Kommet, ihr Hirten
Von Ingo T. Herzig
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Kommet, ihr Hirten - Ingo T. Herzig
Kapitel 1
Ingo T. Herzig
kommet, ihr Hirten
Die Luft war klar und frostig. Die untergehende Sonne färbte den nahezu wolkenlosen Himmel wohltuend rot. Sidonius befand sich gerade auf einer längeren Geschäftsreise, die ihn zuletzt nach Dänemark und nun nach Dresden geführt hatte. Nach den Wochen der Abwesenheit freute er sich schon auf ruhigere Tage zu Hause in Berlin. Er nutzte die freien Stunden zu einem Besuch auf dem Striezelmarkt und schaute sich nach passenden Weihnachtsgeschenken für seine Familie um. Zuvor hielt er nach einem Wirtshaus Ausschau, da er ein starkes Verlangen nach einem Glühwein verspürte. Er hatte schon lange keinen mehr getrunken und sehnte sich richtig danach.
So erging es offenbar auch vielen anderen Leuten. Die umliegenden Wirtshäuser waren alle sehr gut besucht, und als er einsehen musste, dass kaum Aussicht bestand, einen Tisch für sich allein zu finden, strebte er schließlich einem Tisch zu, an dem bereits ein junger Mann saß, der nur wenig jünger zu sein schien als er selbst. Er begrüßte ihn freundlich, bat um Erlaubnis, sich dazusetzen zu dürfen. Der Angesprochene zeigte sich damit einverstanden und bot ihm den Stuhl neben dem seinen an.
„Es ist schön, wieder mal in Dresden zu sein", sagte Sidonius und nippte genüsslich an seinem heißen Glühwein.
„Sie sind nicht von hier?", fragte der andere, der offenbar einer Konversation nicht abgeneigt war.
„Ich wohne und arbeite in Berlin, erwiderte er, „aber ich stamme aus Aussig.
„Meine Frau hat dort Verwandte."
„Ach, das ist ja interessant. Woher kommt sie denn?"
„Sie ist aus Prag. – Da kommt sie gerade."
Eine junge Frau mit zwei Kindern, die etwa zehn bis zwölf Jahre alt sein mochten, hatte soeben das Lokal betreten. Sie war recht klein von Gestalt. Sie hatte den Schal übers Gesicht gezogen, so dass Sidonius ihr Gesicht nicht sehen konnte. Als sie sich zu ihnen gesellte, entblößte sie ihr Gesicht.
„Hallo, Ricarda, begrüßte sie ihr Mann liebevoll, erhob sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Darf ich dir Herrn … äh …
Auch Sidonius erhob sich. „Meyer, Sidonius Meyer."
„… Herrn Meyer vorstellen?"
„Sidonius Meyer aus Aussig?", schoss es aus Ricarda heraus. Ihre grünen Augen weiteten sich.
„Ricarda Menzel aus Prag?", schoss es aus Sidonius heraus.
„Ja!"
„Wie, ihr kennt euch?, wunderte sich Ricardas Ehemann. „Woher denn?
„Aus Aussig, antwortete Sidonius. „Ricarda ist die Cousine eines Jugendfreundes von mir und war öfters bei uns in Aussig.
„Ja, sie hat viel davon erzählt, sagte Ricardas Gatte, den sie als Stanislaw vorstellte und der vom Ursprung her ein Sorbe aus der Oberlausitz war. Ricarda nannte ihn nach tschechischer Manier Standa oder mit dem Vokativ „Stando
.
„Wie lange ist es eigentlich her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben?", fragte Ricarda ihre Kindheitsbekanntschaft.
„Vierzehn Jahre – und du hast dich kein bisschen verändert. Du bist noch genauso hübsch wie eh und je."
„Oh, danke!", erwiderte sie errötend und deutete einen Knicks an.
„Wie geht es Daniel, Ricki?"
Die Angesprochene lächelte ob dieser Kurzform, mit der sie damals stets angeredet worden war, und antwortete: „Der hat eine traumhafte Karriere als Opernsänger gemacht. Zuerst war er ja hier an der Semperoper; aber nach dem großen Brand vor sechzehn Jahren hat er schließlich ein Engagement am Hoftheater in Wien bekommen und wirkt dort bis heute. Großartige Karriere! – Darf ich dir unsere Kinder vorstellen? Sidonie und Pavel."
Sidonius reichte ihnen die Hand. Der Junge machte