»Niemand da, aber Sie können das gerne noch einmal überprüfen«, erklärte Ulrich Roose.
»Und was ist mit dem oder den Tätern, wie können die entkommen sein?«
»Durch den Flur.« Ulrich Roose zeigte auf die Tür. »Die sind aber vermutlich nicht vorne, sondern hinten raus. Da ist ein gepflasterter Hof, von dem aus man in eine der Seitenstraßen gelangt. Den Hof haben wir schon abgesucht, allerdings ohne Spurenbefund. Das Umfeld nehmen wir uns vor, wenn wir hier fertig sind.« Ulrich Roose überlegte. »Ach ja, hätte ich fast vergessen. In der Tür zum Hof steckte von innen ein Schlüssel, der auch zu den beiden Türen passt, durch die man ins Reisebüro kommt. Vielleicht hat den jemand stecken lassen.«
»Sehr unvorsichtig«, folgerte Marek. »Und was ist mit den oberen Stockwerken? Da haben Sie noch nichts gemacht?«
»Ich habe eine Begehung im Treppenhaus gemacht«, erklärte Ulrich Roose. »Es gibt aber keinen Hinweis, dass sich der Tatort auf den ersten und zweiten Stock des Gebäudes ausdehnt.«
»Ich kann aber doch noch einmal nachsehen?«, fragte Marek zögerlich.
»Sie dürfen natürlich alles, nur im Moment nicht hier im Wege stehen«, antwortete Ulrich Roose lachend. »Falls wiedererwarten da oben doch jemand ist, erschrecken sie niemanden mit ihrem Aufzug. Eine Leiche reicht uns für heute.«
Marek nickte. Er drehte sich um und ging durch die Tür zurück in den Flur. Der Beamte, der dort immer noch wartete, trat bei Seite, als Marek den Weg Richtung Hinterhof einschlug. Als Marek durch die Hintertür trat, schaltete der Polizist sogar das Licht ein, das auch draußen brannte. Der Hof war mit Waschbetonplatten gepflastert. Direkt dahinter gab es einen Querweg, der parallel zur Häuserzeile der Straße verlief. Links und rechts vom Hof waren die Grundstücke durch mannshohe Mauern abgetrennt. Marek ging bis zum Querweg und schaute sich zu beiden Seiten um. An einem Ende zog ein Paar Scheinwerfer durch die angrenzende Seitenstraße, gefolgt von einem dunklen Kombi, der vorbeifuhr. Am anderen Ende des Querwegs blieb es dunkel.
Er ging zurück ins Gebäude. Er fand links vom Flur abgehend das Treppenhaus. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Die Treppenstufen knarrten, es war ein steiler Aufstieg, wie in einem alten Haus nicht anders zu erwarten. Der Flur im ersten Stock war großzügig, die Wände weiß gestrichen. Auch hier verkündete ein Messingschild mit eingelassener schwarzer Schrift die Sozietät Stolle & Partner. Daneben die Eingangstür. Ein Türblatt aus Mahagoni mit Messingbeschlägen. In der Mitte eine große Aussparung, eine getönte Glasscheibe, durch die der Blick auf