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Ich will malen!: Das Leben der Artemisia Gentileschi
Ich will malen!: Das Leben der Artemisia Gentileschi
Ich will malen!: Das Leben der Artemisia Gentileschi
eBook455 Seiten5 Stunden

Ich will malen!: Das Leben der Artemisia Gentileschi

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Über dieses E-Book

"Artemisia Gentileschi war in der Zeit, die wir heute Barock nennen, eine sehr bekannte Malerin. Und sie war mit Abstand die interessanteste, denn anders als die meisten der wenigen anderen Künstlerinnen malte sie weder aus Zeitverbtreib noch die für Frauen typischen Porträts oder Stillleben. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt mit ihren Bildern, in denen sie Geschichten aus der Bibel und der antiken Sagenwelt darstellte ..."
(Susanna Partsch im Nachwort zu Ich will malen!)

Ich will malen! ist ein Roman, keine Biografie. Eine Romanbiografie, könnte man sagen, zusammengesetzt aus den Ergebnissen der neueren Forschung, die Ende des 20. Jahrhunderts immer schneller in Gang kam, und viel Fantasie, um diese "Splitter" zusammenzuführen. Nicht zuletzt basierend auf den Gerichtsakten im Verfahren von Artemisias Vater Orazio gegen den Maler Agostino Tassi im Jahre 1612.
Vor dem Hintergrund von Rom und Florenz, einem bunten gesellschaftlichen Panorama in zwei grundverschiedenen Städten, lesen wir, wie Artemisia gegen große Widerstände sich den Beruf der Malerin erkämpft und schließlich Karriere macht ...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum23. Feb. 2015
ISBN9783737532792
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    Buchvorschau

    Ich will malen! - Michael Hatry

    ICH  WILL MALEN!

                  Das Leben der Artemisia Gentileschi

                     Roman

                       von

                     Michael Hatry

                     Mit einem Anhang von Susanna Partsch

                           Dazu eine Analyse der Gerichtsakten im Verfahren Orazio Gentileschi vs. Agostino Tassi

    Impressum:

    Ich will malen!

    Michael Hatry/Susanna Partsch

    Copyright: ©  2015 Michael Hatry/Susanna Partsch

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN 978-3-7375-3279-2

    Foto: Saint Louis Art Museum Missouri (Selbstporträt als Allegorie der Malerei)

    Inhalt

    TEIL 1: ROM

    1. Wie Artemisias Geburt ihren Vater Orazio fast ins Gefängnis brachte

    2. Wie Artemisia richtige Engel sah

    3. Wie eine junge Frau ihren Kopf verlor und Artemisia sich ihren Reim darauf machte

    4. Wie Artemisia den Rauch sah, aber nicht das Feuer

    5. Wie Orazio anfing, anders zu malen

    6. Wie Orazio wirklich ins Gefängnis kam

    7. Wie Artemisia in die Fußstapfen ihrer Mutter trat, obwohl sie in die ihres Vaters treten wollte

    8. Wie Artemisia ein Selbstporträt zeichnete

    9. Wie Artemisia malen lernte

    10. Wie Artemisia eine Susanna malte

    11. Wie Artemisia an einem Tag fünf Kirchen besuchte

    12. Wie Artemisia heiraten wollte

    13. Wie Artemisia Tassi näher kennenlernte

    14. Wie Artemisia nicht wusste, wie ihr geschah

    15. Wie Artemisia die Perspektive lernte

    16. Wie Orazio nicht wusste, wie ihm geschah

    17. Wie Artemisia eine Danaë malte

    18. Wie Artemisia den Karneval beging

    19. Wie Orazio einen Brief an den Papst schrieb und was daraus folgte

    20. Wie Artemisia Tassi noch besser kennenlernte

    21. Wie Artemisia eine andere Judith malte

    TEIL 2: FLORENZ

    23. Wie Artemisias Judith in Florenz ankam

    24. Wie Artemisia lesen und schreiben lernte und einen Sohn bekam

    25. Wie Artemisia die Welt als Bühne entdeckte

    26. Wie Artemisia gut aß und noch besser bedient wurde

    27. Wie Artemisia gegen den Tod anmalte

    29. Wie Galileo Galilei Artemisia die Gestirne und den Fußball erklärte

    30. Wie Artemisia Trost brauchte und keinen bekam

    31. Wie Artemisia Urlaub nahm

    32. Wie Artemisia Abschied von Florenz nahm

    EPILOG: ZURÜCK IN ROM

    33. Wie Artemisia Pierantonio loswurde

    Anhang

    Einleitung

    Der Prozess

    Die Situation der Maler um 1600 in Rom

    Die Werkstatt eines Künstlers

    Die Epoche des Barock

    Biografien

    Artemisia Gentileschi

    Orazio Gentileschi

    Francesco Gentileschi

    Agostino Tassi

    Römische Künstler – Künstler in Rom

    Giovanni Baglione

    Caravaggio

    Annibale Carracci

    Giuseppe Cesari, gen. Cavalier d'Arpino

    Adam Elsheimer

    Geronimo Modinese

    Guido Reni

    Florentiner Künstler – Künstler in Florenz

    Cristofano Allori

    Sandro Botticelli

    Filippo Brunelleschi

    Jacques Callot

    Aurelio Lomi

    Michelangelo

    Giulio Parigi

    Giorgio Vasari

    Andere Persönlichkeiten

    Giordano Bruno

    Francesca Caccini

    Beatrice Cenci

    Andrea Cioli

    Vincenzo Giustiniani

    Galileo Galilei

    Die Medici

    Cosimo Quorli

    Die Bilder

    DER PROZESS GEGEN DEN MALER AGOSTINO TASSI WEGEN GEWALTSAMER ENTJUNGFERUNG VON ARTEMISIA GENTILESCHI

    Die Autoren

    Nach dem 1563 beendete Konzil von Trient, das sich mit den Konsequenzen aus der Reformation beschäftigt hatte, ging die katholische Kirche daran, ihre Gegenreformation zu organisieren.

    Die Stadt Rom, ein Städtchen von knapp 100.000 Einwohnern, sollte zur strahlenden Metropole ausgebaut werden und mehr denn je von Glanz und Glorie der Heiligen Mutter Kirche künden. Das war der Gegenentwurf zu den Ideen der prachtempfindlichen, bilderfeindlichen, protestantischen Ketzer. Rom, die Ewige Stadt.

    Vor allem Papst Sixtus V. verordnete Rom einen Bauboom sondergleichen. Enorme Summen wurden in den Neubau der Stadt gepumpt, Denkmäler und Trümmer der Antike wie schon früher zum neuen Rom recycelt. Die Stadt, die um 1600 etwa einhunderttausend Einwohner hatte, glich zeitweilig einer riesigen Baustelle.

    Einige Kilometer neuer gerader Straßen wurden angelegt mit der Kirche Santa Maria Maggiore im Zentrum, um den Pilgern den Weg zu den sieben Hauptkirchen (drei davon außerhalb der Stadtmauer) leichter zu machen. Den zahlreichen Pfarrkirchen wurden neue Kirchen hinzugebaut. Den vorhandenen Palästen prächtigere, darunter die künftige päpstliche Residenz auf dem Quirinal, einem der sieben Hügel Roms und Die Erneuerung antiker Aquädukte, die die Wasserversorgung sicher stellen sollte, begleitete Sixtus mit dem Bau neuer Brunnen, z.B. auf der Piazza del Popolo. Er starb im Jahr 1590, nach nur fünf Jahren Amtszeit. In den Jahren 1590/91 gab es drei Nachfolger, die alle nach jeweils ein paar Monaten starben. Weil das Geld für all diese hehren Unternehmungen nicht ausreichte, erhöhte der Papst die Steuern und erließ neue. Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößerte sich dramatisch. 1591 wurde in Rom das Brot knapp, ein Hungerjahr für die Armen, und die Brotversorgung blieb problematisch, obwohl stets große Vorräte gespeichert und der Brotpreis subventioniert wurden.1592 kam erneut ein starker Papst auf den Thron. Clemens VIII. (1592-1605) begnügte sich allerdings damit, das einmal Angefangene zu Ende zu führen. Sein Hauptinteresse galt Restaurierungsvorhaben in Hinblick auf das Heilige Jahr 1600. Kirchen und Paläste wurden ausgemalt, alte Gebäude ausgebaut und aufgefrischt. Schon in den 80er Jahren hatte es Maler aus ganz Italien und aus vielen Ländern Europas nach Rom gezogen, die meisten ins Künstlerviertel der Altstadt zwischen Tiber und Pincio. Unter ihnen war Orazio Lomi aus Pisa, Sohn eines Goldschmieds, der sich bald nach seiner Mutter Gentileschi nannte. Oder nach seinem Onkel, bei dem er in den ersten Jahren wohnte, einem respektablen Hauptmann der Wachen in der Engelsburg.

    TEIL 1: ROM

    1. Wie Artemisias Geburt ihren Vater Orazio fast ins Gefängnis brachte

    Die Kneipe von Pasquale dem Pisaner war brechend voll. Vor der Tür standen sie, Becher in den Händen, und schwatzten, der lange Tisch im Gärtchen war bis auf den letzten Platz besetzt. Im Wirtsraum staute sich die Hitze, Schweiß hing in der Luft. Die Männer saßen und standen in ihren bunten Jacken und Hosen, aus denen buntbestrumpfte Waden in ledernen Schuhen ragten. Die Federn an den Hüten wippten, wenn sie Karten ausspielten oder aneinander stießen. Würfel klapperten auf Holzbrettern. Becher klirrten. Rufe, Begrüßungen und Bestellungen schwirrten hin und her.

    Orazio Gentileschi drängte sich nach allen Seiten grüßend vor zur Theke, hinter der Pasquale und sein Gehilfe den Wein zapften. Orazio nickte dem Wirt zu, sie kannten sich schon lange. Der nickte zurück und schob Orazio einen Becher Rotwein hin. Der Schweiß lief ihm von der Stirn.

    „Fertig?", fragte er.

    Orazio nickte. Er kam aus der Basilika Santa Maria Maggiore, einer der sieben Hauptkirchen Roms, wo er an der Ausmalung des Mittelschiffs beteiligt war. Die Beschneidung Christi war knapp vor Einbruch der Dunkelheit fertig geworden.

    Er nahm einen kräftigen Schluck und lehnte sich mit dem Rücken an die Theke. Die meisten der Männer hier kannte er, lauter Maler, deren Nebenbeschäftigung darin bestand, über die Bilder anderer Maler und ihre Frauengeschichten herzuziehen, wozu sie heftig gestikulierten oder ihre Bärte strichen. Der Geräuschpegel war danach. Orazio nahm noch einen kräftigen Schluck, als er seinen Namen von einem der Tische hörte. Er sah Giuseppe Cesari winken und schob sich durchs Gedränge.

    Cesari, ein junger Mann Mitte zwanzig, spielte mit zwei Männern Karten; den andern Teil des Tisches belegten zwei Würfelspieler. Ein paar Männer mit Bechern in der Hand standen um den Tisch herum und sahen den Spielern zu.

    „Und?", fragte Cesari und rückte auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite, was Orazio als Aufforderung begriff, sich auf die andere Hälfte zu setzen.

    „Kann nicht mehr lange dauern", sagte er.

    „Halbe Backe, halber Einsatz?", fragte der Mann ihnen gegenüber. Sein Bauch stülpte sich herausfordernd über die Tischplatte.

    „Ich bleib nicht lange", sagte Orazio.

    Er spielte nicht. Jedenfalls nicht mehr. Jedenfalls nicht um Geld, und anders ging es nicht. Wenn er es täte und dabei verlöre, würde Prudenzia ihn zur Schnecke machen, so jung sie auch war. Prudenzia war achtzehn Jahre alt, zwölf Jahre jünger als er, und zum ersten Mal schwanger. Hochschwanger.

    Wenn Prudenzia in Fahrt geriet, dachte er manchmal, so, blitzenden Zorn in den Augen, müsste er sie malen. Aber daran war nicht zu denken. Er malte Prudenzia auch sonst nicht, ein paar Zeichnungen, das war alles, für später. Zeichnen war billiger als Malen und Malen war Zeitverschwendung. Wer würde seine Bilder denn kaufen? Er malte Fresken, damit kam er über die Runden. Bevor er anfangen konnte, in Öl zu malen, musste er sich erst einen Namen machen.

    „Ich leih dir was", sagte Cesari und spielte eine Karte aus. Er besaß trotz seines jugendlichen Alters bereits eine eigene Werkstatt und schien gut zu verdienen.

    „Spielen macht das Warten leichter", sagte der dicke Mann. Seine Stimme war hoch und gequetscht, mit einem Stich ins Falsett. Er strich die Karten, die auf dem Tisch lagen, ein. Er hatte gewonnen und sie rechneten ab.

    Orazio schüttelte den Kopf. Der Mann war ein Streithammel, nicht gerade mit Begabung gesegnet, aber das machte er mit Worten wett. Orazio kannte ihn aus der sixtinischen Bibliothek, bei deren Ausmalung sie vor ein paar Jahren mitgearbeitet hatten. Seinen Namen hatte er vergessen, sie konnten sich nicht leiden. Der Mann wollte ihn abzocken, das war alles.

    „Feiglinge richten die Welt zugrunde", sagte der Dicke. Er grinste seinem Nachbarn zu, der grinste zurück. Er grinste zu allem, was der Dicke sagte.

    „Maulhelden, meinst du?", fragte Orazio. Er schwitzte jetzt auch.

    Cesari gluckste.

    Der Dicke warf beiden einen gehässigen Blick zu. Mischte die Karten neu.

    So einen Blick müsste man malen können, dachte Orazio und trank seinen Becher aus.

    „Wenn ich jemanden einlade, mit mir zu spielen, maulte der Dicke, „und noch dazu zum halben Einsatz, dann spielt er auch mit mir, bei der Mutter Gottes!

    Beim dreigeschwänzten Teufel, dachte Orazio und sagte: „Halber Einsatz ist Beleidigung!"

    „Dann eben zum doppelten", sagte der Dicke und begann die Karten auszuteilen.

    Sein grinsender Nachbar riss seine an sich, als wollte er sie verschlingen.

    Ich muss schleunigst weg hier, dachte Orazio. Der Kamerad will Streit.

    „Willst du die Karten nicht aufheben, Gentileschi?"

    Der Grinsemann starrte in seine Karten und fletschte die Zähne.

    „Ich warte nicht mehr lange!"

    „Spielen erleichtert das Warten", sagte Orazio.

    Cesari gluckste vor Vergnügen.

    Der Dicke legte die Karten auf den Tisch, erhob sich halb und stützte seine Handflächen auf den Tisch, wobei sein Bauch über den Tisch schwabbelte. Sein Becher kippte um, der Wein ergoss sich über den Tisch und über seine Hose.

    Der Grinsemann lachte. Der Dicke holte mit der Hand aus und schlug sie ihm quer übers Gesicht.

    „He!, sagte Cesari. „Aufhören!

    Die Würfelspieler am Tisch unterbrachen ihr Spiel.

    „Was soll das, du Hurensohn?, fragte der eine, ein blasser bartloser junger Mann mit lombardischem Akzent, den Orazio noch nie gesehen hatte. „Kannst du das Wasser nicht halten?

    Seine dunklen traurigen Augen loderten aggressiv.

    Der Dicke stand ganz auf. Er schwankte ein wenig. Der Grinsemann fiel ihm in den Arm.

    In diesem Augenblick drängte sich ein Junge, vielleicht elf Jahre alt, zu Orazio an den Tisch.

    „Messer Gentileschi, sagte er atemlos. „Messer Gentileschi!

    „Ja?"

    Orazio stand auf. Es war der hinkende Nachbarsjunge, barfüßig, das Hemd hing ihm über die Hose, beides hinreichend schmuddelig.

    „Es ist da! Es ist da!, rief er. „Ich hab euch überall gesucht! Sie haben mich geschickt, aber ich ...

    „Wann?"

    „Vor einer Stunde, glaub ich."

    „Und?"

    „Eine Tochter! Es ist eine Tochter, soll ich Euch sagen!"

    „Eine Tochter?", fragte Orazio heiser.

    „Eine Tochter!", brüllte der schwankende dicke Mann ihm gegenüber.

    „Eine Tochter, sagte der Junge verwirrt. „Ich soll Euch holen.

    Der Dicke brach in ein unmäßiges Lachen aus.

    „Eine Tochter!, brüllte er, konnte sich nicht einkriegen. „Manche Männer können nur Töchter machen, habt ihr das schon gewusst?

    „Und manche Männer gar keine Kinder!", sagte Orazio eisig und wünschte sich, dass man Worte zurückholen könnte.

    Der Dicke verschluckte sich an seinem Lachen, seine Augen funkelten voller Hass. Dann nahm er den Tisch mit beiden Pranken, kippte ihn, warf ihn zur Seite und stürzte sich auf Orazio.

    Orazio wich zurück und bekam einen Stoß in den Rücken. Gleichzeitig spürte er die Faust des Dicken im Bauch. Der Schwung warf den Dicken gegen den Tisch. Sein grinsender Nachbar wollte ihm aufhelfen und erntete dafür einen Schwinger gegen den Hals. Giuseppe Cesari, sonst ein Muster an Zurückhaltung, warf sich todesmutig zwischen Orazio und den Dicken und wurde von einem auffallend geschniegelt aussehenden Zuschauer zurückgezerrt.

    Orazio sah, wie sich der junge Würfelspieler dieses Herrn annahm, dann spürte er einen Schlag ins Gesicht und knickte mit den Knien ein. Einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen. Er hörte Gebrüll und krachendes Holz. Jemand beugte sich zu ihm. Orazio öffnete die Augen und sah wie hinter einem Schleier Cesari, der aber sofort wieder aus seinem Blickfeld verschwand. Ein wildes Handgemenge tobte, Becher und Stühle flogen, anscheinend hatten sich Parteien gebildet. Vielleicht kämpfte aber auch jeder gegen jeden. Wie sonst auch.

    Orazio überlegte, ob er sich besser tot stellen sollte. Er hasste Schlägereien. Schloss die Augen, als könne er sich dadurch unsichtbar machen, wie ein Kind, und fühlte, wie ihn jemand am Ärmel zerrte. Ganz gegen seinen Willen wehrte er sich, aber der unbekannte Gegner fasste seinen Arm und zog an ihn ihm. Er öffnete die Augen und erkannte den fremden jungen Würfelspieler.

    „Raus hier!", zischte der Fremde.

    Orazio kam irgendwie auf die Beine, der junge Mann zerrte ihn durchs Getümmel zur hinteren Tür, wo schon mehrere Männer versammelt waren, drauf und dran, sich in die Schlacht zu stürzen. Orazio bemerkte, dass kaum noch jemand an dem langen Tisch im Gärtchen saß. Der Gedanke flatterte durch sein Hirn, das sei eine gute Gelegenheit, einen Platz an der mehr oder weniger frischen Luft zu ergattern, aber der Fremde zog ihn gnadenlos mit sich fort. Er war eine Puppe an der Hand eines großen Bruders, der aber merkwürdigerweise zehn Jahre jünger war als er, und stolperte ins Nichts.

    Es war stockdunkel, nur wenige Fenster in den umliegenden Häusern gaben ein wenig Licht.

    Dann kamen sie an eine Mauer.

    „Es reicht", sagte Orazio erschöpft und machte sich steif.

    „Es gibt eine Tür", sagte der Fremde und schleifte ihn mit sich.

    Sie fanden die Tür und standen im Nachbargarten. Aus der Kneipe kam Schlachtenlärm.

    Der Fremde ließ Orazio los. Es gelang Orazio, auf den Beinen zu bleiben. Durch einen Hof gelangten sie in ein Haus, das leer stand. Es roch nach Kalk. Anscheinend wurde es renoviert.

    Orazio lehnte sich gegen eine Wand.

    „Woher wusstet Ihr von dem Haus?", fragte er mühsam.

    „Ich halte die Augen offen."

    Orazio dachte, dass er das auch tun sollte, und schüttelte den Kopf, als wollte er ihn auslüften.

    „Geht’s wieder?", fragte der Fremde.

    „Ich glaube", antwortete Orazio.

    Er folgte dem Fremden. Sie kamen auf die Straße, in der niemand war. Hinter ein paar Fenstern war Licht. Zwei Kater schrien in verbissenem Zweikampf.

    Der Fremde und Orazio gingen in Richtung Corso.

    Eine Tür wurde geöffnet, eine dicke Frau trat auf die Straße und warf einen Eimer voll stinkender Fischreste in die Gosse. Im Nu wimmelte es von Katzen, die im Lichtschein des Hausflurs fauchend über die Reste herfielen. Die Frau ging ins Haus zurück und zog die Tür hinter sich zu.„Warum habt Ihr das getan?", fragte Orazio, als sie den Corso erreicht hatten, der wie immer voller Leben war.

    „Ach, wisst Ihr! Dieser Ritter vom Schmerbauch war auf Krawall aus und wir haben ihn beide gereizt, zufällig kann ich diese Art von Zeitgenossen nicht leiden."

    Er lachte trocken. Sie gingen den Corso entlang

    „Ich hielt ihn für einen Maulhelden", sagte Orazio.

    „Und wolltet den Helden spielen?"

    „Gewiss nicht."

    „Seht Ihr! Ich auch nicht. Ich gehe zwar sonst keinem Streit aus dem Weg, aber mit der Polizei ..."

    „Der Polizei?"

    „Habt Ihr nicht gesehn, wie der Wirt seinen Jungen geschickt hat?"

    „Nein."

    „Aber ich. Ich halte, wie gesagt, die Augen offen."

    Sie erreichten die Via dei Greci, in der sich die Kneipe befand. Jetzt war der Schlachtenlärm wieder zu hören. Irgendwo bellte ein Hund. Eine schrille Frauenstimme schrie gegen ihn an.

    „Übrigens, falls Ihr ein Taschentuch habt ..., sagte der Fremde. „Eure Nase blutet.

    Orazio blieb stehen. Er zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und hielt es sich unter die Nase.

    „Zu schade, dass man immer nur Heiligenbilder malt und all das, bemerkte der Fremde sichtlich angetan von Orazios Anblick. „So einer wie Ihr, das ist das Leben! Oder Christus, wie er sich am Kreuz krümmt, dass man sieht, der hat wirklich Schmerzen!

    Was redet der da?, dachte Orazio und sagte: „Um Gottes willen, hört auf, so zu reden. Das ist Gotteslästerung!"

    „Macht Euch keine Sorgen um mich!"

    Sie sahen ein paar Gestalten die Kneipe in Richtung Via di Ripetta verlassen. Eine Gruppe von Polizeidienern, die Sbirren, in ihren flatternden braunen Umhängen kam ihnen entgegen. Einige trugen Fackeln, so dass ihre Schatten auf der Straße und den Hauswänden mit ihnen um die Wette liefen. Die Gestalten machten kehrt.

    Orazio ging er Richtung Kneipe.

    „Da doch nicht!"

    Orazio drehte sich zu ihm: „Aber ich wohne in der Ripetta!"

    „Dann nehmt wenigstens das Tuch von der Nase und befehlt ihr, das Bluten einzustellen!"

    Sie sahen, wie einige der Sbirren die Kneipe stürmten. Zwei rannten hinter den Männern her, die aus der Kneipe gekommen waren.

    „Geht weiter, verdammt!"

    Der Fremde ging weiter. Orazio folgte ihm. Die beiden Sbirren beachteten sie nicht und folgten den flüchtenden Männern.

    „Habt Ihr zufällig diesen Lackaffen bemerkt?, fuhr der Fremde munter fort. „Der hinter Cesari stand?

    „Der Kiebitz?"

    „Ja, der Komplice des Ritters vom Schmerbauch. Ich sah, wie er ihm Zeichen machte und ihm das Blatt von Cesari signalisierte. Ein Falschspieler ist der Schmerbauch also auch noch und mit Falschspielern muss ich nicht eine Zelle teilen."

    Orazio blieb stehen.

    „Trotzdem vielen Dank", sagte er.

    „Keine Ursache. Ihr habt heute eine Tochter bekommen und verdient es nicht, die Nacht mit einem Schmerbauch und Falschspieler im Gefängnis zu verbringen. Und zufällig hatte ich heute noch nichts für mein Seelenheil getan."

    Sie hatten die Kneipe erreicht und Orazio konnte es sich nicht verkneifen, im Vorbeigehen einen Blick auf die wogende Masse in der Wirtsstube zu werfen. Als er den Kopf wieder zur anderen Seite wandte, war der Fremde verschwunden.

    Orazio versuchte, sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen. Vielleicht konnte er es eines Tages für einen Engel gebrauchen. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Bloß die traurigen Kohleaugen mit der plötzlich aufflammenden Glut waren noch vorhanden. Aber die taugten womöglich gar nicht für einen Engel, höchstens für den mit dem Flammenschwert.

    Er beschleunigte seinen Schritt. Er hatte eine Tochter, das war Fakt. Sie hatten noch keinen Namen für sie. Für einen Sohn hätten sie einen gehabt. Er wollte einen Sohn haben. Musste.

    Der hinkende Nachbarsjunge tauchte plötzlich an seiner Seite auf.

    „Wie bist du ihnen entkommen?", fragte Orazio irritiert.

    „Ich bin Euch gefolgt", sagte der Junge.

    „Die ganze Zeit?"

    „Die ganze Zeit", bestätigte er.

    „Wie heißt du eigentlich?"

    „Giovanni Battista."

    So, nach Orazios Vater, hätte sein Sohn heißen sollen.

    Was sollte er mit einer Tochter?

    Es fiel ihm nichts ein. Es mussten noch ein paar Jungen her.

    2. Wie Artemisia richtige Engel sah

    Prudenzias und Orazios Tochter wurde am 10. Juli 1593, zwei Tage nach ihrer Geburt, in der kleinen Kirche San Lorenzo in Lucina auf den Namen Artemisia getauft. Die Kirche, einer der ältesten Kirchen Roms, lag nicht weit von der kleinen Wohnung der Gentileschis in der lebhaften Via di Ripetta im Künstlerviertel, in dem die Maler so zahlreich waren wie die Katzen. Keine schöne Gegend, aber hier waren die Mieten mit am billigsten. Artemisias Mutter, die aus gediegenen bürgerlichen Verhältnissen kam (wie Orazio auch), schimpfte dann und wann über das Hungerleiderdasein, das sie zu dieser Gegend verurteilt hatte. Aber das war nicht so ohne Weiteres zu ändern. Tatsächlich lebten die Gentileschis von der Hand in den Mund. Brot war nirgendwo in Europa so teuer wie in Rom. Fertige Pasta noch dreimal so teuer. Und Prudenzia lernte das Kunststück, jeden giulio zweimal auszugeben.

    Als Artemisia ein Jahr und fünf Monate alt war, wurde ihr erster Bruder geboren, der auf den Namen getauft wurde, den sie bekommen hätte, wenn sie ein Junge gewesen wäre: Giovanni Battista.

    Ihre kleine Welt beschränkte sich auf ein paar Straßenzüge zwischen der Via di Ripetta, der Via del Corso und der Via Paolina, die alle in die Piazza del Popolo mündeten, den großen Platz mit der Kirche Santa Maria del Popolo und dem nördlichen Stadttor. Durch dieses Tor hatte ihr Vater, wie er ihr erzählt hatte, zusammen mit seinem sieben Jahre älteren Bruder Aurelio (der später in die Toskana zurückgekehrt war), als Junge Rom betreten.

    Die Straßen mit ihren vielen kleinen Läden waren schmal, die Mietshäuser auch, zwei, drei Stockwerke hoch, eng aneinander gedrückt. Dazwischen, als sei die Stadt aus ganz verschiedenen Baukästen zusammengesetzt, protzige Kirchen, edle Paläste, Hotels und Herbergen für Pilger und Touristen, Gemüsemärkte, in den Hinterhöfen Gemüsegärten und Bordelle zum kleinen Hafen, dem Porto di Ripetta, hin. Überall war ein Geruch von Abfall und Unrat, in den sich aktuelle Gerüche mischten. Bauern steuerten ihre Eselskarren durchs Gewimmel, schrien und fluchten. Schreie und Flüche antworteten ihnen. Junge und alte Händler priesen ihre Waren an: Zuckerwerk, Gebäck, Melonen. Scharenweise Bettler und beinamputierte Invaliden diverser Kriegszüge hielten die Hand auf. Taschen- und Melonendiebe ließen ihre Hände spazieren gehen. Huren boten sich an Fenstern feil oder standen gleich auf der Straße, obwohl das verboten war. Entlassene Söldner und andere Habenichtse machten die Straßen unsicher, schwer bewaffnete Banden, zum Teil im Dienst verfeindeter römischer Adelsfamilien, bekriegten sich, Jugendbanden machten sich einen Spaß daraus, die Huren zu provozieren, und die Sbirren durchkämmten auf der Suche nach Waffen und potentiellen oder tatsächlichen Verbrechern nachts die Straßen. Artemisias Vater Orazio war Freskenmaler.

    „Ich male Wände an", sagte er zu Artemisia. Das kann ich auch, dachte Artemisia und verschönerte mit einem von Orazios Holzkohlestiften die Wand seines Zimmers. Daraufhin verbot er ihr bei Androhung des Fegefeuers, Holzkohle je wieder in die Hand zu nehmen. Da war sie drei Jahre alt.

    Ein andermal zeigte er ihr Entwürfe zu einem Altarbild auf Leinwand, das die Bekehrung des Paulus (für eine Benediktinerkirche außerhalb der Stadtmauern) darstellen sollte: das Pferd des Apostels, den fallenden Apostel selbst, Soldaten.

    Die meisten Entwürfe und Skizzen waren mit Holzkohlestiften gezeichnet, manche aber auch mit Kreide. Und Artemisia juckten wieder die Finger. Als sie in einer stillen Stunde eine der Skizzen mit eigenen Kreidezutaten bereichert hatte, kam ihr Vater erneut wie ein Donnerwetter über sie. Teils, weil er seine Skizze nicht wiedererkannte, teils weil Kreide teuer war. Und deshalb verbot er ihr, Kreide je wieder in die Hand zu nehmen, wieder bei Androhung des Fegefeuers.

    Als die Bekehrung des Paulus fertig war, erteilte ihm der Benediktinerorden einen zweiten, weit größeren Auftrag und schickte ihn samt ein paar Mitarbeitern in die Sabiner Berge, wo er die berühmte, aber renovierungsbedürftige Abtei Santa Maria di Farfa durch Tafelbilder und Fresken auffrischen sollte. Zwei Tagesreisen von der Via di Ripetta entfernt. (Mit einem guten Pferd, das Orazio selbstverständlich nicht hatte, vielleicht auch nur eine Tagesreise.)

    Unter anderm sollte Orazio die heilige Ursula malen (auf dem Entwurf, den er Artemisia zeigte, hatte sie einen Pfeil im Hals und sah wie Prudenzia aus) und die Allegorien der Stärke (eine gewaltige Dame in schwerer Rüstung, mit Helm) und der Gerechtigkeit (eine genauso gewaltige Dame mit einem Schwert über der Schulter).

    Eine Heilige sei beinahe ein Engel, erläuterte er kühn, und Gerechtigkeit sei, wenn alle ihr Recht bekämen. Artemisia fand es aber höchst ungerecht, dass Farfa so weit weg war.

    Ihre Mutter war wieder einmal hochschwanger und bestand unter Einsatz von Tränen und anderen erpresserischen Mitteln darauf, aus dieser schrecklichen Gegend, also aus der Via di Ripetta wegzuziehen. Durch den Auftrag in Farfa sei die Finanzierung des Umzugs sicher gestellt, behauptete sie, und also zogen sie, gerade rechtzeitig zur Geburt von Artemisias zweitem Bruder, der den Namen Franceso bekam, in eine etwas größere Wohnung in etwas besserer Lage. An die Platea Santissima Trinità am Fuße des Pincio. Aber auch von hier aus konnte Artemisia das große Stadttor auf der Piazza del Popolo noch sehen. Das war ein wenig Sicherheit in einer unsicher gewordenen Welt.

    Im Juni 1597 nahm Orazio Abschied. Alle weinten, nur er nicht, und manche Träne netzte seinen schwarzen, gepflegten Bart, ehe Artemisia und Gianni und ihre Mutter ihn endlich fortließen.

    Prudenzia fand sich damit ab. Sie hatte genug zu tun. Das Baby Francesco, hing in einem fort an ihrer Brust, Giovanni Battista an ihrem Rock. Alles drehte sich nur noch um die Brüder. Artemisia fühlte sich an den Rand gedrängt.

    Einmal kam Orazio aus Farfa für ein paar Tage zu Besuch.

    Er sagte: „Die Farbe trocknet. Dabei will ich sie nicht stören."

    Und dann fuhr er wieder weg und blieb weg bis Anfang 1599.

    Etwa ein halbes Jahr später, an Artemisias sechstem Geburtstag, fuhr ihre Patin Artemisia Capizucchi, eine ziemlich vornehme Dame aus der besten römischen Gesellschaft, die zu den Bekannten von Prudenzias Eltern gehörte, die sie aber nicht oft zu Gesicht bekam, mit der Kutsche vor.

    „Die arme Kleine hat ja keinen Namenstag den man feiern könnte!", schnaubte sie. Sie hatte eine prächtige Nase und schnaubte sehr eindrucksvoll.

    „Da muss es notgedrungen der Geburtstag sein!"

    Dass sie nicht nach einer Heiligen hieß, wusste Artemisia natürlich längst. Der Name kam von Artemis, der griechischen Göttin der Jagd. Außerdem hießen ihre Patin und sie wie die persische Königin, die ihrem verstorbenen Mann, dem König Mausolos, ein gigantisches Grabmal hatte bauen lassen und jeden Tag, wie die Patin auch an diesem Tag erzählte, eine kleine Prise seiner Asche in ihren Wein gemischt hatte, die verrückte Person.

    Die Patin schnaubte verächtlich.

    Dann brachen sie auf.

    Die Fahrt führte durch nie gesehene Gegenden. Zuerst den Corso hinunter bis zur Piazza Venezia mit ihrem klotzigen Palast, in dem der Gesandte der Republik Venedig residierte.

    „Glaub ja nicht, dass es hier immer so ausgesehen hat, plauderte die Patin. „Als ich noch klein war, sogar, als meine Kinder noch klein waren, gab es diese gerade Straße, durch die wir jetzt fahren, noch gar nicht! Seine Heiligkeit, Papst Sixtus V., hatte Angst, die vielen Pilger könnten sich verlaufen, deshalb fand er es am besten, wenn man die großen Kirchen auf geraden Straßen erreichen konnte. Naja, wir Römer fanden uns ja eigentlich schon zurecht, aber die Pilger ... pople bitte nicht in der Nase, Artemisia, ich weiß, dass das sonst niemand was ausmacht, aber ich ... Da hinten wohne ich übrigens!

    Sie zeigte nach rechts in ein vornehmes Wohnviertel.

    Dann kamen sie am verwahrlosten, von den päpstlichen Baumeistern seit Jahrhunderten geplünderten Forum Romanum vorbei, an all den grün überwucherten Tempelresten und Säulenstümpfen aus der Zeit der Antike, eingerahmt von Zypressen und Pinien. Davor war der Viehmarkt im Gange.

    Gleich dahinter die gleichfalls begrünte Ruine des Colosseums, vor dem Schafe weideten. Und zum Quietschen der Wagenräder und Trappeln der Pferdehufe erzählte die Patin nun von blutigen Gladiatorenkämpfen, Löwen und christlichen Märtyrern, so dass Artemisia den Kopf ganz voller Bilder hatte, als sie schließlich am Ziel ihres Ausflugs ankamen. Da schnaubte die Patin zufrieden, die Pferdchen schnaubten ein Echo und sie stiegen aus.

    Vor ihnen, direkt an der Stadtmauer, dahinter freies Feld und eine schöne Hügellandschaft, erhob sich riesenmächtig die Basilika San Giovanni in Laterano, die Mutter aller Kirchen der Stadt und des Erdkreises, die alte Bischofskirche der Päpste, die päpstliche Kirche überhaupt, so benannt nach dem angrenzenden Lateranpalast. Auf dem Platz vor der Basilika stand ein ägyptischer Obelisk.

    „Aus dem Circus Maximus, sagte die Patin. „Seine Heiligkeit, Papst Sixtus V., hat den Obelisken hier aufstellen lassen. Obelisk ist griechisch und heißt Bratspieß.

    Artemisia lachte.

    „Ich sage aber lieber: Zeigefinger Gottes."

    Der Platz wimmelte von Leuten: Besuchern, fliegenden Händlern, Bettlern und zwischen ihnen hin- und her flitzenden Kindern.

    Sie gingen auf die Kirche zu und je näher sie kamen, desto gewaltiger erschien sie Artemisia. Sie hielt die Hand ihrer Patin fest umklammert, um nicht davon zu fliegen. Hohe Säulen ragten empor und gliederten himmelwärts das Portal. Sie betraten den Vorbau und durch eine schwere Tür den Kirchenraum.

    Und dann war alles auf einmal ganz anders. Ihr Kopf war plötzlich ganz leer. Die große Stille, die sie umgab, erschlug sie fast.

    Lichtbahnen fielen durch weit oben eingelassene Fenster in den riesigen Raum, als kämen sie direkt aus dem Himmel. Daher kamen sie ja auch, aber es schien Artemisia, als schwebten Engel, auch wenn sie unsichtbar waren, auf ihnen auf und nieder, schwebten und rutschten und purzelten, stiegen hinauf und hinab wie auf einer Himmelsleiter, man konnte bloß die Stufen nicht sehen. Aber als sie die Augen schloss, sah sie auf einmal die Engel und auch die Leiter.

    Metallen klangen ein paar Stimmen durch den Raum, aber das waren nicht die Engel, die geräuschlos auf und nieder stiegen. Und als Artemisia ihre Augen wieder öffnete, sah sie die Gerüste. Auf einem entdeckte sie ihren Vater.

    Sie stieß einen Kiekser aus und hielt eine Hand vor den Mund.

    „Wir wollen ihn überraschen", sagte die Patin.

    Artemisia nickte begeistert.

    Sie durchquerten das Längsschiff. Und als sie und ihre Patin am Fuß des Gerüsts angekommen waren, sah sie ihren Vater direkt auf die Wand malen, an einer sehr großen Figur. Der Umriss

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