Tödliches Spiel: McKenzies zweiter Fall
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Über dieses E-Book
Charlotte McKenzie, Polizeiinspektorin von Gairloch, die sich nach ihrem ersten gelösten Mordfall von der anstrengenden Arbeit auf der malerischen Hebrideninsel Skye erholen will, wird stattdessen unversehens in einen mysteriösen Todesfall verwickelt.
Sie, die sich nur für schnulzige Romane und kurze Spaziergänge am Strand interessiert, muss sich plötzlich mit Rugbyspielregeln und Wettintrigen herumschlagen. Wer hat den beliebten Jungstar der schottischen Nationalmannschaft auf dem Gewissen? Ein Konkurrent im Team? Seine Familie? Oder hatte doch ein undurchsichtiges WM-Wettsyndikat seine Hand im Spiel?
Zum Glück steht ihr ihr bewährtes Team zur Seite: Sergeant Gilchrist und Constable Purdy, ganz zu schweigen von Scott McTavish, einem Taucher aus Gairloch, der ihr (mehr als nur) freundschaftlich verbunden ist.
Simone Häberli Mlinar
Simone Häberli Mlinar, geboren 1965 in Grenchen, studierte Slavistik, Anglistik und Neuere Geschichte in Bern. Seit ihrer Jugend liebt sie Schottland, seine grandiose Landschaft und faszinierende Geschichte. Hobbymässig lernt sie Gälisch. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in der Nähe von Bern.
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Buchvorschau
Tödliches Spiel - Simone Häberli Mlinar
Tödliches Spiel
Impressum
Flower of Scotland
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Nachwort der Autorin
Tödliches SpielMcKenzies zweiter Fall
Simone Häberli Mlinar
Impressum
Texte: © Copyright by Simone Häberli Mlinar
Coverbild: © Copyright by Simone Häberli Mlinar
Lektorat: www.asada.ch
Verlag: epubli.de
Flower of Scotland
O Blüte Schottlands,
Wann treffen wir
Auf euresgleich,
Gekämpft und gestorben
Fürs eigne bisschen Land,
Die ihr getrotzt habt
Stolz Edwards Streitmacht
Und ihn nach Haus gejagt,
Dass er's bereut.
Nun ist's Geschichte,
Soll einzig noch Legende sein,
Doch können wir aufsteh'n,
Zu sein die starke Nation,
Die einst getrotzt hat
Stolz Edwards Streitmacht
Und ihn nach Haus gejagt,
Dass er's bereut.
* Flower of Scotland, ursprünglich von «The Corries» (1967), heute inoffizielle SchottischeNationalhymne bei Fussball- und Rugby-Spielen. Die deutsche Übersetzung stammt aus der Feder der Autorin.
Prolog
März 2019, London
Die Nationalhymnen waren verklungen, der Anpfiff erfolgt. Das Spiel geriet für die Schotten zum absoluten Desaster.
Kaum eine Minute nach Spielbeginn war es dem rechten englischen Aussendreiviertel gelungen, die gesamte Verteidigung der Gäste auszuhebeln und den Ball ins gegnerische Malfeld abzulegen. Der erste Versuch, beim allerersten Angriff. Über das Gesicht des Mannes im weissen Dress zog ein breites Grinsen, das sich tausendfach widerspiegelte in den rotbemalten Antlitzen auf den Rängen. Einen solch schnellen Erfolg hatten nicht einmal die grössten Optimisten zu erhoffen gewagt, nach der letztjährigen Niederlage im Norden.
Das Twickenham-Stadion in London war bis unters Dach vollgepackt, die Stimmung ausgelassen, die Fangesänge erfüllten die Luft. Die schottischen Zuschauer, viele mit blauweiss angemalten Gesichtern und im Kilt, waren durchaus guter Laune und zuversichtlich angereist. Nun hatten sie gerade eine eiskalte Dusche erwischt. Sie starrten ungläubig auf das Feld und sahen zu, wie der englische Kicker den Ball auf das T setzte. Die Distanz zum Tor war machbar.
Respektvolle Stille senkte sich über das riesige Stadion. Der Kicker pendelte mit den Armen hin und her, mass die Distanz mit den Augen und liess sich viel Zeit. Konzentriert ignorierte er die einzelnen Pfiffe, die ob seines Zögerns von den Rängen ertönten. Er kniff die Augen zusammen, holte mit dem rechten Fuss aus und versenkte den Ball kaltblütig zwischen den hoch aufragenden Pfosten. Damit stand es sieben zu null für die englische Nationalmannschaft. Jubel bei den Einheimischen, leeres Schlucken bei den sichtlich schockierten schottischen Fans.
Das Spiel nahm seinen Lauf. Auf schottischer Seite demonstrierte man Entschlossenheit und Zuversicht. Es würde ein bisschen schwieriger werden als gedacht, hier in London, aber man hatte ja erst gerade begonnen. Nur Mut! Schliesslich war es nicht das erste Mal in ihrer Geschichte, dass die Mannschaft einem Rückstand hinterherrannte.
Scott McTavish quetschte sich zwischen den Sitzreihen durch und kehrte mit zwei Flaschen Bier zu seiner Begleitung zurück. Die hübsche junge Frau mit den Andreas-Kreuzen auf beiden Wangen, das dunkle Haar im Nacken zusammengebunden, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, als er sich auf den Sitz neben ihr plumpsen liess.
„Du hast die Nationalhymnen verpasst."
„Ich habe vor dem Tresen mitgesungen. Er grinste breit. „Da waren drei Engländer vor mir, die fanden das gar nicht witzig und haben sich fast an ihrem Bier verschluckt.
Er reichte ihr eine Flasche und warf einen kurzen Blick auf die Tafel. Die blauen Augen weiteten sich ungläubig. Die Frau, die das Mienenspiel verfolgt hatte, lachte laut auf. „Warum hast du dich nicht beeilt! Wo warst du denn so lange?"
McTavish knirschte mit den Zähnen. „Ich musste Schlange stehen. Sieht so aus, als hätte ich mehr als nur die Hymnen verpasst. Was ist denn hier passiert? Sind unsere Jungs noch nicht aufgewärmt?"
Die Frau blickte leicht zweifelnd aufs Spielfeld, wo sich gerade ein Gedränge gebildet hatte. „Sie haben noch fast achtzig Minuten Zeit. Das werden sie schon schaffen."
McTavish nickte halbwegs zustimmend und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. In seinem blonden Bart blieb Bierschaum hängen, den er achtlos mit dem Handrücken wegwischte.
Das Spiel ging weiter. Wenn er gehofft hatte, die Schotten würden eine rasche Reaktion zeigen und den Ausgleich erzielen, hatte er sich schwer getäuscht. Nach kaum ein paar weiteren Minuten sicherten sich die Engländer in einer Gasse den tieffliegenden Ball, und der folgende entschlossene Teamangriff brachte ihn die wenigen Meter über die Mallinie.
„Was zum Teufel…!, fluchte McTavish vor sich hin. Sein vorhin noch offen zur Schau gestellter Optimismus hatte eine empfindliche Delle erlitten. „Wir haben sicher nicht den ganzen weiten Weg im Nachtzug von Inverness hierher genommen, um zuzuschauen, wie unsere Jungs schmählich untergehen! Das kann doch einfach nicht wahr sein.
Seine Freundin schien die Sache nicht so tragisch zu sehen. Sie war zum ersten Mal im Stadion, und der Kampf auf dem Feld begann sie langsam zu faszinieren. Das Spiel hatte etwas Archaisches an sich. Rohe Kraft, Taktik und Tempo mischten sich mit einer Fairness der Spieler, die sie sonst bei Mannschaftssportarten vermisste. Wie lautete das allbekannte Bonmot, das Scott zitiert hatte? Rugby ist ein Spiel für Hooligans, gespielt von Gentlemen. Als Grundwerte des Spiels, so hatte er sie belehrt, galten Integrität, Leidenschaft, Solidarität, Disziplin und Respekt, so wie sie in der Charta des Welt-Rugby-Verbands von 2009 definiert waren. Nun, er musste es ja wissen. Er hatte das Spiel in seiner Collegezeit selbst gespielt.
Die Finessen der einzelnen Spielzüge entgingen ihr noch. Warum waren die Spielregeln auch so schwer zu verstehen? Jetzt hatte der Schiedsrichter das Spiel schon wieder unterbrochen. Sie blickte Scott von der Seite her an, getraute sich aber nicht, ihn nach einer Erklärung zu fragen. Seiner finsteren Miene nach lief es für seine Mannschaft gerade nicht so gut.
Sie blickte zurück auf das Feld, wo sich wieder ein Gedränge gebildet hatte. Acht Kerle auf jeder Seite griffen sich an den Schultern, senkten die Köpfe und begannen eng aneinandergedrückt gegeneinander zu schieben. Ob sich da nicht der eine oder andere eine arge Beule holte? Sie fand, dass es ein paar stattliche Burschen unter den Spielern hatte. Die brachten zusammen ein beachtliches Kampfgewicht auf die Waage - viele waren mehr als einen Meter neunzig gross und wogen an die hundert Kilo oder sogar darüber. Diesen Eindruck vom Spiel, oder vielmehr von den Spielern, würde sie Scott vielleicht lieber nicht direkt auf die Nase binden.
Ihr Lächeln fror ein, je länger das Spiel andauerte. Die Sache war sehr einseitig. Während den Weissen jeder Spielzug nach Wunsch gelang, sie fantastischen Angriff um fantastischen Angriff starteten und durch die Reihen der Gegner brachen wie durch Butter, hielten die Blauen kaum mehr den anfänglichen Widerstand aufrecht. Nach einer halben Stunde hatten sich die Engländer den Bonuspunkt gesichert, und das Spiel stand einunddreissig zu null. Zu null! Die schottische Mannschaft ging sang- und klanglos unter wie die Titanic.
Die Stimmung bei den angereisten Fans war so düster geworden wie der Nachthimmel. Die anfänglich nur leise geknurrte Kritik an der Spielweise des eigenen Teams und an den taktischen Vorgaben des Trainers wurde lauter. Inzwischen wusste jeder genau, was die Jungs auf dem Feld besser machen müssten.
Die englischen Kreuzritter mit den rotgefärbten Gesichtern auf den Zuschauertribünen schickten jede Menge höhnischer Kommentare und Seitenhiebe in Richtung ihrer blaugefärbten nördlichen Nachbarn. Wo war denn die stolze Blüte Schottlands?
McTavishs Gesicht hatte sich vollends verfinstert. Er schien die kolossale Blamage persönlich zu nehmen. Immerhin hatten die Tickets für dieses Match über hundert Pfund gekostet, und die Zugfahrt im Erstklassabteil samt Übernachtung in London nach dem Spiel war auch nicht ganz billig gewesen. Er hatte sich seinen ersten Wochenend-Ausflug mit Moira anders vorgestellt. Verwöhnen hatte er sie wollen, ihr London zeigen und sie einführen in die spezielle Faszination dieses einzigartigen Spiels. Und jetzt liess ihn seine Mannschaft so fürchterlich im Stich?
Moira Watson zupfte ihn am Ärmel. „Ist doch nicht so schlimm, Scott. Das ist doch nur ein Spiel. Lass uns einfach unseren Aufenthalt hier geniessen."
Scott verschluckte sich beinahe. Sein Husten dauerte aber nur genau so kurz wie das Passspiel zwischen den Blauen unten auf dem Feld.
„Das ist keineswegs nur ein Spiel, Moira, brachte er nach ein paar Sekunden heiser hervor. „Das ist der Calcutta-Cup!
Wie erklärt man diesen elementaren Unterschied einem Neuling? Er hustete noch einmal und unternahm einen neuen Anlauf: „Dies ist das älteste Rugbytreffen überhaupt, fast einhundertfünfzig Jahre alt, und für uns das wichtigste. Es ist unseren Jungs in dieser Zeit erst viermal gelungen, hier in London zu gewinnen, und dabei haben wir heute eine echte Chance, den Engländern in ihrem eigenen Stadion den Pokal wegzuschnappen und ihn wieder mit nach Hause zu nehmen! Er machte eine ungeduldige Bewegung zum Spielfeld hin. „Ausserdem sind das da unten unsere Erzrivalen. Gegen die müssen wir einfach gewinnen, oder wenigstens kämpfen bis zum Umfallen. Und jetzt schau dir diese Katastrophe an!
Er hatte die Worte noch nicht zu Ende gesprochen, als der schottische Verbindungshalb, der sich bisher hauptsächlich durch Fehlwürfe ausgezeichnet hatte, von einem missglückten Pass der Weissen mitten im Niemandsland profitierte und in einem für alle unerwarteten Energieanfall losstürmte. Verfolgt von vier englischen Verteidigern sprintete er über die ganze Länge des Spielfelds. Vollkommen ausgepumpt, gelang es ihm mit letztem Einsatz, den Ball hinter die Linie ins Malfeld der Gegner abzulegen. Die schottischen Zuschauer auf den Rängen applaudierten erfreut. Damit hatte man nun wirklich nicht rechnen dürfen. Aber einem geschenkten Gaul schaute man nicht ins Maul, stattdessen warf man sich Blicke voll aufkeimender Hoffnung zu. Endlich ein geglückter Spielzug, der erste für die schottische Mannschaft in diesem Kampf.
McTavish war ebenfalls von seinem Sitz aufgesprungen, sein Gesicht strahlte. „Na, wer sagt's denn? Das ist Robert McIntyre! Ich war immer sicher, dass der Mann Talent in sich hat. Absolut fabelhaft! Nur weiter so, jetzt packen wir sie!"
Moira wollte etwas bemerken, aber ihre Worte gingen im fortwährenden fröhlichen Jubel der Schotten unter, die durch den unerwarteten Versuch Auftrieb erhalten hatten. Offensichtlich spielte es für echte Fans des Spiels keine Rolle, dass man immer noch hoffnungslos hinten lag. Wichtig war nur, dass der Spielstand auf der Tafel nicht mehr bei null stand.
Einen Augenblick später pfiff der Schiedsrichter die erste Halbzeit ab, und die Leute erhoben sich zufrieden von ihren Sitzen, um das verdiente Pausenbier zu organisieren. Das Spiel war nach menschlichem Ermessen entschieden. Die einheimischen Fans waren gut gelaunt und gewillt, die Gäste höflich zu foppen. Die zweite Halbzeit würde für die Platzherren entspannt werden.
McTavish erhob sich, um für sich und Moira etwas zu essen zu holen. Wenn man schon verlor, dann wenigstens mit Stil und sicher nicht hungrig. Ob Moira wohl bereute, dass sie zum Spiel mitgekommen war? Sie hatte ihm auf der langen Fahrt im Caledonian Sleeper gestanden, dass sie noch nie ein Rugbymatch angeschaut hätte und dass die Regeln ihr absolut unverständlich waren. Nun, wenigstens in dieser Hinsicht hatte er ihr ein bisschen imponieren können. Er hatte selbst als Flügelstürmer gespielt und konnte jetzt mit seinem Wissen glänzen. Er hatte überzeugend darlegen können, warum der Schiedsrichter das Spiel zuweilen unterbrach und es anschliessend zu einem Gedränge kam. Trotzdem, dachte er, hätten sich die Jungs ein bisschen mehr anstrengen können. Das Zu-schauen hatte ihn richtig geschmerzt.
Gedankenverloren bezahlte McTavish die Pizza beim Imbissstand draussen und kehrte ins Stadion an seinen Platz zurück, gerade rechtzeitig, um den Anpfiff zur zweiten Halbzeit mitzuerleben. Das Spiel ging weiter.
In die träge Zufriedenheit der englischen Fans auf den Rängen, die sich auf eine vorentschiedene zweite Halbzeit gefreut hatten, schlich sich ein langsam anschwellendes Raunen. Verwunderung zeigte sich auf der einen oder anderen Stirn. Was ging da unten auf dem Feld bloss vor?
Was immer der schottische Trainer in der Kabine vor dem Seitenwechsel seinen Spielern eingebläut hatte, sie waren nicht wiederzuerkennen. Als hätten sie in der Pause einen Zaubertrank getrunken, sprühten sie nun vor Kampfgeist. Körper prallten auf Körper, ein gelungenes Tackling nach dem anderen riss die gegnerischen Spieler von den Füssen, der Ball flog endlich präzise von Hand zu Hand. Das Spiel verlagerte sich plötzlich in den englischen Abwehrraum. Mit hartnäckiger Arbeit und sturer Willenskraft kamen die Schotten immer näher an das englische Malfeld heran. Sieben Minuten nach Wiederanpfiff angelte sich McIntyre an der linken Seitenlinie erneut den Ball, sprintete los und legte seinen zweiten Versuch in Folge.
Die rotgefärbten Gesichter blickten verdutzt auf das Spielfeld, während auf den blauweissen begeisterte Hoffnung aufkeimte. Die Fans klatschten sich gegenseitig ab, und ein Chor aus tausend Kehlen fiel mit der ,Blüte Schottlandsʼ ein: „Wann treffen wir auf euresgleich… Das Lied schwappte in einer von Fanchören angestimmten gewaltigen Welle rund um das ganze Stadion, und Moira sang den Refrain begeistert mit: „…die ihn nach Haus gejagt, dass er's bereut.
Der eine oder andere Dudelsack hatte es auch ins Publikum geschafft und trug die Melodie mit. Moira atmete tief ein. Sie war keine Nationalistin, doch sie liebte das Lied, das ursprünglich ein Folksong gewesen war. Einige ihrer Landsleute lehnten den Text als anti-englisch ab, aber Moira fand, dass er das Wesen ihres Heimatlands ziemlich gut erfasste, ohne dass sie deswegen ihre Nachbarn als Feinde betrachten musste. Und die Atmosphäre im Stadion hatte sie gepackt, sie war ein Teil dieser Fangemeinschaft, die überschäumende Freude um sie herum ergriff auch sie. Was war schon unmöglich bei diesen Kerlen, wenn sie sich auf ihre Stärken besannen?
Auf englischer Seite überwog noch nachsichtiger Spott. Schliesslich war es bisher keiner Mannschaft im internationalen Rugby gelungen, von einem solchen Rückstand zurück ins Spiel zu kommen, kein Grund also, sich grössere Sorgen zu machen.
Aber die Schleusen waren geöffnet. Völlig entfesselt legten die Schotten sämtliche Hemmungen ab, griffen die Gegner von hinten an und legten in der nächsten halben Stunde vier weitere Versuche zur magischen, kaum mehr für möglich gehaltenen Führung. Achtunddreissig zu einunddreissig.
Das Twickenham-Stadion versank in Schockstarre. Zum ersten Mal seit zwei Generationen stand England zu Hause kurz vor einer Niederlage gegen Schottland. Prinz Edwards Streitmacht auf dem Rasen kam gewaltig ins Wanken. Die blauen Spieler dagegen gewannen mit jedem gelungenen Spielzug an Selbstbewusstsein und jagten den Gegner in die heimische Platzhälfte, auf dass er seine Nachlässigkeit in der zweiten Spielhälfte bereue.
Moira blickte McTavish von der Seite her an. Sie kannte ihn noch nicht lange genug, um mit allen seinen Interessen vertraut zu sein, und so entdeckte sie jeden Tag neue liebenswerte Seiten an ihm. Im Moment wirkte er wie ein kleiner Junge, der ein unerwartetes Geschenk erhalten hatte. Das Glück leuchtete ihm aus dem Gesicht, er feuerte seine Mannschaft aus voller Kehle an.
Die Stadionuhr wechselte ins Rot. Eigentlich war das Spiel jetzt zu Ende. Die Schotten brauchten den Ball nur noch für sich zu erobern und ins Aus zu kicken, um sich den Sieg endgültig zu sichern.
Die Zuschauer an den Bildschirmen auf der ganzen Welt hörten, wie sich die Rugby-Experten in den Studios gegenseitig mit begeisterten Kommentaren überboten. Im Stadion versuchten die Weissen, die sich in einem letzten verzweifelten Aufbäumen den Ball gesichert hatten, auf dem Feld doch noch das Unmögliche zu schaffen. Die Blauen verteidigten nach Kräften ihre Mallinie. Beide Mannschaften waren am Rande der totalen Erschöpfung. In den Zuschauerreihen sass kaum noch jemand, alle standen und starrten gebannt auf das Spielfeld, wo der Schiedsrichter sicherlich gleich abpfeifen würde.
Ein gewaltiger kollektiver Aufschrei ging durch die 82'000 Zuschauer, als der englische Einwechselspieler, Ellbogen eng am Körper, in letzter Sekunde durch die bereits am Boden liegenden schottischen Verteidigungslinien brach und den Ball zwischen den Pfosten ins schottische Malfeld ablegte. Die Erhöhung des Kickers war nur noch Formsache. England hatte sich in diesem historischen Spiel ins Unentschieden gerettet.
Kapitel 1
Mai, Isle of Skye
McKenzie schlürfte mit Genuss ihren Kaffee. Schön, dass man einmal nicht früh aufstehen musste, in Ruhe zu Ende frühstücken und sich danach wieder mit einem Buch ins Bett legen konnte. Sollte sie später der Fitness zuliebe einen leichten Spaziergang über die Hügel unternehmen? Eilean a’Cheò – die Nebelinsel, wie Skye in der gälischen Sprache hiess – strafte ihren Namen heute Lügen. Das Wetter versprach Sonne und warme Temperaturen. Sie würde ein Picknick einpacken und gemächlich bis an die Südküste wandern.
Der Frühstücksraum in der kleinen Pension in Ardvasar gefiel ihr gut: Teppich im Tartanmuster verhinderte bei Regenwetter kalte Füsse, weisse Spitzenvorhänge zierten die alten Schiebefenster, und auf der Terrasse draussen standen Töpfe mit üppig wuchernden roten Fuchsien. Durch die Scheiben sah sie im Garten dahinter Rhododendronbüsche, die in dem milden Inselklima verschwenderisch gediehen und deren Blüten im schwachen Wind in einem Meer aus Violett und Rosa auf und ab wogten. Das Ganze erinnerte sie ein wenig an das Haus ihrer Grossmutter drüben auf dem Festland.
Ihre Wirtin war bereits in den Siebzigern. Als McKenzie vor ein paar Tagen mit ihren Koffern vor der Tür gestanden hatte, war sie mit einer grossen Umarmung und einem Haufen Hausregeln empfangen worden. Keine Herrenbesuche, keine lauten Telefonate auf dem Zimmer und nach Verlassen des Badezimmers bitte immer den Heizstrahler ausschalten. Auch das hatte sie an ihre Grossmutter erinnert.
McKenzie lächelte ironisch. Herrenbesuch! Sie hätte nichts gegen eine männliche Begleitung gehabt, aber leider tat sich bei ihr zurzeit nicht viel auf dem Gebiet. Ihre Arbeit liess ihr kaum Zeit für irgendwelche Hobbys, geschweige denn, um private Kontakte zu pflegen. Ein flüchtiger Gedanke an die kleine Affäre von letztem Jahr brachte ein versonnenes Lächeln auf ihr Gesicht. Ein romantischer junger Italiener, der seine Ferien an der Westküste Schottlands dazu genutzt hatte, mit ihr schöne Sonnenuntergänge an verlassenen Sandstränden zu geniessen. Leider hatte er sich als völlig ungeeignet herausgestellt, ein Feuer in den feuchten Dünen zustande zu bringen. Die Grillwürste blieben roh, und sie hatte ihn nach ein paar Tagen freundlich, aber bestimmt verabschiedet. Giorgio war wohl längst wieder in Neapel und versuchte, den Heiratsplänen zu entfliehen, die seine Mamma für ihn hegte.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie auch mit dem Gedanken gespielt, eine Beziehung mit McTavish vom Marine Life Centre in Gairloch einzugehen, aber der hatte sich ja inzwischen in seine Moira verliebt und bewegte sich auf Wolke sieben. McKenzie lächelte erneut. Zu sehen, wie McTavish zu Wachs in den Händen einer Frau wurde, war sehr amüsant gewesen. Sie mochte Moira Watson ganz gerne. Und so war es bei der Freundschaft mit McTavish geblieben. Was allerdings hiess, dass sie ihre Ferien hier auf der Insel alleine verbringen musste, womit sie, wie es den Anschein hatte, wenigstens die Pensionsinhaberin zufriedenstellte.
Die Tür ging auf und ihre Wirtin kam herein. „Nun, Charlotte, haben Sie alles, was Sie brauchen? Darf ich Ihnen vielleicht noch ein gekochtes Frühstück bringen? Wir haben ausgezeichneten Speck hereinbekommen, und der Haggis von gestern ist noch ganz frisch."
McKenzie schauderte. „Nein, vielen Dank, Màiri, ich habe alles, was ich brauche. Vielleicht noch ein Tässchen Kaffee, das wäre nett. Dann bin ich wirklich ganz satt. Sie blickte zum Fenster hinaus. „Haben Sie keine anderen Gäste? Die Saison hat wohl noch nicht richtig begonnen.
Màiri MacLeod goss aus einer grossen Kaffeekanne McKenzies Tasse voll und setzte sich wie selbstverständlich zu ihrem Gast an den Tisch. „Ich nehme nicht mehr so viele Leute auf wie früher. Ich bekomme jetzt meine Rente, und mein Mann hat mir auch ein bisschen was hinterlassen. Aber es ist nett, mal mit jemandem zu plaudern. Ich nehme nur weibliche Gäste auf und auch nur solche, die mir sympathisch sind."
McKenzie hütete sich wohlweislich zu fragen, ob sie diese hohen Erwartungen erfüllte. Sie schob ihren Teller zur Seite. „Ich gehe dann mal auf mein Zimmer. Den Kaffee nehme ich mit. Muss mich fertigmachen. Es ist ja heute ein so schöner Tag. Sagen Sie, ist der Weg zum Point of Sleat im Moment trocken genug, damit ich auf meinem Spaziergang am Nachmittag nicht im Moor versinke?"
„Ja, meine Liebe. Der Weg ist einfach zu gehen und sehr hübsch. Erwarten Sie sich bloss nicht zu viel vom Leuchtturm am Ende. Das ist nur ein kleines Gebäude ohne Charme. Die Sandy Bay ist dagegen sehr malerisch, wenn es am Strand keine Quallen hat."
Mrs MacLeod suchte nach einem Weg, ihren Gast noch ein wenig festzuhalten: „Was machen Sie denn so? Sind Sie