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Mein Blut ist keine Buttermilch: Eine knüppelharte Kindheit
Mein Blut ist keine Buttermilch: Eine knüppelharte Kindheit
Mein Blut ist keine Buttermilch: Eine knüppelharte Kindheit
eBook1.046 Seiten13 Stunden

Mein Blut ist keine Buttermilch: Eine knüppelharte Kindheit

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Über dieses E-Book

Die 60er Jahre, das wohl interessanteste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts, des letzten Jahrtausends. Ein Jahrzehnt, das geprägt wurde durch die Anfänge der Beat-, Pop- und Rockmusik. Das Zeitalter des Wirtschaftswunders, der ersten Mondlandung, der Demos, der Hippies, der sexuellen Befreiung und des krassen Widerstandes gegen die bürgerliche Ordnung. Es war aber auch die Zeit, in den der Wohlstand in die mittelständigen Familien Einzug hielt. Es gab den ersten Fernseher, ein Bad mit Dusche und Wassertoilette, das sehnlich erwünschte Auto und den Pauschal-Urlaub. Ohne die 60er Jahre wären wir nicht das, was wir heute sind, eine multikulturelle, freie, ungezwungene Gesellschaft. Und ich erlebte diese Zeit als Kind und als Jugendlicher. Es hätte alles so schön sein können, wenn nicht..., ja, wenn nicht...?
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum19. Feb. 2022
ISBN9783740741556
Mein Blut ist keine Buttermilch: Eine knüppelharte Kindheit
Autor

Heinz U. Giesselmann

1957 Geburt in Bielefeld / Nordrhein-Westfalen. 1964 Einschulung / Grundschule 1968 - 1972 Hauptschule 1972 - 1973 kaufmännische Handelsschule 1973 - 1976 Ausbildung zum Fotokaufmann im Bereich Einzelhandel, Fotograf, Fotolaborant. 1976 - 1978 zweiter Bildungsweg 10 + 12 Klasse 1978 - 1979 Aushilfsjob als Lagerist, Tankwart, Friedhofsgärtner 1979 - 1988 Versicherungsangestellte bei einem Versicherungsmakler und Havarie-Kommissariat 1989 - 1990 Angestellter bei der Treuhand 1991 Verwaltungsangestellter beim Kreisverwaltungsreferat in München 1991 - 1993 Verwaltungsangestellter bei der Bau-Berufsgenossenschaft Bayern und Sachsen 1993 - heute/2021 Sachbearbeiter bei einer Bundesbehörde

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    Buchvorschau

    Mein Blut ist keine Buttermilch - Heinz U. Giesselmann

    Jede Krankheit ist nur so schlecht wie der Arzt, der sie behandelt.

    Dieses Buch ist gewidmet:

    Prof. Dr. Matthias (Chefarzt)

    Dr. Götze (Chirurg)

    Ärzte, Therapeuten, Schwestern und Pfleger der Universitätsklinik Münster (Hüffer-Stift) in den Jahren 1971–1973.

    Und vielen Dank für Ihre hervorragenden

    Leistungen.

    Der Autor

    15.12. 2021

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel 9. Februar 1972

    Kapitel 5. April 1957

    Kapitel 9. Februar 1972

    Kapitel 5. April 1957

    Kapitel 9. Februar 1972

    Kapitel April 1958

    Kapitel 11. Februar 1972

    Kapitel 13. Juli.1958

    Kapitel 14. Februar 1972

    Kapitel 4. Juni 1959

    Kapitel 16. Februar 1972

    Kapitel November 1959

    Kapitel 17. Februar 1972

    Kapitel April 1960

    Kapitel 19. Februar 1972

    Kapitel August 1961

    Kapitel 24.Februar 1972

    Kapitel Herbst 1962

    Kapitel 28 Februar 1972

    Kapitel Winter 1963

    Kapitel Anfang März 1972

    Kapitel Frühjahr 1964

    Kapitel Mitte März 1972

    Kapitel Herbst 1964

    Kapitel Ende März 1972

    Kapitel 1965

    Kapitel Anfang April 1972

    Kapitel 1966

    Kapitel Mitte April 1972

    Kapitel 1967

    Kapitel Ende April 1972

    Kapitel 1968

    Kapitel Anfang Mai 1972

    Kapitel 1969

    Kapitel Mitte Mai 1972

    Kapitel 1970

    Kapitel September 1972

    Kapitel 1971

    Kapitel Januar 1972

    Kapitel Februar 1972

    1. Kapitel

    (9. Februar 1972)

    Fear of the darkness.

    Ja, ich hoffe auf Gutes, doch Böses kam,

    Ich harrte auf Licht, doch Finsternis kam.

    Mein Inneres kocht und kommt nicht zur Ruhe.

    Mich haben überfallen Tage des Elends.

    Das Buch Hiob, 30, 26–27

    Es ist dunkel, sehr, sehr dunkel.

    Eine unheimliche Finsternis umschließt meinen Körper.

    Alles ist schwarz, grauenhaft schwarz.

    Ein Schleier aus Tod und Verdammnis fegt wie ein eisiger Wind um mein pochendes Herz herum.

    Und dann diese Ruhe, diese entsetzliche Ruhe.

    Eine beängstigende Grabesruhe schwebt über mir. Sie schwebt über mir wie ein drohendes Unheil.

    Es ist still, absolut still. Eine beängstigende Stille, eine unheimliche Stille.

    Es ist grauenhaft still. Keine Laute, keine Geräusche, keine Schallwellen dringen in meine Ohren.

    Nur Ruhe und Stille.

    Stille, Ruhe, Ruheeee …………………………………………………

    Ist das die Ruhe, die Ruhe vor dem Sturm?

    Sturm, Sturm, Sturm ………………………………………………….

    Was ist das für ein Sturm?

    Na, der Sturm!

    Sturm, Sturm, Sturm.

    Jaaa!!! Das ist ein Sturm, mein Sturm, mein letzter Sturm!?

    Ich will es nicht wahrhaben, aber ich werde bald sterben. Sterben, sterben, ja sterben.

    Ich werde sterben, abkratzen, abnippeln, abkacken, über den Jordan gehen.

    Unfassbar. Aber ich werde wirklich, ich werde tatsächlich bald sterben.

    Ruhe, Stille, Sterben!

    Der Tod wird kommen. Der Tod wird sich wie ein wildes Raubtier über mich hermachen, herfallen und mich zerfleischen, zerfleischen wie ein Monster, wie eine gierige Bestie, wie ein teuflisches Ungeheuer.

    Stille, Ruhe, Grabesruhe.

    Sterben! Sterben? Warum???

    Ich bin doch noch ein Kind. Ja, ein Kind, ein Kind, ein Kind!!!

    Ich bin doch noch so jung, so verdammt jung. Warum muss ich jetzt schon sterben?

    Aber ich werde sterben, ich werde sterben und das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

    Kirche, Gott, der Heilige Geist.

    Wo bist du mein Gott, verdammt noch mal? Lass mich nicht sterben.

    Lass mich nicht so elendig verrecken. Ich bin doch noch ein Kind!!!

    Doch niemand der Dreifaltigkeit scheint mich zu hören, niemand scheint mich zu sehen. Keiner ist für mich da. Kein Mensch, kein göttliches Wesen, niemand. Keine Hand zum Ergreifen, keine Hand, die mich hält.

    Ich bin einsam, einsam und allein. Das ist der absolute Horror.

    Eine grauenhafte Finsternis umschließt meinen Körper, umschließt ihn wie eine schwarze Manschette. Mein Herz ist zu Eis erstarrt.

    Und meine Seele? Wo ist meine Seele?

    Ruhe, Stille, Ruheee ……………… Stilleee ……………………… Hier ist nichts. Um mich herum ist nichts, einfach nichts, nichts.

    Aber ich werde sterben. Ich werde wirklich bald sterben.

    Sterben. Sterben. Sterben.

    Ein undurchdringlicher Nebel schwebt durch das unendliche All und hinterlässt seine magische Spur. Und diese Spur führt direkt in die Weiten einer Galaxie, in die Unendlichkeit des Universums.

    Das ist mein Schicksal, diese absolute Dunkelheit, diese unfassbare Unendlichkeit und diese Zweifel an das ewige und zweite Leben.

    Das ganze Weltall ist umhüllt mit schwarzen Wolken. Schwarzer, pechschwarzer Dunst erhebt sich aus den tiefen Schluchten der Galaxien.

    Keine Sonnen, keine Sterne, keine Planeten, nichts. Keine Trabanten, keine Kometen, keine Astroiden, nichts, nichts. Nicht ein einziger Himmelskörper schwebt an diesem riesigen Firmament. Nichts leuchtet in dieser hässlichen, unheimlichen Welt. Nichts leuchtet in meiner düsteren Welt. Nichts, nichts, nichts.

    Alles ist schwarz, schwarz, schwarz.

    Ich bin dem Irrsinn nahe. Über mir ist eine schwarze Wand. Unter mir eine schwarze Wand. Neben mir ist eine schwarze Wand. Links, rechts, vorne, hinten. Um mich herum ist alles schwarz. Ich bin eingewickelt einer schwarzen Wand, eingewickelt in einen schwarzen Teppich, eingewickelt in einen schwarzen Tunnel, eingewickelt in einen schwarzen Schacht und in einen schwarzen Kerker.

    Eine fürchterliche Platzangst dringt in mein Gehirn. Das Blut rauscht wie ein gewaltiger Strom durch meinen Schädel. Ich habe Fragen über Fragen. Düstere Visionen ziehen vor meinem geistigen Auge entlang.

    Bin ich vielleicht schon tot, eingewickelt und begraben …?

    Oder scheintot? Scheintod und lebendig begraben …?

    Neeeiiinnn!!!

    Schwarze Blitze jagen mir durch das Gehirn.

    Mensch Kurt, denke nach, denk nach. Du kannst doch noch denken, noch denken, oder nicht! Also bist du doch nicht tot. Denk nach, denk nach.

    Wo bist du hier? Was spürst du hier? Was bedeutet der Irrsinn hier?

    Kurt, schalte dein Gehirn ein! Mach es an, sofort!!!

    Denken, denken, nachdenken.

    Und?

    Ja, ich liege hier, ich liege. Ich liege auf irgendetwas Hartem. Ich liege mit meinem Rücken auf einem harten undefinierbaren Untergrund. Meine Arme, meine Beine sind wie aus Blei gegossen. Sie liegen wie unbrauchbares Werkzeug neben mir, Bewegungen unmöglich. Und dazu diese Angst, diese entsetzliche, panische Angst. Ich bin gelähmt. Gelähmt vor Angst, gelähmt vor Schrecken und vor Entsetzen. Ein fürchterliches, ungutes Gefühl umklammert mein pochendes Herz. Eine grauenhafte Furcht drückt mir die Kehle zu. Ich fange an zu japsen. Und dazu diese Kälte, diese unfassbare Kälte. Eine eisige Kälte streicht durch meinen Körper. Und dann dieser Druck, dieser starke Druck auf meinem Brustkorb. Eine kräftige imaginäre Hülle senkt sich von oben herab ganz langsam auf mich herunter. Es raubt mir fast die Sinne. Ein tonnenschwerer Amboss scheint auf meinen Rippen zu ruhen. Mein Brustbein ist kurz vorm Zerbersten. Eine gewaltige und enorme Kraft will meinen Oberkörper zerquetschen, zermalmen, zerdrücken. Es drückt und drückt und drückt.

    Ich warte auf Geräusche, Geräusche von splitternden Knochen. Von einem Knacken und Krachen und Bersten.

    Mir bleibt die Luft weg.

    Atemnot!

    Stillstand!

    Kollaps?

    Was nur, was?

    Was ist los mit mir!? Was passiert mit mir!?

    Krampfhaft versuche ich diese grauenhaften und horrormäßigen Gefühle einzuordnen. Ich versuche meine Gehirnzellen zu aktivieren. Ich versuche mich wie ein Verzweifelter zu konzentrieren. Ich brauche Lösungen.

    Ich, ich, ich …………

    Aber ich spüre immer nur ein winziges Detail. Ich liege, ich liege auf meinen Rücken und ich liege auf etwas Hartem, auf etwas ganz Hartem. Ich liege auf einem harten und unnachgiebigen Untergrund.

    Doch was drückt mir so brutal in meinen Rücken? Was bohrt sich da in meine Wirbelsäule? Was kann das sein? Warum sehe ich kein Licht?

    Warum höre ich hier keine Geräusche? Warum dringt kein Ton zu mir herüber? Und was bedeutet das nur, diese fürchterliche Stille, diese Dunkelheit, die mich umgibt?

    Fragen, Fragen, Fragen, die Antwort kennt immer nur der Wind. Aber den Wind, den gibt es hier nicht. Nicht ein einziger Lufthauch streift über meinen Körper, über meine triste Existenz.

    Hier ist nichts, einfach nichts.

    Schlafe ich? Wache ich? Träume ich?

    Ich kann meine Augen nicht öffnen. Ich kann meinen Mund nicht öffnen.

    Ich bekomme kaum noch Luft. Das Atmen fällt mir schwer.

    Ich kann meine Gedanken nicht ordnen, mein Orientierungssinn ist ausgeschaltet. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nichts, nichts, nichts.

    Nicht sehen, nicht hören, nicht riechen, nicht fühlen, nicht richtig denken, nicht richtig atmen. Ich kann nichts!!!

    Ich kann nur eins. Ich kann ersticken, ersticken, jämmerlich ersticken!

    Dazu bin ich gelähmt. Gelähmt, gelähmt, gelähmt.

    Ich werde bald irre. Ich drehe hier bald durch. Diese unerträgliche Ruhe, diese verdammte Stille. Keine Geräusche, keine Stimmen, keine Laute, nichts, nichts, nichts. Nur Totenstille!

    Das ist der pure Wahnsinn.

    Und dann dieser dunkle Nebel, der mich so gnadenlos umhüllt. Der will sich nicht lösen, der will sich nicht auflösen, der will nicht verschwinden.

    Grau, Schwarz, Rabenschwarz. Ich bin eingebettet in einer absolut dunklen Welt.

    Undurchdringliche Finsternis.

    Gähnende, düstere Leere.

    Eine imaginäre Last zerquetscht meinen Körper.

    Die Ungewissheit zermartert meinen Schädel.

    Blanker Horror liegt auf meiner Seele.

    Ich höre nichts. Ich rieche nichts. Ich sehe nichts.

    Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann mich überhaupt nicht bewegen.

    Nicht einen Zentimeter. Ich bin der kleinsten Bewegung nicht fähig.

    Und dunkel, dunkel, Dunkelheit.

    Schwarz! Pechschwarz, Rabenschwarz!!!

    Panik bricht in mir aus. Angst und Wahnsinn. In meinem Kopf tobt der Irrsinn. Nun muss mich eigentlich der Schlag treffen.

    Aber wieder nichts.

    Das Herz in meiner Brust schlägt SOS. Meine Pumpe rast und hämmert wie ein Maschinengewehr. Wie ein Maschinengewehr im mörderischen Kessel von Stalingrad. Meine Herzklappen rattern wie eine Stalinorgel.

    Wie eine Stalinorgel im Zweiten Weltkrieg.

    Und dann mein Blut. Das Blut schießt mir durch meinen Körper, wie Niki Lauda durch den Nürburgring.

    Hilfe, Hilfe, Hilfe!

    So helft mir doch!!!

    Was ist bloß mit mir geschehen!?

    Was? Was? Waaasss???

    Gelähmt.

    Bewegungslos.

    Keine Arme, keine Beine.

    Nichts kann ich spüren. Keinen Körper, nichts!

    Wo ist mein Körper?

    Wo sind meine Sinne, mein Verstand?

    Verdammte Scheiße!

    Ich kann nichts sehen. Ich kann nichts erkennen.

    Bin ich blind? Bin ich gelähmt?

    Meine Gehirnnerven vibrieren auf Hochtouren. Meine Wahrnehmungen überschlagen sich. Tausend irre Gedanken schießen mir durch den Schädel. Aber sie lassen sich nicht ordnen, sie lassen sich nicht zuordnen.

    Was ist bloß los in meiner Birne?

    Mein Kopf will zerplatzen, bersten, auseinanderspringen.

    Peng!!!

    Hatte ich einen Unfall, oder einen Schlaganfall?

    Ein Ohnmachtsanfall?

    Bin ich tot?

    Liege ich im Koma?

    Was nur, was? Was ist passiert?

    Ich versuche krampfhaft meinen Mund zu öffnen. Ich will fragen. Ich will um Hilfe rufen. Ich will nur laut schreien:

    „Was ist hier los! Was, was, was?"

    Nichts.

    Gar nichts.

    Alles bleibt stumm.

    Dunkelheit.

    Taub. Stumm. Blind. Gelähmt.

    Aus und vorbei.

    Nichts, nur die Ungewissheit und ein blanker Horror umgeben mich.

    Nein, stimmt nicht!

    Eine schwarze Wand umgibt, eine schwarze Wand umschließt mich.

    Nein, nicht eine Wand. Nein. Es sind zwei, es sind drei, es sind vier Wände.

    Rechts, links, vor mir, hinter mir. Eine Wand, zwei Wände, drei Wände, vier Wände.

    Alle Wände sind schwarz!

    Ich bin eingemauert in vier schwarzen Wänden. Oder ist es ein schwarzer Tunnel?

    Und diese Kälte, diese mörderische Kälte. Ich fühle mich so kalt wie auf Eis gebettet.

    Kalt wie in einer Gruft. Kalt wie im Grab.

    Liege ich im Erdreich? Liege ich zehn Fuß unter der Erde?

    Liege ich lebend in einem Sarg?

    Sargdeckel drauf und fertig.

    Einfach zugenagelt und ab in die Grube?

    Das kann doch nicht sein.

    Nein, nein, nein! Hilfe! Was ist das für ein Irrsinn?

    Ich muss jetzt erwachen, ja erwachen. Erwachen aus diesem Szenarium, erwachen aus diesem Horror, erwachen aus diesem Albtraum.

    Stille, Stille, Grabesstille.

    Und dann diese Finsternis.

    Ein wahrer Albtraum fährt mit mir Schlitten! Ab in den Wahnsinn.

    Mein Gehirn springt wieder an. Und wieder stelle ich mir Fragen, Fragen, Fragen.

    Hatte ich einen Hirnschlag? Hatte ich einen Schlaganfall? Hatte ich einen Herzanfall?

    Hatte, hatte, hatte ich … Hatte ich einen Hirninfarkt? Hatte ich einen Herzinfarkt? Hatte ich einen Unfall, einen schweren Unfall?

    Hat mich jemand vor die Wand gefahren? Bin ich unter einen LKW geraten? Bin ich aus großer Höhe gestürzt? Bin ich gar ertrunken?

    War ich im Feuer eingeschlossen, hat mich ein Erdbeben verschüttet?

    Anschlag? Attentat? Mordversuch?

    Hat jemand auf mich geschossen oder meinen Kopf gespalten? Hat mich jemand erdrosselt oder mich gar in die Luft gejagt?

    Liege ich im Koma, liege ich in einem künstlichen Schlaf?

    Ratter, ratter, rattern.

    Gedanken rattern und wirbeln wie wild durch meinen Schädel.

    Plötzlich rinnt mir heißer Speichel in den Hals. Rinnt auch in meine Luftröhre, rinnt und läuft und fließt. Mir wird abrupt die Luft zum Atmen gekappt.

    Ich ersticke. Ich, ich, ich ... ersticke!!!

    Mir schnürt sich ganz extrem die Kehle zu. Pure Atemnot dringt durch meine Brust. Kein Sauerstoff will meine Lungen füllen.

    Ein kalter Draht zieht mir die Kehle zu. Ich werde erdrosselt. Wer schnürt mir die Kehle zu? Was schnürt mir den Kehlkopf ab?

    Ich will nur eins, Luft, Luft, Luft. Ich will nur Luft zum Atmen, sonst nichts.

    Ist hier niemand, niemand, der mir hilft.

    Warum hilft mir keiner?

    Wo bist du, wo seid ihr?

    Bin ich allein? Allein auf dieser Welt?

    Warum nur allein?

    Hilfe!!!

    Ringsherum nur schwarze Wände, dunkle Mauern. Eingekerkert und eingemauert in einem düsteren Tunnel.

    Lebendig begraben? Bin ich wirklich lebendig begraben???

    Ich ersticke.

    Ja, ja, ja.

    Ich werde jämmerlich ersticken.

    Dunkelheit, Finsternis, schwarzer Dunst und Nebel.

    Blind und stumm.

    Keiner Regung, keiner Bewegung fähig.

    Ist das der Tod?

    Wird mir mein Lebenslicht gelöscht?

    Abkratzen, krepieren oder sterben?

    Exitus!

    Ein Faustschlag aus Furch und Angst schlägt durch meine Seele.

    In ein paar Minuten werde ich sterben.

    Ich sterbe. Ich nippel ab. Ich krepiere jämmerlich.

    Dabei bin ich doch noch ein Kind.

    Ich bin erst vierzehn Jahre alt. Weiß das denn hier keiner?

    Das kann doch wohl alles nicht wahr sein.

    Lieber Gott. Lieber, lieber Gott. Lass mich doch endlich erwachen!

    Erwachen aus diesem Albtraum! Erwachen, erwachen, erwachen.

    Aufwachen, aus diesem elendigen Horror!

    Neeeiiin!!!

    Meine Kopfhaut zieht sich brutal zusammen. Mein Gehirn wird gepackt von einer eisigen Zange. Ich spüre es genau. Da, da, da, da ist der Sensenmann. Er ist über mir, er ist neben mir, er ist unter mir. Der Sensenmann, der bleiche Fährmann, mein letzter Gast, hat sich in der Dunkelheit zu mir gesetzt. Das kann nur das Ende vom Ende sein.

    Mein Ende.

    Der Tod schlägt zu. Der Tod schlägt gleich erbarmungslos zu.

    Die scharfe Klinge ist gewetzt. Die Sense ist parat. Hohl aus! Hau zu!

    Nichts.

    Nichts, nichts, nichts.

    „Fährmann hol über!"

    Ja.

    Nein.

    Ja, Nein?

    Nein!!!

    Will mich denn keiner retten!? Wo ist Gott, wo sind meine Eltern, meine Großeltern, mein großer Bruder …???

    Wo seid ihr nur alle? Lasst mich doch nicht allein!

    Ich bin doch noch so jung, ich bin doch erst vierzehn Jahre alt.

    Kapiert das hier denn keiner? Ich kann doch nicht sterben!

    Nicht schon jetzt. Nicht jetzt.

    Ich, ich, ich … Was habe ich bloß verbrochen, dass ich so früh sterben muss?

    Sterben, sterben, sterben.

    Eine unscheinbare Kraft zerrt plötzlich an meinem Körper. Ich werde gedrückt, ganz langsam gedrückt. Und schon rutsche ich durch einen schwarzen Tunnel und stinkende Feuchtigkeit rauscht an mir vorbei.

    Und dann sehe ich Licht, ich sehe Licht am Ende des langen, dunklen Tunnels.

    2. Kapitel

    (5. April 1957)

    Und dann sehe ich Licht, ich sehe Licht am Ende des langen, dunklen Tunnels.

    Ich gleite hinaus, aus einem dunklen und feuchten Tunnel. Eine unsichtbare Hand umklammert meinen Körper und ich schwebe ganz leicht durch einen weißen riesigen Raum.

    Weiße Wände, weißer Boden, weiße Möbel.

    Weiß, weiß, weiß.

    Und unter mir liegt eine Frau, eine weiße Frau.

    Weißes Gesicht, weiße Kleidung, weiße Füße.

    Sie liegt auf ihrem Rücken, strampelt und stöhnt. Dieses Weib hat lange schwarze Haare, volle Lippen und einen Körper wie aus Ebenholz geschnitzt. Sie rekelt sich auf einem weißen Laken und ihr nettes, leicht gerötetes Gesicht strahlt mich förmlich an.

    Ich fühle mich so wohl, so unendlich wohl. Man hat mich aus meiner Dunkelheit befreit. Ich schwebe, ich schwebe durch ein grelles Licht. Und unter mir diese weiße Frau. Der Mund dieser mir unbekannten Person ist weit geöffnet, ihre wohlgeformten Schenkel ebenso. Ihr schwarzes Haar ist schweißgetränkt, einige dunkle Locken kleben lose vor ihrer Stirn. Der Rest ihrer Mähne schlängelt sich auf einem weißen Kissen, wie eine wirre schwarze Schlange.

    Wer ist diese Frau? Sie rollt lustig mit ihren Augen und schaut mich dabei freudig an.

    Was soll das alles hier? Bis vor Kurzem habe ich doch noch allein, in einem dunklen Verlies gesessen. Und jetzt, jetzt ist es hier so hell, so verdammt hell.

    Warum ist es hier so hell? Was will diese unbekannte Frau von mir? Was hat das alles zu bedeuten?

    Das geile Weib reckt mir nun ihre Arme entgegen, will mich greifen, will meinen Körper umarmen, will … will … Ihr warmer Atem streift heiß durch mein Gesicht. Ich höre sie stoßweise hecheln und stöhnen. Ihr Körper windet sich vor Begehren. Ihr bloßer Unterkörper glänzt vor Hitze und der Schweiß perlt an ihren langen Schenkeln herunter. Dicke, pralle Brüste hängen aus einer weißen Bluse heraus und winken mir wippend zu.

    Komm, komm, komm.

    Ich schaue wieder auf diese Person herunter. Ein weißes Bettlaken liegt zerknüllt unter ihrem bleichen Schoß. Sie strampelt wie wild mit ihren langen, blassen Beinen. Das weiße Metallbett, auf dem sie liegt, scheint zu beben, zu erzittern.

    Metall schlägt auf Metall.

    Es riecht nach feuchten und verschwitzten Leibern. Der Körper der Frau ist in Schweiß gebadet.

    Auch mein Körper ist feucht. Aber es ist kein Schweiß. Es ist eine klebrige Masse, die an meinen Beinen pappt. Meine Schultern sind von einer nassen, unangenehmen Flüssigkeit umhüllt. Was ist denn das bloß für eine Schmiere?

    Die Frau riecht nach Schweiß, ich rieche nach Schleim. Es stinkt.

    Ich wende meinen Blick ab, von dieser fremden Frau, von dieser fremden Person. Ich schaue nach oben und werde geblendet. Von der Zimmerdecke aus wirft ein enorm großer Strahler helles und unangenehmes Licht in diesen kalt wirkenden Raum.

    Ich will hier weg, nur irgendwie weg. Diese ganze Situation ist mir nicht geheuer. Ich möchte schreien, laut schreien:

    „Wo bin ich?

    Was mache ich hier?

    Was will diese Frau von mir?"

    Doch nichts passiert. Ich bleibe stumm, einfach stumm.

    Und wieder sehe ich diese Frauenhände, die nach mir grapschen, nach mir greifen wollen.

    Ich möchte nicht berührt werden. Ich will weg von hier. Weg, weg, weg.

    Flinke Hände wedeln nun vor meinem Gesicht herum. Die Finger biegen sich zusammen. Gleich werde ich gekrallt.

    Warum kann ich hier nicht weg?

    Die fremde Person öffnet ihre vollen dunkelroten Lippen, dann höre ich ihre Stimme: „Ich will ihn endlich haben, Herr Doktor, ich will …" Herr Doktor? Wer ist denn hier Herr Doktor?

    Meint die etwa mich?

    Bin ich ein Doktor?

    Was ist ein Doktor?

    „Ich will ihm die Brust geben, Herr Doktor."

    Spinnt die?

    Was will das Luder von mir?

    Was soll das?

    Brust, Brust. Brust?

    Ein toller Busen wippt mir entgegen. Ich bekomme Durst. Wie aus heiterem Himmel bekomme ich einen unbändigen Durst. Sogleich will ich mich auf die Fleischmassen stürzen, will mich an den großen Warzen laben.

    Doch irgendetwas hält mich mit Gewalt zurück. Ich zucke zusammen.

    Eine andere Stimme erschallt laut hinter mir, hinter meinem Körper:

    „Nun mal langsam, Frau Kastrup."

    Es sind fremde Worte, fremde Töne. Mir ist hier alles fremd. Und ich schwebe weiter durch diesen hellen Raum.

    Plötzlich packt mich jemand fest an meinen Nacken, dann an den Füßen.

    Ich werde wie ein Lasso durch die Luft gewirbelt. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Mal ist er oben, mal ist er unten. Wie ein Propeller jage ich durch die Luft. Bevor ich mich versehe, folgt ein kräftiger Schlag auf mein Gesäß.

    Ich bin baff. Dieser Kerl, dieser Mensch mit dem Namen Herr Doktor, hat mir doch tatsächlich auf mein Hinterteil geschlagen.

    Ich bin sauer.

    Ich bin verstimmt.

    Ich fange fürchterlich an zu heulen.

    Ein fürchterliches Geplärr dringt aus meinem kleinen Mund.

    Schreien, heulen, brüllen.

    Rääähbäääääh!

    Kommt dieses grauenhafte und unbekannte Geschrei wirklich aus meinem Körper?

    Wohl doch, wohl doch. Ich heule wie am Spieß. Ich kann mich nicht beruhigen. Ich heule und heule, schreie und schreie, immer weiter und weiter.

    „Sooo, das wäre geschafft, Frau Kastrup. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neugeborenen Sohn."

    „Danke. Vielen Dank, Herr Doktor."

    Wieder höre ich diese beiden Stimmen. Dann schaue ich auf die Frau herunter, die wieder nach mir greifen will.

    „So, dann will ich Ihnen das kleine Kerlchen mal überlassen."

    Hinter mir ertönt wieder diese laute kräftige Stimme von dem Herrn Doktor. Und dann werde ich von einer stark behaarten Hand an den großen Busen dieser halbnackten Frau gelegt. Ohne weiter nachzudenken, beiße ich unüberlegt sofort in diese große Warze, in diese weiche zarte Masse hinein.

    „Au, aua, aaaah!"

    Und das war gleich der erste Fehler in meinem neuen Leben.

    Und es werden noch viele weitere Fehler folgen.

    Ich bin geboren worden, herausgepresst in diese Welt. Hinaus aus der schwarzen Grotte, hinein in diese hellerleuchtende Wirklichkeit.

    Das war eben meine Geburt. Tatsächlich. Ich kann es nicht fassen. Ich bin ein neues Gottesgeschöpf. Oh, welch ein Wunder. Ich liege in keiner schwarzen Grotte mehr, ich liege auf meiner Mama. Meinen kleinen Körper schmiege ich sogleich an den großen warmen Körper dieser mir bis eben unbekannte Frau.

    Das tut gut.

    Mein Köpfchen liegt an einer warmen, anschmiegsamen Schulter. Lange, schwarze Haare rahmen mich sanft ein. Ich schließe meine Augen und fühle mich so wohl, so wohl und wohlbehütet.

    Dann wird es langsam dunkler.

    Dunkler und dunkler.

    Der erste Tag in meinem Leben geht vorbei. Ich penne vor Erschöpfung ein.

    Das war’s.

    Eine absolute Finsternis umgibt mich.

    3. Kapitel

    (9. Feb. 1972)

    Eine absolute Finsternis umgibt mich.

    Immer noch liege ich bewegungslos mit meinem Rücken auf einem harten Untergrund. Immer noch bin ich vierzehn Jahre jung und ich spüre den nahenden Tod. Umgeben bin ich weiter von irrealen, dunklen und undurchdringlichen Wänden. Das kurz aufflackernde Licht am Ende des schwarzen Tunnels ist wieder erloschen.

    Es ist so finster, so finster und so kalt. Alles ist in ein schwarzes Licht getaucht.

    Unwirklich.

    Unreal.

    Mein gelähmter Körper ist der pure Horror. Meine Arme, meine Beine, meine Gliedmaßen, nichts kann ich bewegen. Alles taub, alles dumpf. Nur meinen Kopf, den kann ich spüren. Die Augen, die Nase und den Mund. Doch mein Mund und meine Augen sind verschlossen, fest verschlossen.

    Alles ist wie aus Wachs. Alles ist verklebt. Alles wirkt so dumpf, alles wirkt so tot. Mein Leben stirbt langsam ab. Keine Regung, keine Schmerzen, keine Gefühle.

    Nichts.

    Außer dass mir heißer Speichel in die Kehle rinnt. Speichel, heißer Speichel.

    Und der Speichel rinnt und rinnt. Er wird in Schüben durch meinen Hals gepresst. Die Spucke fließt und fließt. Immer weiter, immer weiter in meinen Hals hinunter. Ein stetiger Fluss heißer Lava ergießt sich in mein Inneres, in meine Kehle, in meinen Schlund.

    Ich ertrinke an meinem eigenen Speichel.

    Irre!

    Ich ersticke gleich an meiner eigenen Spucke.

    Stopp, stopp!!!

    In meinen Gehirnwindungen tobt der Wahnsinn.

    Was ist los mit mir?

    Was nur, was?

    Was will diese viele heiße Spucke in meinem Mund? Warum rinnt mir so viel Speichel durch die Kehle? Und wieso umgibt mich diese Dunkelheit?

    Das alles raubt mir den Verstand.

    Lieber Gott, lass mich erwachen, erwachen aus diesem entsetzlichen Traum.

    Und ich werde erhört, ja ich werde erhört.

    Plötzlich, ganz plötzlich höre ich Stimmen.

    Viele Stimmen, laute Stimmen.

    Ein regelrechtes Stimmengewirr prasselt auf mich hernieder.

    Wie bei einem Echo strömen zahlreiche Wellen von Stimmen in meine Ohren hinein. Es hallt und dröhnt in einer mir unbekannten Lautstärke.

    Mein Trommelfell erzittert. Aber das ist mir scheißegal. Hauptsache ich nehme diese Stimmen gewahr. Wenn ich nur meinen Mund öffnen könnte, ich würde jetzt Halleluja rufen.

    Aber ich bleibe stumm, meine verflixten Lippen bleiben verschlossen.

    Es jagen die unterschiedlichsten Stimmen durch die Luft und umkreisen mein Gehirn.

    Stimmen, Stimmen, Stimmen.

    Wie ein kräftiger Wirbelwind jagt das Stimmengewirr um mich herum.

    Mir wird schwindelig. Von allen Seiten strömen Stimmen auf mich ein. Meine Hirnmasse treibt in einem Karussell von Worten und Sätzen.

    Mir wird übel, speiübel. Aber ich bleibe liegen, regungslos liegen. Ich bin ja gelähmt, verdammt noch mal gelähmt.

    Und dann plötzlich, ganz plötzlich, höre ich folgende Worte: „Aufwachen!"

    „Hörst du uns, Kurt? „Aufwachen!

    „Wieso wacht der nicht auf?"

    „Hallo Kurt, aufwachen!"

    „Was ist denn bloß mit dem Jungen los?"

    „Hörst du uns nicht?"

    „Heee Junge, wach doch auf!"

    Diese vielen Stimmen klingen so merkwürdig und so unnatürlich. Sie haben einen unheimlichen Hall und klingen sehr mechanisch. Alles dringt verzerrt in mein Gehirn und hinterlässt ein unheimliches Echo in meinen Ohren.

    Auf einmal schlägt mir jemand ins Gesicht. Ganz leicht, aber ich kann es spüren, ganz leicht, aber ich kann es fühlen.

    Toll, toll, toll. Da passiert doch was mit mir.

    Dann ein erneuter Schlag, nur etwas stärker. Er trifft meine linke Wange.

    Ja, haut zu, haut stärker zu! Ich will erwachen, ich will endlich erwachen!

    Und wieder diese Stimmen. Viele Worte, viele Fragen, viele Sätze:

    „Mensch Kurt, was ist mit dir?"

    „Da stimmt was nicht."

    „Heeee da, aufwachen."

    „Was ist mit dir?"

    „Kurt, sag doch was."

    Kurt, Kurt, Kurt, ja so heiße ich.

    Das Leben hat mich wieder.

    Ich kann meinen Namen hören, ich kann die Schläge auf meiner Wange spüren. Und dann diese unterschiedlichen Stimmen. Ich kann sie alle hören.

    Etliche Fragen dringen in mein Bewusstsein hinein.

    Etliche Menschen scheinen um mich herumzustehen.

    Etliche Personen versuchen mit mir zu kommunizieren.

    Ja, ja, ja, wer seid ihr?

    Ich will … rufen … schreien … kreischen ...

    Ja, ich bin es, Kurt … helft mir … Holt mich raus hier, raus aus diesem verfluchten, dunklen Loch …. Holt mich raus … Raus aus meinem scheiß gelähmten Körper … Aber meine Lippen bleiben verschlossen. Mein Mund ist wie verklebt.

    Aber da, aber da.

    Da ist eine Stimme, die ich erkenne. Ja, diese eine Stimme, die kenne ich.

    Nur wer ist das? Wer spricht da? Zu wem gehört diese vorlaute Stimme?

    Ich will fragen.

    Ich will antworten.

    Nur mein verflixter Mund lässt sich nicht öffnen. Ich könnte platzen vor Wut und vor Ärger. Dieser Scheiß-Mund, diese Kack-Lippen.

    Verklebt, verschlossen, versiegelt.

    Und dann dieser heiße Speichel, der weiter unaufhörlich in meine Kehle rinnt.

    Ich kriege keine Luft mehr. Ich kann nicht schlucken, nicht atmen, nicht die Lippen öffnen.

    Ich ersticke.

    Ersticken, ersticke.… Heiße Flüssigkeit fließt weiter und weiter in meinen Hals hinunter. Immer an den Gaumen, immer an den Mandeln entlang. Und runter, runter in den Schlund.

    Spucke, Spucke, Spucke.

    Der Speichel lässt sich nicht stoppen, er staut sich in meiner Speiseröhre.

    Die viele Spucke schnürt mir die Kehle zu.

    Keine Luft, kein Atmen, kein Leben.

    Hilfe, so helft mir doch.

    Ich kriege keine Luft, keine Luft mehr.

    Stoppt doch diese blöde Flüssigkeit, den Speichel, die Spucke.

    Ich ersticke! Verdammt, ich ersticke!

    Mein Inneres schreit nach Hilfe. Aber immer weiter dringen diese Echos, diese Worte, diese Fragen, in meine Ohren:

    „Junge, wach auf!"

    „Wieso kriegen wir den Bengel nicht wach?"

    „Mensch Kurt, mach doch kein Mist. Wach auf!"

    Ich … kann … nicht … auf…wachen … Kriege keine Luft.

    Mein Hals, meine Kehle, mein Rachenraum, meine Luftröhre, meine Speiseröhre, alles läuft voll.

    Voll, voll, voll.

    Mit heißem Sabber, Spucke, Speichel.

    Mir bleibt die Luft weg.

    Ich ersticke, ich ersticke, ich ersticke wirklich … Wieso seht ihr das denn nicht, ihr Idioten! Ich sterbe, ich krepiere, ich verrecke, ich kratze ab. Und das direkt vor euren Augen. Wie doof seid ihr bloß. Der Tod kommt, der Tod kommt und ihr steht da nur blöd herum! Ihr Fragt nur, ihr Fragt nur! Warum tut ihr nichts.

    GAR NICHTS!!!

    „Hallo Kurt, hörst du mich?"

    Jaaa!

    „Mensch Kurt, sag doch was!"

    Wie denn, wie!!!!

    „Was ist mit dir?"

    Ihr Blödmänner!!! Ich ersticke an meiner eigenen Spucke. Ich ertrinke in einer Flut von Speichel!

    Mein Rachen ist nun zum Bersten voll, voll mit übler, heißer Flüssigkeit.

    „Kurt, kriegst du genug Luft?"

    Ich kann nicht antworten, ich kann auch meinen blöden Kopf nicht schütteln.

    Nein, nein, nein!!!! Ich bekomme keine Luft.

    Der Speichel rinnt und rinnt weiter in meine Luftröhre. Ich kann nicht sprechen, kann nicht schlucken.

    Hiiilllffeeee!!!!! Ich will hier raus. Raus aus diesem irren Körper.

    Ich kann doch meinen Kopf nicht schütteln.

    Nicht schütteln!!!

    Aber vielleicht nicken?

    Ja, nicken müsste gehen. Ganz leicht nicken.

    Ja, nicken, nicken, nicken. Das geht.

    Nun stellt doch die Frage andersherum. Einfach die Frage anders stellen. Dann kann ich mit meinem Kopf nicken. Fragt doch einfach:

    „Kurt, bekommst du keine Luft?" Dann kann ich nicken, einfach nur nicken.

    Meine Kehle füllt sich rasend weiter und weiter. Mit heißem Speichel, mit zähem Schleim.

    So muss ertrinken sein. Keine Luft mehr kriegen, nur noch ertrinken und ersticken ... Ich ersaufe hier an meinem eigenen Sabber.

    Nun fragt doch endlich richtig.

    Ich klammere mich an mein Leben, an mein kurzes Leben. Ich bin doch erst vierzehn Jahre alt. Ich bin doch noch ein Kind. Ein junger Mensch. Verdammt noch mal, ein junger Mensch!

    Doch das Leben, mein Leben, mein junges Leben, will aus meiner sterblichen Hülle entweichen. Mein Leben, mein Dasein, meine Seele, will mich endgültig verlassen.

    Ich will leben, leben, leben! To help, to help.

    Ein kräftiger Sog zerrt an meiner sterblichen Hülle. Ein Rütteln und ein Schütteln. Ein kalter Wind kommt auf.

    Stopp.

    Plötzlich spüre ich etwas in meinem Gesicht. Meine geschlossenen Augen, meine juckende Nase und mein zitterndes Kinn. Und ich fühle meine Zunge. Ja, ich spüre meine Zunge. Da ist Leben, ja Leben. Meine Zunge kann ich spüren und bewegen. Mit meinem Lappen im Mund ist eine Bewegung möglich. Ja, meine Zunge lebt, sie ist nicht gelähmt.

    Jetzt aber los.

    Mit einer letzten Anstrengung bewege ich meine Zunge. Ich ziehe sie durch den zähen Schleim. Ich stoße sie durch die heiße Spucke. Mit allerletzter Kraft drücke ich den Schleim aus meinen Lippen. Heißer Sabber fließt mir am Kinn herunter.

    „Guckt mal da …"

    „Ja, da …"

    „Da kommt ja Flüssigkeit aus seinem Mund."

    „Ja, durch seine Lippen."

    „… so viel Spucke …"

    „Der Rachen ist wohl voll damit."

    „Ich glaube, unser Kurt bekommt keine Luft mehr."

    „Sieht so aus."

    „Sein Gesicht wird ja auch ganz blau."

    „Mensch, so viel Speichel …"

    „Da … ja … da …"

    Und dann dringt eine mir bekannte Stimme in mein Ohr:

    „Kurt, bekommst du keine Luft?"

    Endlich, endlich.

    Jetzt muss ich nicken. Nicken, nicken. Schnell nicken.

    Ich nicke hastig mit dem Kopf.

    Nicken, nicken, immer nur nicken.

    Ich nicke um mein Leben.

    Und dann nicke ich noch mal, noch mal und noch mal …

    Aber dann bleibt mir abrupt die Luft weg. Mein Brustkorb wölbt sich wie ein Fesselballon. Mein Schädel ist kurz vor dem Platzen. Meine Gedanken reißen, mein Gehirn wird weggepustet.

    Und dann und dann?

    Dann wird unter meinem Arsch ein Schleudersitz aktiviert.

    Zischhhhh.

    Aus!!!

    Aus und vorbei!

    Erstickt.

    Ertrunken an der eigenen Spucke.

    Ich schwebe mit Affenzahn in eine andere Zeitebene hinein.

    Ich rase in einem irren Tempo durch eine andere Dimension.

    Ich werde wieder in diesen fürchterlichen und düsteren Raum zurückkatapultiert.

    Wie gehabt.

    Schwarze Wände umschließen meinen Körper. Rabenschwarzer Nebel gleitet über mich hinweg. Der dunkle Raum ist eng. Der dunkle Raum ist eng und hoch. Der dunkle Raum ist hoch, sehr hoch.

    Feuchtigkeit liegt in der Luft. Ich höre ein leises und langsames Tropfen neben mir auf den Boden schlagen.

    Liege ich in einem Brunnen?

    Bin ich gefangen in einem Brunnen?

    Brunnen, Brunnen.

    Oder befinde ich mich in einem feuchten Keller?

    Oder in einem engen moderigen Kerker?

    Keller?

    Kerker?

    Brunnen?

    Ich weiß es nicht.

    Iiich weiiiß es niiicht!!!

    Die schwarzen Wände, die mich umgeben, sind erschreckend hoch.

    Schwarz, finster, dunkel, feucht.

    Aber da, aber da!

    Da ist doch ein schwaches Licht.

    Über mir, in unerreichbarer Höhe, nehme ich einen leichten Lichtstrahl gewahr.

    Da oben ist Licht.

    Wenn es auch nur etwas Licht ist.

    Aber es ist Licht.

    Hauptsache Licht.

    Ein schwacher Lichtschein dringt von oben her in diesen elendigen Schacht hinunter.

    Unheimlich.

    Mysteriös.

    Ich kneife meine beiden Augen ein wenig zusammen. Ich hoffe, dass ich die Ursache für diese diffuse Lichtquelle besser erkennen kann. Und ich erkenne etwas. Das schwache, aber angenehme Licht, dringt durch ein leicht geöffnetes Fenster.

    Ein Fenster mit einem goldenen Rahmen. Und in dem goldenen Fensterrahmen sind schwarze Scheiben eingesetzt.

    Das ist doch irre! So was habe ich noch nie gesehen.

    Aber so ist es. Durch das leicht geöffnete Fenster dringt ein schwacher Lichtschein in mein finsteres Verlies hinunter.

    Ein ganz schwaches Licht nur für mich. Und für dieses bisschen Licht bin ich schon dankbar. Das könnte meine Rettung sein. Da muss ich hin, da muss ich raus. Aus diesem Fenster muss ich fliehen. Das ist meine letzte Chance.

    Nur wie, wie, wie?

    Ich will mich auf meine Beine stellen. Ich will mich auf meine zwei verdammten Beine stellen. Aber meine Beine sind ja taub, meine Gliedmaßen sind total gelähmt.

    Ich bin gelähmt, gelähmt, gelähmt.

    Ich liege regungslos und platt auf meinem Rücken.

    Ich versuche mich auf die Seite zu wälzen …

    … ich versuche …

    Ich versuche mich nach links … Ich versuche mich nach rechts zu wälzen …, aber nichts passiert.

    Mein Scheiß-Körper lässt sich nicht bewegen.

    Zischhhh …….

    Plötzlich, wie bei einem Urknall, schießen feuerrote Flammen durch die Dunkelheit. Mein schwarzes Verlies leuchtet grellrot auf. Wie vom Blitz getroffen zucke ich zusammen. In meinen Augen brennt der Rauch. Und dann sehe ich etwas unter mir. In dieser rotfunkelnden Finsternis erkenne ich einen feuchten und nassen Untergrund, eine Art Fußboden. Er ist mit einem mystischen Mosaik gezeichnet. Das Mosaik besteht aus vielen verschiedenen Kreuzen. Und die Kreuze haben die unterschiedlichsten Grautöne. Tausende von kleinen und grauen Steinchen zeichnen ein bizarres Bild von einem heiligen Untergrund.

    Fantastisch.

    Die zahlreichen Steinchen sind durchtränkt mit einer glitzernden, schwarzen Flüssigkeit. Es schimmert leicht und zart vom Fußboden herauf. In den dunklen Ecken meines Verlieses schlagen gläserne Wellen leicht an die Wände. Und dann höre ich etwas platschen. Etwas platscht und spritzt. So als ob jemand mit bloßen Füßen durch das Wasser schreitet. Als ob jemand durch die seichten Pfützen watet.

    Patsch, patsch, patsch.

    Und jetzt spinne ich, ich spinne jetzt total.

    Was ich jetzt sehe, das kann es einfach nicht geben.

    Denn neben mir bricht ein Feuer aus.

    Feuer, Flammen, ein Inferno.

    Ich glaube, ich habe den Verstand verloren. Das ist der komplette Horror. Denn da, denn da …

    Ein barfüßiger Engel mit brennenden Flügeln taucht an meiner linken Seite auf. Ein brennender Engel in meinem Verlies. Ein göttliches Wesen mit einer makellosen, hellblauen Haut. Ein Engelswesen mit einem weißen, wallenden Gewand um den schlanken Körper geschlagen. Auf seinem Haupt sitzt eine goldene Krone mit einem zackigen Rand. Und der Rücken, der Rücken dieses Wesens brennt. Lodernde Flammen schlagen an den Flügeln entlang. Ich spüre, wie die Hitze meine Wange streift.

    Ehrfurchtsvoll schaue ich wie gebannt auf die brennende Gestalt. Der Feuerengel schleicht langsam an mir vorbei. Als ob es das Normalste von der Welt wäre. Es schleicht einfach so an mir vorbei. Mit bloßen Füßen platscht die Gestalt über den nassen Fußboden, über den nassen Untergrund aus einem Mosaik aus grauen Kreuzen.

    Ein brennender Engel an meiner Seite, das kann nichts Gutes bedeuten.

    Ich versuche in das Engelsgesicht zu schauen, aber es ist mir nicht möglich. Das Antlitz wird von einem düsteren Schatten verdeckt.

    Aber da ist noch was.

    Das ist jetzt aber der absolute Irrsinn.

    Das ist der Wahnsinn.

    Ein weiteres Wesen ist aufgetaucht. Neben dem weißen Engel, an meiner rechten Seite, hat sich links von mir eine zweite Kreatur dazugesellt. Und dieses bleiche Wesen sitzt an einem schwarzen Tisch.

    Woher kommt der schwarze Tisch?

    Herrgott, was soll das?

    Kurt, wach auf!!!

    Wach bloß auf!!!

    Das ist hier ja der blanke Horror.

    Diese bleiche Gestalt an meiner linken Seite sitzt an einem schwarz gedeckten Tisch. Und dann fällt es mir siedend ein. Diese bleiche Gestalt, das ist „der letzte Gast", das ist „mein letzter Gast".

    Mir wird schlecht.

    Mein Schutzengel brennt und der letzte Gast, der Tod hat sich zu uns gesellt. Er hat sich an einem schiefen und schwarzen Tisch gehockt und schaut mich dabei bitterböse an. Er hält einen riesigen, blutroten Schwanz in seiner rechten Hand und wedelt mir damit grimmig zu. Während er mit seiner rechten Hand an seinem Schwanz herumspielt, hebt er mit seiner linken Flosse ein Weinglas hoch. Damit prostet er mir schelmisch zu. Er kippt sich einen roten, dickflüssigen Brei in sein schiefes Maul. Nach dem letzten Schluck lacht er höhnisch auf. Ein fürchterliches Geschrei dringt durch die Luft und sein schrilles Lachen hallt durch den schwarzen Schacht.

    Er lacht und lacht und schreit. Er schmatzt und schlürft und bölkt. Sein unheimliches, kahlköpfiges und versteinertes Vollmondgesicht ist halbverdeckt. Ein hoch aufgestellter Mantelkragen versperrt mir die Sicht. Aber ich erkenne eine lange spitze Nase, die wie ein Pfeil aus seinem Gesicht springt. Eine große Beule ragt mittig aus seiner Stirn heraus. Aber der widerliche Mund ist aber am schlimmsten. Schmale graue Lippen und braune schräge Zähne machen dieses Gesicht zu einer ekelhaften Fratze. Dazu schießt im Sekundentakt eine dunkelrote und schlangenförmige Zunge schnell und unkontrolliert aus dem Maul heraus.

    Ich kann seinen stinkenden Atem förmlich riechen. Der Feuerschein vom brennenden Engel wirft einen langen Schatten auf diese schauerliche Szenerie. Aber im Moment habe ich meine Augen nur auf den bleichen Gast gerichtet. Ich schaue wie gebannt auf die merkwürdigen Klamotten dieser schauderhaften Kreatur. Der aufgestellte Kragen sitzt auf einem langen und schwarz schimmernden Ledermantel, der sich am unteren Ende an den hohen und derben Schaftstiefeln reibt. Aus den Ärmeln des riesigen Mantels schauen klauenartigen Finger hervor. Die krummen Gelenke sind mit ekelhaften Warzen übersät und am linken Mittelfinger steckt ein schwarzer Siegelring. Auf dem Siegelring klebt wie ein Kainsmal, ein klobiger Totenschädel.

    Nebel dringt durch den engen Schacht. Tumultartige Geräusche hämmern zwischen den Wänden hin und her. Es stinkt nach verschmorten Federn, nach Asche und Schwefel. Schrille Töne dringen durch den steilen Brunnenschacht und ein unwirkliches Echo hallt durch den ewig dunklen Raum.

    Ich bin starr vor Schrecken und vor Entsetzen. Sämtliche Haare stehen mir zu Berge. Eine fürchterliche Angst kriecht vom Kopf herunter bis zu meinen Zehen. Ein Zittern durchflutet meinen Körper. Meine Herzklappen rattern, meine Herzkammern flimmern. Feuerheiße Blitze jagen an meiner Wirbelsäule entlang. Metall schlägt auf Metall. Ein eisernes Schwert wird in meinen Schlund gestoßen. Dann spritzt mir die Spucke aus dem Hals. Mein Speichel gleicht einer Fontäne. Ich japse nach Luft.

    Dann spitzt sich neben mir die Lage zu. Die beiden unmenschlichen Gestalten gehen aufeinander los. Die ekelhafte, bleiche Kreatur springt plötzlich vom Tisch auf und stürzt sich auf den weißen Engel. Das Feuer der brennenden Flügel stirbt ab und es beginnt ein tödlicher Kampf.

    Tumultartige Szenen spielen sich vor meinen Augen ab. Aber leider kann ich durch das spärliche Licht nicht viel erkennen. Ich höre nur ein Rappeln und ein Poltern. Zwei raufende Gestalten rollen sich durch mein finsteres Verlies. Unmenschliche Schreie wirbeln durch den finsteren Schacht. Ein Hauen und ein Stechen dröhnt durch den Raum.

    Ich liege starr auf meinem Rücken. Meine weit aufgerissenen Augen suchen Halt in dieser unfassbaren Dunkelheit.

    Plötzlich jagt ein greller Blitz durch mein Verlies. Ein neues Feuer wird entfacht. Die Flammen sausen zur Decke empor. Die beiden unheimlichen Wesen werden durch eine unsichtbare Kraft in die Höhe katapultiert. Der bleiche Gast und der Engel mit den angeschmorten Flügeln schießen in einem Affenzahn an mir vorbei. Die beiden Kreaturen schießen wie ein Wirbelwind, mit schnellen und kreisenden Rotationsbewegungen, ganz brutal nach oben.

    Ein kräftiger Wind streift mein Gesicht und lässt mich arg erschaudern.

    Ein grässliches Knistern dringt durch die feuchten, pechschwarzen Wände und die stobenden Flammen werden schnell erstickt. Eine helle Spur aus weißem Qualm dringt durch den goldenen Fensterrahmen und hinterlässt eine Spur aus Panik.

    Mein Engel, mein Schutzengel, der Engel mit den brennenden Flügeln und den nassen, bloßen Füßen, ist verschwunden.

    Verschwunden, verschwunden, für immer verschwunden. Dahingeweht durch das schaurige und mysteriöse Fenster. Durch das Fenster, das sich so hoch über mir befindet.

    Eins steht nun fest. Der bleiche Gast, mein letzter Gast, bleibt Sieger. Der Gevatter Tod hat meinen Schutzengel vertrieben. Ich bin verloren, das ist nun klar. Ich bin für immer verloren.

    Und wieder herrscht diese absolute Finsternis.

    Doch nein, da oben steht das Fenster noch etwas auf.

    Ganz oben, ganz weit oben.

    Ja, da ist das Fenster. In fast zehn Meter Höhe ist noch ein schwaches Licht zu erkennen, das durch das leicht geöffnete Fenster scheint.

    Durch das Fenster mit den goldenen Rahmen.

    Durch den Fensterrahmen mit der schwarzen Scheibe.

    Uuuuuhuuu ...

    Hahaaarrrr … Der Wind heult auf und aus einem undurchdringlichen Nebel erklingt ein diabolisches Lachen. Ein Lachen wie ein kalter böser Schauer. Und dann kommt Sturm auf. Ein kräftiger Sturm. Ein starker Sog entsteht. Ein Wirbelwind braust durch den teuflischen Brunnen, durch das schreckliche Verlies. Und dann erschallt wieder dieses schauerliche Lachen. Es hallt wie ein Donner in meinen Ohren.

    Erst laut, dann leiser, dann immer leiser.

    Das schrille Gelächter entfernt sich immer weiter …

    … immer weiter …,

    … immer weiter nach oben …,

    … immer weiter … nach oben …, bis zu dieser goldenen Fensteröffnung hin.

    Und da erkenne ich ihn. Mein letzter Gast, der bleiche Gast. An dem Fensterrahmen, auf der Fensterbank, da klebt der Tod persönlich. Er lacht und lacht und lacht.

    Es ist der Satan persönlich. Mit brutaler Kraft stößt er das Fenster weiter auf und ein greller Lichtschein dringt durch mein Verlies. Ich kneife kurz meine Augen zu und blicke dann wieder zum Satan hinauf. Er hat sich seinen enormen blutroten Schwanz um den Hals gewickelt und ein höhnisches Grinsen liegt auf seiner ekelhaften Fratze. Der Tod, der Teufel, klettert ganz gemächlich durch den goldenen Rahmen hindurch.

    Er will durch das Fenster entfleuchen.

    Das Schwein von Satan will verschwinden, will sich verdrücken.

    Ja, ich sehe es genau. Er verschwindet. Erst verschwindet sein linkes Bein, dann das Rechte. Beide Beine sind durch das weit geöffnete Fenster verschwunden. Dann schlängelt sich auch noch sein schmächtiger Körper durch die schmale Fensteröffnung hindurch. Jetzt sind nur noch die Arme und sein Kopf zu sehen. Aber schon schiebt sich der linke Arme und der bleiche Schädel aus meinem Blickfeld.

    Raus, raus, raus. Hinaus aus dem Fenster.

    Der Satan ist nun fast gänzlich aus dem Fenster verschwunden. Ich starre weiter gebannt in die Höhe, auf das mysteriöse Fenster und auf das grelle Licht. Und wie zu erwarten, verschwindet nun auch der rechte Arm aus dem goldenen Fensterrahmen. Der rechte Arm, mit diesem ekelhaften, riesigen und roten Schwanz in der Hand.

    Wusch!!!

    Die Teufelsgestalt ist verschwunden, gänz aus dem Fenster verschwunden. Der Satan hat sich verdünnisiert. Was bleibt, ist der geöffnete Spalt im Fenster und das Licht, das sich zwischen den schwarzen Scheiben hält.

    Licht, Licht, Licht. Wenn ich wenigstens das Licht behalte. Etwas Licht, keine Dunkelheit.

    Bitte, bitte.

    Doch halt.

    Das schwarze Fensterglas erzittert.

    Da taucht der Teufel nochmals auf. Da ist er wieder, der Satan persönlich. Seine linke Hand zieht sich am Fensterrahmen empor und sein grauenhaftes Gesicht erscheint aufs Neue. Die bleiche, blutleere Fratze, die Satansfresse, schaut noch einmal durch das Fenster hindurch.

    Er starrt auf mich herab. Er glotzt mich frech von oben herab an und … Zack.

    Die Fratze vom Teufel ist verschwunden.

    Nur noch die linke bleiche Hand, mit ihren dürren Fingern und ihren langen spitzen Fingernägeln ist zu sehen. Die klauenartige Hand greift nun von außen an den goldenen Fensterrahmen, an den goldenen Fensterrahmen mit der schwarzen Scheibe. Die Satanshand hantiert an der Öffnung, die so unheimlich über mir schwebt. Die Todeshand zieht nun ganz langsam, ganz langsam, … die Fensterscheiben zu…. Zieht sie ….

    … langsam …,

    … ganz …,

    … ganz langsam …,

    … langsam…,

    … wie in Zeitlupe…,

    … langsam…,

    … wie in einer endlosen Zeitlupe…,

    … nur noch langsamer….

    … in Zeitlupe wird der Fensterrahmen …,

    … langsam …,

    … ganz langsam …,

    … von außen …,

    … langsam …,

    …ganz langsam……… geschlossen.

    Das helle Licht erstirbt. Es stirbt und stirbt immer mehr ab.

    „Halt, halt, halt!!!", möchte ich nur schreien.

    Doch die schwarzen Glasscheiben schließen, sie klappen …

    … sie klappen langsam …,

    … ganz langsam …,

    … weiter zu …,

    Nur noch ein winziger …,

    … ein ganz kleiner Spalt …

    … ein winzig kleiner Spalt an Licht …,

    … der wird weniger …,

    …. immer weniger …,

    … dringt immer weniger …

    … immer weniger zu mir herunter.

    Lasst mir mein Licht!

    Aber es wird dunkler und dunkler.

    Das Licht wird schwächer …,

    … und schwächer …

    Lasst mir mein Lebenslicht!

    Der helle Schein erstirbt.

    Mein Lebenslicht erlischt.

    Nein, nein, nein!

    ZACK!

    Das Fenster ist geschlossen. Die schwarzen Scheiben dicht.

    Dunkel, dunkel, dunkel.

    Es ist schlagartig dunkel.

    Das Licht ist gekappt, gänzlich gekappt.

    Meine Hand sehe ich vor meinen Augen nicht

    Erbarmungslos umgibt mich eine schreckliche Finsternis.

    Mehr geht nicht.

    Das schwärzeste Schwarz aller Zeiten.

    Alles schwarz!!!

    Schwarz, schwarz, schwarz.

    Für immer Schwarz.

    Der Teufel ist gegangen, Gevatter Tod kommt.

    Aus und vorbei.

    Ende und Schluss.

    Mein ganzer Körper wird urplötzlich leicht, leicht wie eine Feder. Ein kräftiger Windstoß rauscht über meinen Körper entlang. Eine eisige

    Kälte legt sich wie ein Mantel aus Schnee über meine bebende Brust.

    Dann werde ich in die Tiefe gedrückt. Der Boden gibt nach, der Boden reißt auf. Ein tiefes schwarzes Loch entsteht.

    Ich falle, ich falle, ich stürze wie blind in die Unendlichkeit hinein.

    Halt, halt, halt.

    Das Pochen in meinem Herzen reißt ab.

    Meine grauenhaften Gedanken erlöschen.

    Meine Seele wird vom Körper gekappt.

    Dann reißt der Film.

    Schluss.

    Aus.

    Ende.

    Tod, Tod, Tod.

    Das war es.

    4. Kapitel

    (05. April 1957)

    Das war es.

    Meine Geburt.

    Ich bin auf einem blauen Planeten gelandet und dieser hat den schlichten Name Erde.

    Ich, ein Bub, ein Bub unter vielen, bin heute geboren worden, bin geboren worden auf einem blauen Planeten mit dem Namen Erde.

    Ich bin ein neuer Bub, ein neuer Erdenbürger. Ich bin im Jahre anno 1957 in diese Welt herausgepresst, herausgedrückt und herausgezogen worden.

    Und heute ist Freitag, der 5. April 1957 und dieses Datum soll in den nächsten Jahren mein Geburtstag sein.

    Aber heute ist heute, eben war meine Geburt und nun liege ich im Arm einer ganz merkwürdigen Person. Dass diese Person nicht meine Mutter ist, das ist mir irgendwie klar. Aber warum diese fremde Person mit mir auf dem Arm über einen riesigen Flur wandert, das will sich mir nicht erschließen. Aber das ist mir im Moment nicht so wichtig, denn ich fühle mich recht wohl auf dem Arm dieser merkwürdigen Person. Sie wiegt mich sanft hin und her und ich lulle ihr meine Spucke auf den rechten Ärmel. Der Ärmel ist schwarz, so schwarz wie ihre ganze Kleidung. Das Gewand ist eine Art Kutte. Die Frau hat sich zu ihrer Verkleidung eine schwarze Haube auf den Kopf gesetzt. An dem Stirnansatz, direkt über ihren Augen, hat die Haube einen weißen, breiten Streifen und unter diesem weißen Streifen fallen graue, dünne Haare auf einen weißen, schmalen Kragen. Aus dem Mund dieser Person, und es ist eine alte Person, dringt moderiger Essensgeruch auf mich herab. Ihr blasses und runzeliges Gesicht schwebt über mir wie eine weiße Kugel. Dazu lachen mich gelbe Zähne von oben herab schief an. Ihre spindeldürren Finger umgreifen liebevoll meinen kleinen Körper und ich werde weiter durch einen großen Flur getragen. Ich fühle mich ganz wohl in diesen wiegenden Armen und schaue neugierig zu dieser Person hinauf. Alles ist gut, nur direkt über mir baumelt bedrohlich ein großes, goldenes Kreuz, das an einer goldenen Kette hängt. Diese Kette rankt sich wiederum um einen faltigen Schwanenhals, der sich unter dem Schädel dieser komischen, alten Frau befindet.

    Dieses große goldene Kreuz, das direkt über meinem kleinen Köpfchen schaukelt, macht mir Angst, entsetzliche Angst. Es baumelt so bedrohlich über meiner Stirn, dass ich Bedenken habe, es könnte mich erschlagen.

    Mir ist alles so fremd, so wundersam fremd.

    Aber das ist auch kein Wunder. Es ist ja mein erster Lebenstag. Der erste Lebenstag auf dieser Welt. Der erste Tag auf diesem Planeten mit dem schlichten Namen Erde.

    Schhh … schhh, schhh … schhh, das goldene Kruzifix pendelt weiter über mir hin und her. Ich liege im Arm dieser alten Frau, über mir schwebt ein goldenes Kreuz, unter mir höre ich laute schlurfende Schuhe und vor mir sehe ich einen weiten breiten Flur auf mich zukommen.

    Niemand außer mir und meiner alten Begleitung wandelt über diesen langen und hellen Gang.

    Links und rechts an den Wänden befinden sich zahlreiche Türen, aus dunklem Holz. Plötzlich geht neben mir eine Tür auf und ich höre Worte, Stimmen: „Guten Tag Schwester Berta. Was haben Sie da denn Schönes auf Ihrem Arm?"

    „Das ist der kleine Kastrup. Der ist eben erst, vor ein paar Stunden, entbunden worden."

    „Na denn seien Sie mal schön vorsichtig mit dem keinen Kerl."

    „Natürlich. Dann bis später."

    „Ja bis später."

    „Vielleicht auf ’nen Kaffee nachher?"

    „Denke schon." Dann höre ich, wie die Tür neben mir geschlossen wird.

    Und schon schleichen wir weiter über den Flur. Also die Alte nennt sich „Schwester Berta". Dann weiß ich nun wenigstens, wer mich hier durch die Gänge trägt. Dass sich die Gänge in einem Krankenhaus befinden, dass dieses Gebäude ein erzkatholisches Krankenhaus ist und dass Schwester Berta eine Ordensschwester ist, das erfahre ich erst sehr viel später in meinem Leben. Aber den ersten Tag in einem Leben in einem Krankenhaus zu verbringen, ist ja auch nichts Ungewöhnliches.

    Aber das weiß ich natürlich nicht. Oder noch nicht. Ich bin ja noch so klein.

    Aber momentan wandelt die Oberschwester Berta weiter mit mir auf dem Arm, über den langen, großen und hellen Flur. Der Flur hat weiße, hohe Wände und lange, braune Holzbalken schlängeln sich waagerecht an der Decke entlang. Ich glotze neugierig durch die Gegend und sabble weiter vor mich hin.

    Komischer Flur.

    Komische Frau.

    Komische Ordensschwester.

    Komisches Krankenhaus.

    Plötzlich stolpert ein schlaksiger Mann in den Flur hinein. Er fällt vor lauter Hast fast an die weiße Wand, die sich gegenüber der Eingangstür befindet. Diese komische Type soll mein Vater sein. Aber auch das soll ich erst viel später erfahren.

    Dieser schlaksig aussehende Mann scheint ganz aufgeregt zu sein. Er stolpert bereits weiter durch den Flur und atmet dabei laut vor sich hin. Es ist ein richtiges Schnaufen. Mit hastigen Schritten kommt er nun auf uns zu gerannt. Seine Arme pendeln in einem großen Bogen an seinen Hüften entlang. Schnelle Bewegungen gleiten über das Flurparkett und hinterlassen einen seltsamen Klang.

    „Was ist denn das für einer?", frage ich mich und kuschle mich dabei ängstlich an die Brust der Alten.

    Aber schon Sekunden später steht der eilige Mann kerzengerade vor uns.

    Er hechelt uns kurzatmig an und sagt dann knapp: „Tach auch."

    „Bitte?" Die Alte rollt verständnislos mit ihren Augen.

    „Ich bin der Erzeuger, der Erzeuger von diesem Kind."

    „Wie meinen …?"

    „Ich bin der Vater." Der schlanke, muskulöse Mann, der mit den schwarzen, zurückgekämmten Haaren, deutet mit seinem rechten Zeigefinger auf mein Gesicht und spitzt dabei die Lippen.

    Die Ordensschwester Berta fixiert recht skeptisch den gutaussehenden Mann und drückt mich dabei fester an ihren Busen. Mir wird mulmig in meiner Haut. Der Kerl zeigt weiter auf meinen Körper und lächelt müde auf mich herab.

    „Das ist meiner."

    „Bitte!"

    „Der …"

    „Moment mal. Wer sind sie denn überhaupt."

    „Ach Entschuldigung, wie blöd von mir. Mein Name ist Kastrup. Karl Kastrup."

    „Ach so. Sie sind Herr Kastrup."

    „Jawoll!"

    „Na, denn herzlichen Glückwunsch, Herr Kastrup. Woher wussten Sie denn überhaupt, dass das hier Ihr Sohn ist?"

    „Das sehe ich doch."

    „Tatsächlich?"

    „Sehen Sie denn nicht die Ähnlichkeit mit mir? Der fremde Kerl hüpft von einem Bein auf das andere und sagt: „Außerdem hat man mir eben am Empfang gesagt, dass ich Sie hier finde.

    „Na, wenn das so ist. Dann wollen Sie sicherlich den kleinen Kerl mal halten?"

    „Mmmmhhh."

    „Keine Angst."

    „Habe ich auch nicht. Ist ja nicht mein erster Bengel."

    „Ach ja?"

    Die Krankenschwester packt mich sanft unter den Rücken und hebt mich langsam hoch. Und schon werde ich in die Richtung des fremden Mannes weitergegeben. Ich bin in eine hellblaue und flauschige Decke eingewickelt und fühle mich wie auf einer schwebenden Wolke.

    „Und wie viele Kinder haben Sie schon?"

    „Das ist mein Zweiter."

    „Und wie alt ist Ihr erster Sohn?"

    „Der wird bald fünf."

    „Aha." Mit diesen Worten werde ich von der dunkel gekleideten Schwester an den völlig außer Atem geratenen Mann weitergereicht.

    Ich rümpfe meine Nase, als ich auf den Armen von diesem merkwürdigen Mann gerate. Dieser fremde Kerl stinkt mir förmlich und er riecht dabei sehr kräftig. Ein starker und süßlicher Schweißgeruch zieht in mein Näschen hinein. Auch Schwester Berta rümpft bedenklich ihren breiten Nasenflügel und verzieht dabei ihren schmalen Mund zu einem Strich.

    Als ob der Kerl es ahnt, dass er nicht gut riecht, entschuldigt er sich sofort bei uns: „Ich komme direkt von der Arbeit, direkt von der Werkbank. Ich habe den Anruf über die Geburt meines Sohnes erst vor einer guten Stunde bekommen. Habe sofort meine Arbeit unterbrochen und die Fabrik verlassen. Hab alles stehen und liegen gelassen. Hatte keine Zeit mehr zum Duschen. Bin gleich hierher gerannt.

    „Ist schon klar Herr Kastrup, ich verstehe Sie. Schwester Berta nickt verständnisvoll mit ihrem Kopf und schon liege ich auf einem fremden Arm von dem Kastrup. Der sondiert die Lage und meint: „Mann, was ist der kleine Kerl aber warm, der glüht ja fast. War wohl ’ne schwierige Geburt?

    Mein Erzeuger, mein Vater, der Herr Kastrup, hält mich ungeschickt in seinen Armen, ist stolz wie Oskar und grient sich einen, in seinen Dreitagebart. Die bleiche Ordensschwester, die mit ihrem schwarzen Gewand an dem Körper, wendet sich ab zur Tür. Dann bleibt sie aber abrupt stehen und erwidert: „Herr Kastrup, der Kleine ist so erhitzt, weil er gerade aus dem Wärmebettchen kommt."

    „Ach?"

    „Ja, Ihr Sohn ist doch ein Frühchen. Aber das müssen Sie doch selbst wissen. Er wurde doch drei Wochen zu früh geboren."

    „Ja, ich habe mich auch schon gewundert, dass das alles so schnell ging."

    Mein Vater schaut nun etwas dümmlich auf mich herab und stutzt erneut:

    „Der Junge ist aber auch recht dünn. Sein Bruder war bei der Geburt bestimmt doppelt so kräftig."

    „Der Kleine ist wie gesagt eine Frühgeburt, da ist man schon ein bisschen leichter. "

    „Aha."

    „Bleiben Sie doch bitte noch einen Moment hier, bevor Sie Ihre Frau aufsuchen, der Arzt möchte Sie noch gerne sprechen."

    „Warum?"

    „Eventuell ist Ihr Sohn nicht ganz gesund."

    „Wie! Was!"

    „Wie gesagt, Ihr Junge ist eine Frühgeburt. Da können schon mal ein paar Komplikationen auftreten."

    Der Mann, die fremde Person, mein vermeintlicher Vater, der mit dem blau karierten Hemd und der schwarzen Hose, der aussieht und riecht wie ein kanadischer Holzfäller nach getaner Arbeit, der reißt mich in die Höhe und schreit: „Was ist mit meinem Sohn?" Dabei rollt er wie wild mit seinen grünen Augen.

    „Ich weiß nicht, was Ihrem Sohn fehlt. Warten Sie doch bitte hier im Warteraum auf den behandelnden Arzt." Mit diesen Worten werden mein Vater und ich in ein benachbartes Zimmer geschoben. Ein recht karger Raum, wo sich mehrere Stühle und ein Tisch befinden.

    Mein Erzeuger, oder wie der sich auch nennt, hält mich krampfhaft fest und nuschelt sich etwas in seinen Dreitagebart.

    Die schwarze Nonne, meine Ordensschwester Berta, die mit ihren grauen Zotteln unter der schwarzen Haube, ist dann aber auch ganz schnell aus unserem Blickfeld verschwunden.

    Wisch und weg.

    „Bei uns in der Familie gibt es keine Kranken ...", versucht mein Vater noch einzuwenden, doch Schwester Berta hört uns nicht mehr. Mein Erzeuger lässt sich so ermattet auf einen Stuhl fallen, dass ich fasst aus seinen großen, kräftigen Händen rutsche.

    Das fängt ja alles gut an, denke ich mir, oder auch nicht.

    Ich kann mir aus den eben gesprochenen Worten keinen Reim machen.

    Ich bin ja noch zu klein.

    Ich bin ja noch zu blöd.

    Ich bin ja ein Neugeborener.

    Ich bin noch gar nicht fertig.

    Man hat mich ja eben erst vom Fruchtwasser meiner Mutter gereinigt.

    Ich bin ein ganz neuer Erdenbürger.

    Ich kapiere nichts.

    Der Ehemann meiner Mutter, dieser Holzfällertyp, diese Flitzpiepe von Kerl, der sitzt nun mit mir auf dem Arm, auf einem hölzernen, beigen Stuhl und wippt dabei mit seinen Knien rauf und runter. Auf seinen Oberschenkeln habe ich es mir mit meiner hellblauen Decke bequem gemacht. Die wippenden Bewegungen unter meinen Körper empfinde ich als angenehm. Ich döse deshalb kurz Zeit später ein und lulle dabei mit meiner Spucke die schwarze Stoffhose von meinem Vater voll.

    Schepper.

    Die Tür vom Wartebereich springt laut auf und mein Vater zuckt deswegen kurz zusammen. Ein großer, schlanker Mann mit mittelblondem, längerem Haar und in weißer Kleidung stürzt wie eine frische Windböe in das Wartezimmer hinein. Zu seinem Pech liegt ein kleiner, bunter, aus Gummi bestehender Spielzeugball auf dem Boden.

    Den kleinen Ball hat sicherlich so ein anderes blödes Balg hier vergessen.

    Der Bondschopf latscht mit seinem linken Fuß auf den kleinen Gummiball und der quiekt kurz auf. Sichtlich erstaunt über diesen Quiekton und das runde Hindernis, kommt der Mann ins Stolpern. Er rudert wie wild mit den Armen, denn seine Beine wollen sich verknoten.

    „Scheiß ... ,", stöhnt er kurz auf und seine hellen Locken fallen ihm ins Gesicht. Mit großer Mühe kann er sich noch abfangen, aber seine dunkle Brille landet auf dem Parkett. Mein Vater bückt sich sofort nach den Augengläsern und reicht sie dem blonden Mann zurück. Der sagt nur:

    „Danke."

    „Bitte." Mein Vater nickt kurz und bleibt direkt vor dem Arzt stehen.

    Der große Mann setzt sich seine Brille wieder auf, drückt das Gestell mit seinem linken Zeigefinger fest an seine Stirn und gibt danach meinem Vater die rechte Hand: „Gestatten, Doktor Wenzel und Sie sind sicherlich Herr Kastrup?"

    „Ja ähhhh."

    „Ich will es kurz machen, Herr Kastrup, ich muss denn auch gleich wieder in den OP zurück …"

    „Ja, mein Sohn …?"

    „Ja, Ihr …"

    „… was hat er …?"

    Ich höre den Worten der beiden Erwachsenen nicht zu. Ich höre nur ein verdächtiges Geräusch hinter mir. Dort klappern auf einmal die Fensterscheiben in der Wand. Der Raum, in dem wir uns befinden, verdunkelt sich schlagartig. Dunkle, fast pechschwarze Wolken schweben draußen vor dem Fenster vorbei. Dann höre ich, wie schwere Regentropfen gegen die Scheiben schlagen.

    Davon lässt sich aber der Arzt nicht beirren. Er nimmt nun Bezug auf Vaters Frage: „Leider haben wir auf den ersten Blick bei Ihrem Sohn eine Fehlstellung der Wirbelsäule festgestellt."

    „Das kann nicht sein. Bei uns in der Familie gibt es so was nicht …"

    „Ja, äääh …"

    „… bei uns ist jeder gesund..."

    „Das glaub ich Ihnen ja. .... "

    „… da ist keiner krank …"

    „... kann schon sein …"

    „Krank, wo gibt es denn so was?"

    „Leider doch, Herr Kastrup ..."

    „... das war schon immer so. Bei uns gibt es keinen Kranken in der Familie." Mein Vater ist ganz aus dem Häuschen und hat sich wieder in den alten Holzstuhl zurückfallen lassen. An den Fenstern trommelt nun ein heftiger Regenschauer. Die Tropfen jagen wie Ameisen an den Scheiben herab. Es prasselt laut und heftig. Ein starker böiger Wind heult draußen um die Krankenhausmauern herum.

    Mir wird angst und bange.

    „Herr Kastrup, nun mal ganz langsam. Der Doktor ist auf Schadensbegrenzung aus: „Das ist ja nur ein vorläufiges Ergebnis. Nach jeder Geburt in unserem Haus finden routinemäßig Untersuchungen an den Neugeborenen statt … und . .

    „Und?" Mein Vater guckt ganz verzweifelt auf den Arzt.

    „… das Ergebnis müssen wir in den nächsten Tagen noch mal genauer checken. Eine Röntgenaufnahme wird dann exakt Aufschluss geben."

    „Das kann nicht sein, mein Sohn ist nicht krank. Mein Sohn ist kein Krüppel."

    „Wer spricht denn hier von einem Krüppel."

    Der Wartebereich flammt plötzlich kurz und heftig auf. Ein heller Blitz jagt am Fenster vorbei und das Kruzifix in der Zimmerecke reflektiert ein unheimliches Licht in den Raum zurück.

    Ist das das Jüngste Gericht?

    Die Gesichtszüge meines Vaters werden zu einer Fratze.

    „Machen Sie sich man keine Gedanken, Herr Kastrup. Manches ergibt sich auch von selbst. Ihr Sohn ist ja schließlich eine Frühgeburt. Er ist doch drei Wochen zu früh auf die Welt gekommen."

    Rumms.

    Das Zimmer bebt.

    Ein heftiger Donner schallt durch den Raum. Meinem Vater stehen die Haare zu Berge: „Das kann doch alles nicht wahr sein, Herr Doktor?"

    „Ich fürchte doch."

    „Aber …"

    „In einem Monat schauen wir uns den kleinen Kerl noch einmal genauer an. Dann sehen wir weiter. Wie gesagt Herr Kastrup. Das kann alles auch ganz harmlos sein."

    „Ihr Wort in Gottes Gehörgang, Herr Doktor. Nun will ich aber meine Frau sehen. Weiß sie denn schon Bescheid?"

    „Wir haben Ihrer Frau gegenüber so etwas angedeutet. Aber wie gesagt, wir warten erst einmal ab."

    Mein Vater steht mit versteinerter Miene im Raum und schaukelt mich in seinen kräftigen und sehnigen Armen hin und her. Der Regen schlägt weiter an das Fensterglas. Der

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