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Natascha, weiße Nächte in St. Petersburg
Natascha, weiße Nächte in St. Petersburg
Natascha, weiße Nächte in St. Petersburg
eBook689 Seiten10 Stunden

Natascha, weiße Nächte in St. Petersburg

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Über dieses E-Book

Durch ungewöhnliche Ereignisse gelangt das junge, schöne Bauernmädchen Natascha an den Zarenhof. Die Großenkel von Katharina II. nehmen sich ihrer Erziehung an und das Mädchen wird dank ihres einzigartigen Charakters bald zu einem wichtigen Teil des Adelshofs. Anhand des Schicksals Nataschas schildert Susanne Scheibler die letzten Regierungsjahre von Zarin Katharina II. So lässt "Natascha, weiße Nächte in St. Petersburg" den Leser auf wundervolle und aufregende Weise in die Welt des Russlands im späten 18. Jahrhundert eintauchen...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum8. Feb. 2022
ISBN9788726961232
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    Buchvorschau

    Natascha, weiße Nächte in St. Petersburg - Susanne Scheibler

    Susanne Scheibler

    Natascha, weiße Nächte in St. Petersburg

    Saga

    Natascha, weiße Nächte in St. Petersburg

    Natascha, weiße Nächte in St. Petersburg

    Copyright © 2021 by Michael Klumb

    vertreten durch die AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

    Die Originalausgabe ist 1993 im Ullstein Verlag erschienen

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 1993, 2022 Susanne Scheibler und SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788726961232

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    www.sagaegmont.com

    Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

    1

    Die Soldaten kamen in der ersten Morgendämmerung. Akulina Iwanowna hörte sie, wie sie vom Don-Ufer heraufritten. Die Pferde schnaubten; sie mußten sich mühsam durch den Schnee kämpfen, sanken immer wieder ein und wurden von den Kommandorufen ihrer Reiter weitergetrieben. Akulina schälte sich aus ihren Decken und dem Stroh und rüttelte Sergej am Arm. »Hörst du das? Das sind Reiter, mindestens zwei Dutzend. Was wollen die denn hier, Serjoschenka?«

    Es war finster in der Stube, denn das einzige Fenster war mit Brettern vernagelt, zwischen die Sergej Stroh und alte Lumpen gestopft hatte, um die winterliche Kälte abzuhalten.

    Sergej Fomitsch Gorodin richtete sich auf, rieb sich die Augen und gähnte. »Was weiß ich? Schlaf weiter, Akulina. Sie ziehen hier nur durch, vielleicht nach Priluka, vielleicht nach Woronesch oder sonstwohin. Was kümmern uns Soldaten? Es sind viele in den letzten Jahren durch die Kosakensteppe gekommen, nach Süden zum Fürsten Potemkin – oder nach Norden, nach Moskau und St. Petersburg. Hier bei uns in Prisonnaja haben sie höchstens haltgemacht, um die Pferdchen zu tränken oder Schnaps, Brot und Dörrfleisch zu holen.« Er ließ sich zurückfallen und zog Akulina unter seine Decke. »Mach die Augen zu, Täubchen, eine Weile können wir noch liegenbleiben.« Seine Hand glitt über ihren gewölbten Leib. »Schläft es auch, unser Kindchen?«

    Sie lachte leise. »Noch – ja.« Akulina war hochschwanger. Ihr Kind – es war das dritte – sollte noch diesen Monat geboren werden.

    Neben ihr auf dem großen Lehmofen, auf dem die Familie in den kalten Wintermonaten schlief, lagen die beiden anderen, die achtjährige Natalja und der zweijährige Pjotr. Sie hatten sich ganz ins Stroh gewühlt, nur Nataljas schwarzer Haarschopf lugte hervor. Akulina fühlte ihn, als sie neben sich tastete. Was für festes Haar sie hat, meine Natascha, dachte sie. Wie ein schwarzes Kosakenpferdchen, das jeden Tag gestriegelt wird, und genauso dicht und glänzend.

    Ach ja, Natascha war jetzt schon eine kleine Schönheit, und manchmal wunderte Akulina sich, daß sie und Sergej solch ein Kind hatten, so feingliedrig und mit einem Gesicht wie ein Engel. Das einzige, was nicht zu diesem Engelsgesicht paßte, waren Nataschas Augen. Es lag nicht nur an der Farbe – einem seltsam hellen Goldbraun mit kleinen dunklen Pünktchen darin –, es lag viel mehr noch an ihrem Ausdruck, von dem Vater Timofej, der Pope von Prisonnaja, einmal behauptet hatte, daß ein Feuer darin brenne. »Man weiß nur noch nicht, ob es ein heiliges oder unheiliges Feuer ist« hatte er gesagt. »Freilich ist so ein Kind immer ein Gottesgeschenk, meine Lieben, aber es gibt Geschenke, die leicht zu pflegen sind, und andere, mit denen man seine Not hat. Es ist viel Leben in eurer Natascha, so klein sie noch ist.«

    Akulina lächelte. Er war ein Schwarzseher, der Vater Timofej. Bei ihm mußten alle Schäfchen weiß und sanft sein und immer schön in der Herde trotten. Scherte eines aus, und war’s auch nur aus purem Übermut, so schloß er gleich daraus, daß es hinter der nächsten Wegbiegung eine Verabredung mit dem Teufel hatte. Freilich war Leben in ihrer Natascha und viel starker eigener Wille.

    Trotzdem hatte sie Akulina und Sergej noch keinen Tag ernstlich Kummer bereitet. Ihre Nataschenka gehörte eben nicht zu den Sanften, dazu war sie zu ungestüm, im Lachen wie im Zorn. Aber es war viel Zärtlichkeit in ihr und eine Wärme, die sie freigiebig an jeden verschenkte, den sie liebte.

    Die Soldaten waren an Sergejs und Akulinas Häuschen vorbeigeritten. Es lag am Anfang des Dorfes, aus Steinen und Lehm gebaut, mit einem Garten darum, in dem Akulina Gemüse und Blumen zog, und einem Stall, in dem zwei Ziegen, ein Dutzend Schafe und zwei Pferdchen standen. Ein paar Äcker gehörten den Gorodins. Darauf pflanzte Sergej Rüben, Hafer und Hirse, Melonen, Gurken, Kohl und Sonnenblumen, und da er ein fleißiger Mann war, ging er in den Wintermonaten zusätzlich auf die Jagd und in der warmen Jahreszeit auf Fischfang. Die Fälle der erlegten Biber, Marder und Hasen – manchmal waren auch ein Bär oder ein Wolf dabei – verkaufte Sergej in Woronesch, und das brachte wiederum ein paar Rubel, um das zu kaufen, was man sonst noch zum Leben brauchte. Sie litten keine Not, die Gorodins, und sie waren freie Kosaken, keine Leibeigenen, worauf sie sehr stolz waren.

    Doch an diesem Tag, es war der 12. Februar des Jahres 1787, wurde ihr friedliches Dasein jäh zerstört.

    Sie ritten nicht weiter, die Soldaten, die da in aller Frühe in die Kosaken-Staniza Prisonnaja gekommen waren, sondern versammelten sich auf dem Platz vor dem Badehaus und der kleinen Kirche und holten zunächst Vater Timofej, den Popen, und anschließend den Dorfältesten Lukan Owtschenkow aus dem Bett. Ihr Anführer, ein junger Leutnant, der in einen dicken, mit Wolfsfell gefütterten Tschekmen gehüllt war, gab Befehl, alle Frauen und Männer von Prisonnaja, sofern nicht älter als fünfunddreißig Jahre, und die Kinder von sechs Jahren an aufwärts auf dem Dorfplatz zusammenzurufen. »Aber beeilt euch, wir müssen weiter und haben keine Lust, uns in eurer verwanzten Staniza den Hintern abzufrieren!«

    Lukan Owtschenkow schickte sogleich seine vier Söhne los, um die Einwohner von Prisonnaja aus dem Schlaf zu scheuchen.

    Prisonnaja war nur eine kleine Kosaken-Staniza, bestehend aus einem Dutzend Familien, zu denen jedoch außer den alten Leuten noch eine große Anzahl von Kindern gehörte.

    Der Kirchplatz füllte sich sehr rasch. Auch die Alten schlurften mit, um zu sehen, was es gäbe, und die kleineren Kinder hängten sich an die Röcke ihrer Mütter und schrien aus Leibeskräften, wenn sie zu Hause bleiben sollten.

    Inzwischen war es hell geworden, und der Leutnant, er hieß Ilja Grigorjewitsch Baschin, trat in die Tür des Popenhauses. »Treibt die Alten und die Kleinkinder an die Seite!« rief er den Soldaten zu, die sich sofort daranmachten, den Befehl auszuführen. »Und dann zählt die ab, die wir mitnehmen.«

    Mitnehmen? Was hieß das? Plötzlich wurde es still auf dem Dorfplatz, und die Leute starrten einander mit betroffenen Gesichtern an. Akulina, die ihren Sohn Pjotr auf dem Arm trug, umklammerte Sergejs Hand. Es war alles so rasch gegangen. Sie hatten sich gar nicht richtig anziehen können, sondern waren nur in die Stiefel und in die warmen Mäntel geschlüpft, und Akulina hatte Natascha im Hinausgehen noch rasch ein wollenes Tuch um Kopf und Schultern geschlungen. Doch der eisige Wind, der vom Don herüberfuhr, kniff in ihre Wangen und ließ die Augen tränen.

    »Los«, sagte einer der Soldaten und stieß Sergej in den Rücken. »Geh da rüber zu den anderen. Und du auch, Kleine.«

    Damit meinte er Natascha, die den fremden Mann mit wütenden Augen anfunkelte. »Das ist mein Papuschka. Er heißt Sergej Fomitsch Gorodin, und wenn du ihn noch einmal stößt, dann trete ich dich in den Bauch.« – »Oh, ich bitte tausendmal um Verzeihung, Euer Gnaden!« Der Soldat lachte. Er war ein untersetzter Kerl mit einem roten Gesicht.

    »Wenn Euer Gnaden nun die Güte hätten, sich in Bewegung zu setzen.« Er schob Natascha zu der Gruppe der jüngeren Leute mit ihren Kindern, die seine Kameraden bereits auf der rechten Seite des Platzes zusammengetrieben hatten. Die Alten und Kleinkinder wurden nach links geschickt.

    »Mütterchen!« rief Natascha mit ihrer hellen Stimme. »Komm auch her!«

    Aber der rotgesichtige Soldat hatte Akulina bereits zu den Alten hinübergewinkt. »Du kriegst ein Kind, ja? Dann hast du Schwein und kannst hierbleiben. Schwangere nehmen wir nicht. Los, los, mach schon!«

    Akulina brach in Tränen aus. »Was habt ihr vor? Wohin bringt ihr sie? Um Christi Barmherzigkeit willen, ihr könnt doch nicht meinen Mann und mein Kind . . .«

    »Halt’s Maul«, sagte der Soldat grob. »Du siehst doch, daß wir’s können. Und hör auf zu flennen. In ein paar Monaten hast du sie wieder, wenn es Seiner Gnaden, Fürst Potemkin, so gefällt. Und wenn nicht . . .« Er grinste und zeigte seine schadhaften Zähne. »Du hast einen strammen Arsch, du kriegst noch einen anderen Mann, der dir neue Kinder macht.«

    Serafina Owtschenkowa, die füllige Frau des Starosten, drängte sich nach vorne. Sie war schon über fünfzig, genau wie ihr Mann. Aber ihre Söhne und Schwiegertöchter mit den Enkeln waren bei denen, die man fortbringen wollte. »Wir sind freie Kosaken!« schrie sie. »Niemand hat das Recht, uns gegen unseren Willen irgendwohin zu verschleppen. Mitja, Aljoschka, Lonja, Frol, was steht ihr da wie Ochsen, die man zum Schlachten treibt! Seid ihr meine Söhne oder nicht? Dann zeigt es den verfluchten Grünröcken. Geht ihnen an die Gurgel, wenn sie euch Gewalt antun.«

    »Heilige Mutter von Kasan!« Lukan Owtschenkow riß sein Weib zurück. »Sei still, Serafina. Die Starschina in Tscherkassk hat zugestimmt, daß die Unseren mit ihnen ziehen.«

    »Weshalb? Ist denn Krieg? Und wozu brauchen sie da Frauen und Kinder?«

    »Sie sollen nach Süden gebracht werden, wenn Matuschka Jekaterina, unsere allergnädigste Zarin, im Frühjahr mit ihrem Hofstaat zur Krim reist. Es geschieht ihnen nichts Böses. Sie sollen nur am Ufer stehen und unserer Kaiserin zujubeln, wenn sie mit ihrer Schiffsflotte auf dem Dnjepr vorüberfährt. So will es Fürst Potemkin. Viele Hunderte werden dorthin gebracht, Leibeigene von den Staatsgütern, Bauern und nun auch Kosaken. Man bringt sie zuerst nach Woronesch, wo sich alle sammeln, auch die von den anderen Stanizen, und dann geht es weiter zum Dnjepr. Bedenke doch, Serafina, sie werden die Zarin sehen und, wenn sie an Land geht, vielleicht sogar mit ihr sprechen. Das ist eine Auszeichnung, und deshalb hat auch der Große Kosakenrat in Tscherkassk entschieden, daß sie die Unseren dazunehmen dürfen.«

    »Ach!« Serafina musterte ihren Mann aus zusammengekniffenen Augen. »Und woher weißt du das, Rotznase?« So nannte sie Lukan immer, wenn sie wütend auf ihn war, weil er zwei Jahre jünger war als sie.

    »Weil der Leutnant es mir gesagt hat. Und er hat mir auch ein Schreiben der Starschina gezeigt, in dem alles schwarz auf weiß steht.«

    »So! Ein Schreiben!« Serafina stemmte die Fäuste in die Hüften. »Und hast du’s vielleicht lesen können, Rotznase? Dann wäre ein Wunder geschehen, und Vater Timofej müßte das Große Halleluja anstimmen. Lukan Awdejewitsch Owtschenkow kann über Nacht lesen! Wer weiß, was wirklich in dem Fetzen steht!« Sie wandte sich an die Umstehenden. »Hört auf mich! Laßt euch nicht einwickeln von dem geschniegelten Herrchen dort auf der Treppe, das eure Söhne und Töchter und Enkel forttreiben will wie eine Viehherde. Jagt sie zum Teufel, die Soldaten!«

    »Ja, schickt sie in die Hölle!« schrie German Tolkin, der Schmied, den es ärgerte, daß er zu den Alten geschickt worden war, obwohl er gerade erst seinen fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Er schüttelte die Fäuste. »Wir sind freie Kosaken und lassen uns nicht verschachern, auch nicht vom Großen Rat in Tscherkassk.«

    »Wahr gesprochen, German!« riefen ein paar andere. Und unter denen, die an den Dnjepr gebracht werden sollten, entstand Unruhe. Mit den Ellbogen drängten sich die Männer durch die Soldaten, um eine Gasse für die Frauen und Kinder zu bilden. »Macht, daß ihr fortkommt«, rief Mitja Owtschenkow ihnen zu. »Lauft in die Steppe fort oder in den Wald. Wenn wir mit denen hier fertig sind, holen wir euch wieder heim.«

    Ein paar Frauen rannten tatsächlich davon, die Kinder im Schlepptau. Doch auf einen Befehl von Leutnant Baschin hin wurden sie von einem halben Dutzend Soldaten verfolgt. Die Soldaten griffen sich zuerst die Kinder, die zwar schrien, kratzten und traten, aber mit ihren schwachen Kräften nicht viel ausrichten konnten. Als wären es Stoffbündelchen, warfen sich die Männer die Kleinen über die Schulter und scheuchten die anderen mit Fußtritten und Faustschlägen auf den Dorfplatz zurück. Als die Frauen das sahen, machten sie kehrt und stürzten sich mit erhobenen Fäusten auf die Soldaten.

    »Laß meinen Wanja los, du Ausgeburt!« schrie Polina, die Frau von Ossip Bagjalin, und versuchte, einem Schnauzbärtigen ihren Sohn zu entreißen. Njura Ripoljewna, die mit dem Schafzüchter Anissim verheiratet war, zerrte an den Beinen eines anderen, der ihre Tochter Aglaja fortschleppen wollte.

    »Verdammtes Weibervolk!« Die übrigen Soldaten ließen die Kinder einfach in den Schnee fallen, als sich der Rest der Frauen auf sie warf und nach ihnen schlug. »Habt ihr den Verstand verloren? Es geschieht euch doch nichts. Aufhören, ihr dämlichen Kosakenkühe!«

    Ihre Stimmen wurden von dem wütenden Geschrei der Männer auf dem Dorfplatz übertönt. Anissim Ripoljew, der Schafzüchter, ein riesenhafter Kerl, war der erste, der die Kette der Soldaten auf dem Dorfplatz durchbrach. Mit seinen Armen fegte er zwei von ihnen beiseite, um seiner Frau zu Hilfe zu kommen. Drei, vier andere folgten, während die übrigen in ein Handgemenge mit den Soldaten verwickelt wurden.

    »Verschwindet aus unserer Staniza!« rief Fedja Myschkin, während Sergej Gorodin seine Natascha der siebzehnjährigen Nachbarstochter in die Arme drückte. »Paß auf sie auf, Anna!« rief er, bevor er Lonja Owtschenkow zu Hilfe kam, der sich mit zwei Soldaten herumschlug.

    »Schlagt sie tot, die Hunde!« schrie Ossip Bagjalin. »Versenkt ihre Kadaver in einem Eisloch im Don.«

    Hinter sich hörte Sergej plötzlich einen langgezogenen Entsetzensschrei. Als er den Kopf wandte, sah er, daß Leutnant Baschin die Stufen vom Popenhaus heruntergerannt war und sich mit seinem Säbel den Weg durch die Kämpfenden gebahnt hatte. Der Leutnant hatte Natascha der siebzehnjährigen Anna entrissen und stand nun, das schreiende Mädchen wie einen Schild vor die Brust haltend, wieder auf der Treppe. Dort richtete er seine Pistole auf Nataschas Kopf. »Aufhören!« brüllte er. »Sofort gebt ihr Ruhe, verdammte Kosakenbrut, oder dieses Mädchen hier ist die erste, der ich den Schädel durchpuste.«

    Sergej ließ den Säbel fallen, den er gerade einem Soldaten entrissen hatte. »Natascha!« wollte er rufen, aber nur ein Krächzen kam über seine Lippen. Es war schlagartig still geworden auf dem Platz. Alles starrte zu Leutnant Baschin und Natascha hin. Dann stieß Akulina einige abgehackte Klagelaute aus.

    »Euer Gnaden! Bei der Liebe der heiligen Schmerzensmutter, laßt mein Kind los! Erschießt mich, wenn ihr wollt, aber gebt meine Nataschenka her.« Sie wollte zu Baschin stürzen, um sich ihm zu Füßen zu werfen, doch zwei Soldaten rissen sie zurück. Und dieses Mal kam ihr keiner mehr zu Hilfe.

    Leutnant Baschin stieß den Atem aus. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Popen, der die Ereignisse stumm vor Entsetzen verfolgt hatte. Vater Timofej hielt sein großes goldenes Kreuz umklammert, als hoffe er, daß ihm von dort Hilfe käme. »Er kann lesen, euer Pope! Komm her, Alter, lies diesen verdammten Raufbolden vor, was in dem Schreiben eurer Starschina steht.«

    Es war tatsächlich so, wie Owtschenkow es zuvor gesagt hatte. Der Große Rat der Kosaken hatte zugestimmt, daß aus allen Stanizen am Don Männer, Frauen und Kinder zum Dnjepr gebracht werden durften, um dort der Zarin Katharina zuzujubeln. Vater Timofej las es mit zitternder, aber lauter Stimme vor.

    »Hört ihr’s nun?« rief Owtschenkow. »Hört ihr’s? Man hat mich nicht belogen. Der Herr Leutnant kommt im Auftrag der Starschina und seiner Exzellenz, des Fürsten Potemkin. Ich habe gleich gewußt, daß man dem Herrchen trauen kann.«

    »Halt’s Maul, du Schlappschwanz«, sagte Serafina, schob ihn zur Seite und marschierte auf den Leutnant zu. »Mein Mann ist ein Krüppel, Gott sei’s geklagt, Euer Gnaden. Er ist ohne Rückgrat auf die Welt gekommen, ein armer Mensch, und wieso gerade er Starost von Prisonnaja geworden ist, ist eines der unergründlichsten Geheimnisse Gottes. Aber da Gott keinen Fehler macht oder zumindest die gemachten wieder in Ordnung bringt, hat Er mich dem armen Lukan zur Seite gegeben. Deshalb sprecht Ihr besser mit mir, Herr Leutnant, wenn Ihr wollt, daß unsere Leute friedlich mit Euch ziehen. Und nehmt um Himmels willen Eure Pistole von dem Kopf der Kleinen. Wie leicht kann solch ein Ding losgehen, ohne daß man’s will.«

    Leutnant Baschin zögerte, tat dann aber doch, was die Owtschenkowa verlangte. Aber er hielt Natascha weiterhin fest. »Was haben wir noch zu reden, Frauenzimmer? Ihr habt alle gehört, worum es geht, und ihr könnt froh sein, wenn ich euren unverschämten Aufruhr nicht bestrafe.«

    Als Baschin die Pistole senkte, lief ein Zittern durch Nataschas Körper. Aber noch immer kam kein Laut über ihre Lippen. Sie wußte, daß es keine Gegenwehr gab, daß dieser Mann in der grünen Uniform sie, ihren Vater und die anderen mitnehmen würde, und das schnürte ihr die Kehle zu.

    Bis zu dieser Stunde hatte Natascha geglaubt, daß Sergej, ihr Väterchen, alles konnte, was er wollte. Er war stark und klug, und sie konnte ihm tausend Fragen stellen – er wußte immer eine Antwort. Er ritt die jungen Pferde zu, die sich wie toll gebärdeten, wenn sie zum ersten Mal einen Reiter auf dem Rücken spürten. Er hatte ein scharfes Auge und eine sichere Hand und traf den Vogel im Flug. Im letzten Sommer hatte er sogar einen Bären mit dem Messer erlegt. Als Pjotr zur Welt gekommen war, hatte Papuschka die Wiege aus einem Baumstamm geschnitzt und bunt bemalt, er sorgte dafür, daß sie alle satt zu essen und im Winter genug Feuerholz hatten. Es war eine festgefügte, sichere Welt, in der Natascha bislang gelebt hatte und in der sie sich beschützt wußte, vor allem beschützt von Papuschka, der in ihren Augen der beste und tüchtigste Mensch im ganzen Donkosaken-Gebiet – ach was, im ganzen heiligen Rußland war.

    Und nun stand er hier auf dem Dorfplatz von Prisonnaja und war genauso wehrlos wie sie. Ein Leutnant mit einer Pistole, zwei Dutzend Soldaten und einem Fetzen Papier hatte ihn bezwungen.

    Leutnant Baschin nahm Natascha vor sich auf sein Pferd, als sie aus Prisonnaja fortritten. Seine Soldaten hatten ebenfalls Frauen oder Kinder vor sich in die Sättel gesetzt. Die Männer liefen nebenher. Sie ritten langsam, damit alle Schritt halten konnten. Indessen hatte es zu schneien begonnen. Große dicke Flocken erschwerten ihnen die Sicht.

    Die Zurückbleibenden rannten noch eine Weile neben ihren Männern, Frauen und Kindern her. »Gott schütze euch!« riefen sie. »Kommt wieder! Wir werden jeden Tag darum beten. Kommt bald wieder!«

    Einige waren noch einmal nach Hause gestürzt, um ein paar Rubel, eine Pelzmütze, warme Stiefel und Lebensmittel zu holen, alles, was sie in der Eile zusammenraffen konnten, um es ihren Angehörigen mitzugeben. Auch Akulina hatte das getan. Sie schleppte einen großen Korb mit Dörrfleisch, Fladenbrot, Bohnen und einem Klumpen Fett herbei, den sie Sergej in die Hand drückte, dazu noch den Beutel mit all ihren gesparten Rubeln, den sie oben auf dem Ofen unter dem Stroh versteckt hatte. Sie warf sich ihrem Mann an den Hals und küßte sein Gesicht. Dann rannte sie nach vorn an die Spitze des Zuges, wo Leutnant Baschin mit Natascha ritt. »Paßt auf meine Nataschenka auf, Euer Gnaden. Wenn ihr nur ein Haar gekrümmt wird, will ich Euch alle Tage meines Lebens verfluchen. Wenn sie aber zurückkommt, werde ich jeden Morgen ein Gebet für Euch sprechen.«

    »Aus dem Weg!« befahl Baschin. Dieses Abschiednehmen riß an seinen Nerven. Er spornte seine braune Stute zu schnellerer Gangart an. Akulina blieb zurück. Als Natascha den Kopf wandte, sah sie ihre Mutter noch für ein paar Augenblicke inSchnee stehen, ehe sie von den wirbelnden Flocken verhullt wurde.

    »Matuschka!« schrie das Kind. »Matuschka!«

    Und Leutnant Baschin sagte grob: »Halt’s Maul!«

    Zwei Tage später setzten bei Akulina Iwanowna die Wehen ein. Es wurde eine harte, lange Geburt, und Serafina Owtschenkowa, die zusammen mit ihrer Schwester Ewtimja der Gebärenden half, sagte hinterher: »Bei allen Heiligen, ich habe gedacht, sie steht es nicht durch. Zweimal ist die Sonne auf- und wieder untergegangen, ehe das Kindchen seinen ersten Schrei tat. Dabei ist mir mehr als einmal der Gedanke gekommen, daß man die verfluchten Kerle kastrieren sollte, bevor sie solch ein Leiden über ihre Frauen bringen können.«

    Ewtimja, die sehr fromm war, hatte hastig ein Kreuz geschlagen. »Versündige dich nicht, Schwester. Es liegt in der Absicht Gottes, daß der Mensch sich vermehrt. Doch da dies gleichzeitig der Fleischeslust entspringt, muß man es durch Schmerzen büßen.«

    »Ach ja?« Serafina hatte verächtlich auf den Boden gespuckt. »Dann zeig mir doch mal einen Mann, der während einer Geburt vor Schmerzen fast krepiert ist.« Darauf freilich hatte Ewtimja, die Fromme, auch keine Antwort gewußt.

    Das Kind, das Akulina geboren hatte, war ein kräftiges Mädchen. »Es soll Olga heißen«, bestimmte sie. »So haben Sergej und ich es besprochen.« Dann begann sie zu weinen. »Ach, meine arme kleine Oljuschka, ob du deinen Vater jemals sehen wirst?«

    Sie weinte oft um Sergej und Natascha, und Serafina sagte: »Du mußt aufhören damit, Täubchen. Sonst wirst du krank, die Milch versiegt dir, und du kannst deine Oljuschka nicht stillen.«

    Doch Kummer und Angst zerrissen Akulina das Herz, und am Tag nach Olgas Geburt bekam sie Fieber, das bis zum Abend dermaßen stieg, daß sie gar nicht mehr recht bei Verstand war. So begriff sie auch nicht, als Serafina ihr sagte: »Es ist ein Bote aus Woronesch gekommen. Alle aus Prisonnaja und den benachbarten Stanizen sind wohlbehalten dort angelangt. Es heißt, daß sie von dort aus mit Pferdeschlitten weiterfahren und daß es am Dnjepr eine große Zahl unbesiedelter Dörfer gibt, wo sie so tun sollen, als wohnten sie dort.« Serafina schüttelte den Kopf. »Verrückt, so was! Dörfer mit schönen Häusern und Gärtchen davor hat Fürst Potemkin errichten lassen, und keiner wollte bisher darin leben.«

    Akulina warf sich unruhig auf ihrem Lager hin und her. Ihre Haut war heiß und ihr Gesicht gerötet. »Sergej«, murmelte sie. Und dann: »Nataschenka . . .«

    Den zweijährigen Pjotr hatte Serafina schon zu sich nach Hause geholt, als Akulina in den Wehen lag, damit er vernünftig versorgt wurde. Ihre jüngste Schwiegertochter Lisaweta kümmerte sich um ihn; sie war gleichfalls schwanger, deshalb hatte Leutnant Baschin sie nicht mitgenommen. Sie halfen sich immer gegenseitig in Prisonnaja, wenn es nötig war; das war eine Selbstverständlichkeit.

    So betreuten Serafina und Ewtimja auch abwechselnd das kleine Mädchen, das Akulina geboren hatte, denn sie selbst war dazu nicht imstande. Der Kummer um Sergej und Natascha, die Angst um deren ungewisses Schicksal und die vielen Tränen, die sie darüber vergoß, bewirkten, daß das Fieber nicht weichen wollte. Auch versiegte ihre Milch, so daß sie das Neugeborene nicht einmal stillen konnte, doch zum Glück hatte Dunja, die Frau von Grigorij Petschew, dem Tischler, vor vier Tagen einen Sohn bekommen und so viel Milch, daß sie drei Kinder hätte ernähren können. Dunja kam mehrmals am Tage in das Haus der Gorodins, um die kleine Olga an ihre stramme Brust zu legen, während Akulina in der Schlafkammer vor sich hin dämmerte.

    Das Fieber stieg alle Abende, und was Serafina auch dagegen versuchte, Wadenwickel, fiebersenkende Kräutertees, es half nichts. Oft phantasierte Akulina. Dann redete sie mit Sergej und Natascha – oder auch mit ihrer Mutter, die in Woronesch eine Herberge betrieb.

    Als Serafina eines Abends nach Hause kam, nachdem Ewtimja ihren Platz für die Nachtwache an Akulinas Bett eingenommen hatte, sagte sie zu ihrem Mann: »Morgen früh spannst du die Pferdchen vor den Schlitten und fährst nach Woronesch. Das wird nichts mehr mit Akulina Iwanowna. Sie hat das Kindbettfieber und wird es nicht überstehen. Deshalb sollten wir ihre Mutter holen. Sie wird sie noch einmal sehen wollen. Und dann muß man auch beratschlagen, was aus Oljuschka und Pjotr wird, solange ihr Vater nicht hier ist.«

    Lukan wirkte nicht sehr begeistert. Draußen herrschte seit ein paar Tagen eine Kälte, daß einem die Tränen, die der Wind aus den Augen preßte, auf den Wangen zu kleinen Kristallen gefroren, und das Eis auf dem Don war so dick, daß man keine Löcher mehr hineinschlagen konnte. »Warum immer ich?« klagte er. »Ewtimjas Mann ist jünger als ich und fett wie ein Biber im Herbst. Sieh mich an, Serafina, mein Engelchen. Bei mir dringt die Kälte gleich bis in die Knochen und weiter in Brust und Bauch. Das Blut erstarrt mir, und Magen und Lunge, Leber und Herz werden aufhören zu arbeiten, und das ist der Tod für jede Kreatur. Willst du Witwe werden?«

    »Das liegt in Gottes Hand«, sagte Serafina herzlos. »Aber da ich seit dem Jahr, in dem unsere Zarin Jelisaweta gestorben ist, mit dir geschlagen bin, wird Er dieses Joch nicht plötzlich von mir nehmen wollen. Wenn du in Woronesch bist, fragst du nach der Herberge von Amalja Nikolajewna Kribodjewa. So heißt Akulinas Mutter. Kannst du den Namen in deinem dummen Kopf behalten?«

    »Amalja Nikolajewna Kribodjewa«, wiederholte Lukan Owtschenkow gehorsam. Er schlurfte zum Schrank und holte einen Krug mit Wodka heraus. »Nur ein Schlückchen«, murmelte er in Serafinas Richtung, »weil mir schon jetzt die Eingeweide erstarren, wenn ich an die Fahrt denke. Der Mensch braucht etwas zum Wärmen.«

    Serafina lachte. »Und du brauchst vor allem Ausreden, Lukan. Zum Saufen gibt es tausend Gründe – oder keinen.« Dann ging sie, um einen Korb mit Proviant für ihren Mann zu packen.

    Am nächsten Morgen brach Lukan Owtschenkow noch vor dem Hellwerden auf. Serafina hatte ihn unter seinem weiten, mit Wolfspelz gefütterten Mantel mit Decken und Stroh zu doppelter Breite ausgestopft, um ihn vor dem eisigen Wind zu schützen, und das machte ihn so schwerfällig, daß sie und Lisaweta, ihre Schwiegertochter, ihn fast in den Schlitten heben mußten, bevor sie ihn in Pelzdecken wickelten und eine besonders große Decke darüberzogen, die unter seinen Armen befestigt wurde.

    Sie hatten drei Pferde eingespannt, damit Lukan schnell vorankam. Er nahm die Zügel, schnalzte mit der Zunge und rief: »Hoj-hoh, meine Pferdchen, lauft! Trabt los, meine Schwälbchen, und fliegt wie der Wind. Hoj-hoh! Ja, so ist es recht!«

    Das Deichselpferd zog an, die beiden anderen folgten, und der Schlitten verschwand in Richtung Donufer.

    Zu Serafinas Erstaunen war ihr Mann schon am folgenden Spätnachmittag zurück. Neben ihm im Schlitten saß eine Frau, die genauso rund und resolut war wie sie selbst. Amalja Nikolajewna, Akulinas Mutter, schälte sich aus den Decken und Fellen, sprang mit einer Behendigkeit aus dem Schlitten, die man ihr gar nicht zugetraut hätte, und stapfte durch den Schnee auf das Haus der Gorodina zu. »Wo ist mein Töchterchen?« rief sie mit einer Stimme, die so rostig wie ein alter Pumpenschwengel klang. »Akulina, mein Herzchen, deine Matuschka kommt zu dir, damit du wieder gesund wirst.«

    Serafina hielt sie zurück, als sie an ihr vorbei in die Stube wollte. »Gott sei’s gedankt, daß du da bist«, sagte sie leise. »Ich hab nicht vor morgen mit dir gerechnet, und ich weiß nicht, ob du dein Töchterchen dann noch lebend angetroffen hättest.«

    Amalja wischte sich die Schnee- und Eiskristalle vom Gesicht. »Ist es so schlimm?«

    »Der Pope war vorhin bei ihr. Er hat für sie gebetet. Aber es hilft wohl alles nichts mehr.«

    Akulina erkannte ihre Mutter, als sie an ihr Lager trat. »Matuschka«, flüsterte sie. Sie rang schwer nach Atem, und die Nase stach spitz aus dem bleichen Gesicht hervor. Amalja Nikolajewna hatte ihren Mann sterben sehen und Jahre zuvor ihre Eltern und ihren Bruder. Sie wußte, wie einer aussah, der kurz vor der Schwelle zur jenseitigen Welt stand, und Akulina sah so aus. Dennoch brach Amalja nicht in lautes Lamentieren aus, denn dies war nicht ihre Art. Nach dem Tod ihres Mannes Iwan hatte sie die Herberge an der großen Heerstraße, die von Tula bis Astrachan ging, allein weitergeführt, nur mit einem Knecht und einer Hausmagd, und das war nicht leicht für eine Frau. Es war kein vornehmes Haus, in dem die reichen Bojaren und Gutsbesitzer, die Offiziere und Adligen abstiegen. Nein, Amaljas Gäste waren Postkutscher und Hausierer, Soldaten, Bauern, Jäger oder Viehhändler, die nach Woronesch zu den Märkten wollten und ein billiges Quartier suchten. Viele kamen auch nur, um auf der Ofenbank zu sitzen, eine dicke Kascha in sich hineinzustopfen und den spärlichen Verdienst in Kwaß und Wodka umzusetzen. Da ging es manchmal wüst her, wenn sie zuviel getrunken hatten, und Amalja mußte dazwischenfahren. Sie war nie zimperlich gewesen und hatte immer ein strenges Regiment geführt, aber seit Iwans Tod hatte sie die Zügel noch fester in die Hand genommen. Wen sie mit ihrer lauten, rostigen Stimme anschrie, der wurde schlagartig nüchtern und zog den Kopf ein. Sie konnte schlimmer fluchen als ein Postkutscher, und ihre Schimpfworte hätten manchen Dragoner-Sergeanten erröten lassen.

    Dennoch war sie eine gutmütige Person. Kein Bettler wurde je von ihrer Schwelle gewiesen, und wenn in der Nachbarschaft jemand krank war, hieß es immer: »Holt Amalja Nikolajewna; so grob sie sein kann, so zart geht sie mit einem um, der Schmerzen hat.«

    Genauso tat sie es jetzt bei ihrer Tochter. Sie wischte Akulina behutsam den Schweiß von der Stirn, legte Holz im Ofen nach und ließ für eine Weile die Tür offen, damit die Kranke frische Luft bekam. Dann wieder hielt sie Akulinas Hände, die unruhig über die Decke irrten, redete leise und beruhigend auf ihre Tochter ein und gab ihr zu trinken, wenn sie danach verlangte.

    In den ersten Stunden des neuen Tages wurde der Atem der Kranken immer schwächer, setzte manchmal aus, begann dann mühsam von neuem und verstummte schließlich ganz. Die Mutter beugte sich über Akulina, sah die starren Augen und hielt, wie es üblich war, die Flamme des kleinen Talglichts, das in einer Schale mit Wasser schwamm, an die Lippen ihrer Tochter. Kein Lufthauch bewegte mehr das Flämmchen. Amalja setzte die Schale sacht auf den Tisch zurück, drückte der Toten die Augen zu und faltete ihr die Hände. Dann versuchte sie, ein Gebet zu sprechen. Aber es gelang ihr nicht. Was hätte sie sagen sollen? Gott, nimm sie in Gnaden an?

    Amalja war sicher, daß Er das ohnehin tun würde. Akulina war ein gutes Kind gewesen, das ihr nie Kummer gemacht hatte, und später war sie eine gute Frau und Mutter geworden. Sie waren eine glückliche Familie gewesen, die Gorodins, und Amalja hatte oft gedacht: Wenn auch mein Leben manchmal schwer war, weil mein Iwan weder bei einem vollen Krug Wodka noch bei einem drallen Weiberhintern seine Hände bei sich behalten konnte, so will ich doch froh sein, daß wenigstens meine Akulina einen so guten Mann gefunden hat, der sie liebt und nicht säuft und herumhurt. Dafür muß man Gott danken, und es macht vieles gut, was mir früher das Herz abgedrückt hat.

    Aber als gestern Lukan Owtschenkow berichtet hatte, was in Prisonnaja geschehen war, hätte Amalja am liebsten die Ikone aus der schönen Ecke ihrer Wohnstube auf den Speicher verbannt. Warum ließ Gott so etwas zu? Riß eine Familie auseinander und nahm ihr, Amalja, alle Wärme und Freude, die sie jedesmal empfunden hatte, wenn sie an ihre Akulina dachte? Es war schwer, so etwas zu verstehen, und da Amalja nicht zu den Sanftmütigsten gehörte, die duldeten, ohne nach dem Warum zu fragen, konnte sie jetzt nicht wirklich beten. Sie dachte: Wenn es wahr ist, daß du, Gott, unser Vater bist, so mußt du es dir schon gefallen lassen, daß ich nun Zorn auf dich habe. Es gibt so viele Menschen auf deiner Erde, und ein nicht geringer Teil davon ist unnütz und bereitet dir und uns nichts als Ärger. Sie schinden und quälen und spucken dir mit ihren Taten ins Gesicht. Warum läßt du sie nicht sterben? Mußte es ausgerechnet meine Akulina sein? Nein, Gott, das ist nicht recht von dir, und wenn auch deine Diener behaupten, daß du eines Tages alle Tränen abwischen wirst, so dauert es doch verdammt lange, bis es soweit kommt. Ich bin noch keine fünfzig Jahre alt, denn ich habe meine Akulina mit achtzehn geboren. Und da ich eine gute Gesundheit habe, kann ich siebzig oder achtzig werden, wenn nicht noch älter. Muß ich dreißig Jahre lang heulen, weil mein Kind nicht mehr da ist? Hättest du es nicht am Leben lassen können? Und sag mir nicht, daß du ausgerechnet meine Akulina gebraucht hast. Ich hätte sie nötiger gehabt, Gott. Und Pjotr, Natascha und die arme kleine Olga . . . Mußtest du ihnen die Mutter nehmen und ihnen statt dessen eine Großmutter wie mich schicken? Ich weiß wohl, daß viele mich für einen Teufelsbraten halten, weil ich ein böses Mundwerk und einen jähzornigen Charakter habe. Meinst du wirklich, daß die armen Kleinen bei einer solchen Frau gut aufgehoben sind? Ach, Gott, mir scheint, diesmal hast du wirklich einen schlimmen Fehler begangen.

    Amalja Nikolajewna stand da und blickte auf ihr Kind hinunter, das einzige Geschöpf, das sie ohne Vorbehalte und Enttäuschungen hatte lieben können. Ein Stück von ihr, ihr Stolz und ihre Freude, und es war tot.

    Dann rannte Amalja nach draußen und begann zu weinen. Sie hieb die Fäuste gegen die Hausmauer und schlug sie sich blutig, eine Mutter, die ihr Kind verloren hatte. Und während sie in langgezogenen, jammervollen Tönen ihre Qual herausschrie, dachte sie: Ich muß jetzt heulen, damit ich den Kindern morgen ein fröhliches Gesicht zeigen und vor allem Pjotr trösten kann.

    Es waren achtzig Schiffe, mit denen die Zarin Katharina II. von Rußland im Frühjahr des Jahres 1787 von Kiew aus in den Süden ihres Reiches reiste. Achtzig Galeeren, eine prunkvoller und luxuriöser als die andere, und Abend für Abend fand auf einer oder mehreren ein Fest statt, eine Ballettaufführung, ein Konzert, ein Ball, ein Souper. Dann ankerten die Schiffe am Ufer, es wurde gelacht und getanzt und mit Champagner auf diese einmalige, überwältigende Reise angestoßen.

    Nach Sonnenaufgang wurde die Fahrt fortgesetzt. Und dann sahen die Kaiserin und ihr Hofstaat, welches Wunder Grigorij Potemkin vollbracht hatte. »Es ist, als hätte der Fürst mit einem Zauberstab dieses öde, unbesiedelte, vom Türkenkrieg und dem Pugatschew-Aufstand verwüstete Land berührt und es zum Blühen gebracht«, sagte der französische Gesandte Philippe de Ségur, der die Zarin begleitete. »Überall saubere Dörfer mit festen Steinhäusern und dazu gut gekleidete Menschen. Wahrhaftig, man kann es kaum fassen, wenn man weiß, in welch kurzer Zeit Sie das geschaffen haben, Grigorij Alexandrowitsch.«

    Potemkin nickte und lächelte. Sein breites, pockennarbiges Gesicht mit der schwarzen Augenbinde drückte Zufriedenheit und Stolz aus. »Es war harte Arbeit, doch wie man sieht, hat sie sich ausgezahlt. Die Steppennomaden haben begriffen, um wie vieles leichter und besser ihr Dasein ist, wenn sie ansässig werden. Da ist keine Zauberei dabei, mein lieber Comte de Ségur. Man hat diesen Leuten nur klarmachen müssen, wo ihre Vorteile liegen. Und was den Krieg und die Pugatschewtschina angeht – es sind in der Tat Abertausende dabei umgekommen. Doch die Menschen, die überlebt haben, deren Häuser und Besitzungen Pugatschews Horden verbrannt und verwüstet haben, brauchen eine Zukunft. Und das heißt: Arbeit, Brot, ein Dach über dem Kopf. Ihnen das zu geben, war ich nur der Arm. Ihre Majestät jedoch, die Kaiserin, ist die treibende Kraft gewesen.« Damit verbeugte er sich vor Katharina von Rußland, die neben Ségur an der Reling ihrer Galeere »Dnjepr« stand.

    Potemkin wußte: Die Zarin glaubte an den grandiosen Schwindel, den er inszeniert hatte. Noch glaubte sie daran. Doch jedesmal, wenn die Flottille der Kaiserin des Abends die Anker warf, brach Potemkin der Schweiß aus. Was war, wenn Katharina, die für ihre spontanen Entschlüsse bekannt war, plötzlich Lust auf einen Landausflug bekam? Wenn sie mit den vermeintlichen Siedlern am Ufer reden, ihre Häuser und Felder aus der Nähe sehen wollte? Dann würde sie wissen, daß die schmucken Dörfer bloße Attrappen und die Menschen, die angeblich darin lebten, aus anderen Gegenden zwangsweise hierhergebracht worden waren.

    Manchmal verfluchte Potemkin sich seines Einfalls wegen, den ihm sein nie befriedigter Ehrgeiz eingegeben hatte. Warum hatte er diesen Betrug inszeniert? Hätte er nicht vor Katharina hintreten und sagen können: »Ich habe versucht, zu tun, was du mir aufgetragen hast, und vieles ist mir gelungen. Ich habe Städte gegründet, Festungen, Häfen und Dörfer aus dem Boden gestampft, gute, befestigte Straßen gebaut, Manufakturen, Werften, Eisengießereien. Aber angesichts der Weite dieses Landes ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wie kann man in ein paar Monaten oder Jahren Rußland seinem jahrhundertealten Schlaf entreißen? Dazu reicht ein ganzes Leben nicht aus, Jekaterina.«

    Viele Dörfer und Städte waren niedergebrannt worden, die Einwohner umgekommen oder geflohen. Nur zögernd waren die Überlebenden zurückgekehrt und hatten begonnen, ihre Häuser wieder aufzubauen und die Äcker zu bestellen. Nomadenstämme zogen wie eh und je durch die Steppengebiete. Wie sollte man sie zum Siedeln bewegen? Potemkin hatte es versucht. Er hatte Häuser für sie errichten lassen, ihnen Weide-und Ackerland für ihre Viehherden oder Arbeit in den Manufakturen versprochen, die der Beginn einer stetig wachsenden Industrie sein sollten. Aber nur eine Handvoll der nomadisierenden Stämme hatte dieses Angebot angenommen. Die anderen wollten nichts davon hören. Wozu brauchte man ein Schindeldach und steinerne Wände, wenn man sein Zelt überall aufschlagen konnte, wo die Herden Futter fanden? Brauchte man einen gemauerten Herd, wenn man ein offenes, hell loderndes Feuer unter dem Himmel hatte, um Suppe und Fleisch zu kochen? Die Steppe war groß; sie gab alles, was man zum Leben benötigte. Und man war ein freier Mensch, der gehen konnte, wohin er wollte.

    Und so waren die hübschen Dörfer mit den buntgestrichenen Fensterläden an den Häusern und den Knüppelzäunen um die Gärten leer geblieben und zerfielen. Auch die deutschen und holländischen Siedler, die die Kaiserin schon vor Jahren ins Land gerufen hatte in der Hoffnung, sie würden ihre handwerklichen Fertigkeiten und ihre Strebsamkeit den Nomaden vermitteln, hatten nichts bewirkt. Zwar kamen die Kalmücken und Kasachen, Turkmenen und Usbeken in die Siedlungen der Njemetzkij, der Stummen, wie man die dunkel gekleideten, fleißigen Einwanderer allgemein nannte, da sie kaum Russisch sprachen und deshalb recht schweigsam auftraten, bestaunten ihren Arbeitseifer und ihre Liebe zum eigenen Stück Land, tauschten wohl auch Vieh, Pferde und Felle bei ihnen gegen Handwerkszeug und was man sonst noch brauchte, doch Schule machte das Beispiel der ausländischen Siedler nicht. Warum sich mit einem kleinen eingezäunten Stück Land befassen, wenn der Himmel so weit und die Steppe so riesig ist? Vom Schwarzen und Asowschen bis zum Kaspischen Meer und weiter bis zum Aralsee kannst du ziehen, Bruder, mit leichtem Gepäck, und bist frei wie der Vogel. Jagen kannst du und fischen, und deine Herden ernährt die Steppe.

    Wer ist Fürst Potemkin? Ein großer, ein mächtiger Mann, gewiß, Feldherr, Kolonisator und Günstling von Matuschka Jekaterina, vor dem man in Moskau und St. Petersburg den Hut bis zur Erde zieht. Aber was gilt das in den Weiten Südrußlands? Da ist er ein Staubkorn, der Serenissimus Grigorij Alexandrowitsch, das eine Weile vom Wind hochgehoben wird und dann verweht. So dachten sie, die Steppennomaden, und Potemkin wußte es. Er wußte auch, daß er vieles geschafft hatte in den wenigen Jahren, die ihm zur Verfügung gestanden hatten. Vieles – aber nicht genug für seinen Ehrgeiz. Und nicht genug, um seine Feinde mundtot zu machen. Sie lauerten ja nur darauf, über ihn herzufallen. »Seht her, das Großmaul Potemkin! Hat sich als Hexenmeister aufgespielt, der auf ein einziges Zauberwort hin dieses verfluchte, verlassene Land in reiche Provinzen verwandeln kann. Die russische Faulheit wollte er besiegen, aus Nomaden Bauern und Handwerker, aus der Steppe Äcker und Gärten machen. Und was hat er geschafft? Ein paar armselige Straßen und Marktflecken – und dahinter ist es so, wie es seit Jahrhunderten war. Da gibt es keinen Wohlstand, keine aufstrebende Industrie, nur Öde, Dreck und Armut.«

    Potemkin hörte sie förmlich reden. Sie würden der Zarin damit in den Ohren liegen und alles, was er wirklich geschaffen hatte, in den Schmutz zerren und zu völliger Bedeutungslosigkeit herabwürdigen.

    Das aber ertrug er nicht. Er war zu hoch gestiegen in seinem Leben, um einen solchen Fall zu verkraften. Grigorij Potemkin, der Liebhaber Katharinas, dann ihr heimlicher Gatte, nach ihr der erste Mann im Staate, dem die Zarin mehr als jedem anderen vertraute . . . Er hatte den Platz in ihrem Bett freiwillig anderen, jüngeren überlassen, als ihre Leidenschaft füreinander allmählich abgekühlt war. Er hatte selbst diese jungen Gefährten für Katharinas Nächte ausgesucht und abgesetzt, wenn sie ihm zu unverschämt oder zu einflußreich wurden – doch den Platz neben ihrem Thron konnte und wollte Grigorij Potemkin nicht aufgeben. Außerdem liebte er Katharina von Rußland, liebte sie auf seine zwiespältige, zerrissene, gewalttätige und selbstquälerische Art, und er hätte es nicht ertragen, in ihren Augen Mitleid, Enttäuschung oder gar Verachtung zu lesen, weil er nicht alles so vollbracht hatte, wie sie es sich erträumte. Darum hatte er diesen grandiosen Betrug inszeniert und während Katharinas Reise nächtelang in Kirchen und Klöstern darum gebetet, daß niemand ihn durchschauen möge.

    Einige Tagesreisen vor Kaidak verließ Potemkin die kaiserlichen Galeeren, um auf dem Landweg vorauszueilen. Katharina von Rußland hatte den österreichischen Kaiser Joseph II. eingeladen, sie auf einem Teil ihrer Reise zu begleiten, und er hatte zugesagt, in Kaidak mit ihr zusammenzutreffen. Potemkin wollte selbst die Vorbereitungen für den dortigen Empfang der beiden Monarchen überwachen, aber er tat es mit schwerem Herzen. Trotz seiner Gebete verließ ihn keinen Augenblick die Angst, Katharina könne durch einen Zufall hinter die Kulissen seines so sorgfältig inszenierten Spektakulums blicken. Nur – wie hätte er es verhindern sollen?

    In der Gegend von Kaidak war es auch, daß Sergej Fomitsch Gorodin die Flucht beschloß. Es war Mai. Über drei Monate war es her, daß er und Natascha mit den anderen Frauen, Männern und Kindern vom Don an den Dnjepr gebracht worden waren. Drei Monate, in denen es ihnen nicht schlecht ergangen war. Jeder von ihnen hatte verschiedene Kleidungsstücke geschenkt bekommen: Hosen aus festem Tuch, Stiefel, Hemden und die Frauen und Kinder farbenfrohe Röcke und bunt bestickte Blusen mit warmen Wolltüchern gegen Wind und Regen. Sie hatten nicht hungern und auch nicht immer zu Fuß wandern müssen. Von Woronesch aus waren sie mit großen Lastschlitten in die Gegend um Kiew gebracht worden. Dort hatte man sie auf die ersten Dörfer verteilt, die an der Reiseroute der Zarin lagen.

    Zum Teil waren diese Ortschaften noch bewohnt, aber nur von einigen wenigen, die die Neuankömmlinge mißtrauisch, ja feindselig empfingen, weil sie fürchteten, den Eindringlingen von dem bißchen, was sie besaßen, auch noch etwas abgeben zu müssen.

    Aber es stellte sich heraus, daß für die Neuen gesorgt war. Soldaten kamen und brachten ganze Schlittenladungen mit Hirse, Dörrfleisch und getrocknetem Fisch, Kraut, Brot und Rüben. Und bald erwies es sich sogar als Segen, daß die Fremden gekommen waren, denn sie gaben freiwillig von all dem Überfluß ab, und viele von ihnen machten sich sogar nützlich.

    Es war Sergej und Natascha also recht wohl ergangen in dieser Zeit, und manchmal hatte das Kind die Reise sogar wie ein aufregendes Abenteuer genossen. Nur anfangs hatte es abends nach seiner Mutter geweint und sich vor dem Neuen, Ungewissen gefürchtet. Inzwischen gefiel es Natascha, in den neuen Kleidern herumzustolzieren – schöneren, als sie je besessen hatte –, des Nachts auf irgendeinem Pferdewagen in den Armen ihres Vaters einzuschlafen und bei Tage die vielen Schiffe auf dem Fluß vorüberziehen zu sehen.

    »Meinst du, daß die Kaiserin uns auch sieht, Papuschka?« fragte sie dann, und ein sehnsüchtiger Ausdruck trat in ihre goldbraunen Augen. »Ach, ich wünschte, sie käme einmal ans Ufer und ich könnte sie aus der Nähe betrachten. Hat sie immer eine Krone auf, auch wenn sie ins Bett geht? Und wie sieht ihr Bett aus? Ist es aus Gold? Ach, ich würde zu gern einmal auf einem dieser Schiffe sein. Du nicht?«

    Sergej aber war ganz elend zumute vor Sorge und Heimweh, und seine Unruhe wuchs. In Jekaterinoslaw, so hatte er von den Soldaten gehört, die ihren Transport begleiteten, würde die Zarin mit ihrem Gefolge die Schiffe verlassen und die Reise mit Pferd und Wagen fortsetzen. Was geschah dann mit ihnen? Brachte man sie nach Hause zurück, oder überließ man sie ihrem Schicksal? Das war die Frage, die alle bewegte und auf die niemand eine Antwort fand.

    Die Leibeigenen – ja, die wurden vielleicht zurückgebracht, da sie einen gewissen Wert darstellten. Aber freie Bauern und Kosaken? In Rußland gilt ein Menschenleben nicht viel, und je weiter sie von daheim fort waren, um so unwahrscheinlicher erschien es, daß jemand sich die Mühe machte, ihnen auch auf dem Heimweg zu essen und zu trinken zu geben und dafür Sorge zu tragen, daß sie die vielen hundert Werst zum Don nicht zu Fuß zurücklegen mußten.

    »Einen Tritt in den Hintern werden wir kriegen«, prophezeite Polina, die Frau von Ossip Bagjalin, die man auch aus Prisonnaja fortgeschleppt hatte, und ihr Mann nickte düster.

    »Bestenfalls, Brüder. Vielleicht hängen sie uns auch ein paar Steine um den Hals und ersäufen uns im Dnjepr, wenn sie uns nicht mehr brauchen. Wer kann das wissen?«

    »Sie können nicht ein paar Hundert von uns ins Wasser schmeißen«, widersprach Gennadij Nikititsch, ein Kosak aus Sowranja, und Sergej dachte: Vielleicht nicht alle, aber einen Teil, damit die anderen vor Angst davonrennen und man sie los ist. Heilige Mutter von Kasan, wie lange braucht man zu Fuß von Jekaterinoslaw bis an den Don? Werden wir es schaffen, bevor der Winter da ist?

    Irgendwie ging das Zeitgefühl verloren, wenn man so lange unterwegs war, und Sergej wußte auch nicht mehr, wie viele Werst sie in den Nächten zurückgelegt hatten; manchmal ein paar Stunden zu Fuß, dann wieder in den großen Pferdewagen, wo sie alle zusammengepfercht auf kleinstem Raum geschlafen hatten. Hatte man große Umwege durch menschenleere Gebiete gemacht, um die nächtlichen Transporte geheimzuhalten, oder waren sie jedesmal auf kürzestem Weg weiter nach Süden gebracht worden? Sergej zermarterte sich das Gehirn, doch er kam zu keinem Ergebnis. Das einzige, was sich immer deutlicher in seinem Kopf formte, war der Gedanke: Ich muß nach Hause. Ich muß mich mit Natascha davonmachen, ehe es zu spät ist. Sie werden nicht gleich merken, wenn zwei fehlen. Und wenn sie es merken, sind wir schon ein gutes Stück auf dem Heimweg.

    Gewiß war es auch einfacher, sich allein mit Natascha durchzuschlagen, als später von Jekaterinoslaw aus mit den vielen. Ein Mann und ein Kind fanden immer ein Nachtlager und mitleidige Leute, die ihnen ein Stück Brot und einen Teller Suppe gaben. Anders war es, wenn ein paar Hunderte kamen. So viele konnte niemand satt machen. Und so sagte Sergej eines Morgens zu Natascha: »Paß auf, Töchterchen, heute abend, wenn alle zum Sammelplatz kommen sollen, versteckst du dich dort drüben in dem Weidengebüsch und wartest da, bis ich komme.« Und auf Nataschas fragenden Blick fügte er hinzu: »Wir gehen nach Hause, aber das darf niemand wissen.«

    Ein unkindlicher, ernster Ausdruck stand in Nataschas Augen, als sie erwiderte: »Ich verrate es niemandem, Väterchen. Du kannst dich auf mich verlassen.«

    Sie waren etwa dreißig Werst vor Kaidak, und als die Dämmerung hereinbrach, schaffte es Sergej, unbemerkt zu jenem Weidengebüsch zu gelangen, in dem Natascha wie ein von Hunden gehetzter Hase am Boden kauerte. Gemeinsam warteten sie die völlige Dunkelheit ab, ehe sie sich auf den Weg machten. Sie wanderten die ganze Nacht hindurch, immer am Ufer des Flusses entlang, von dem Sergej wußte, daß er sie nach Kiew zurückführen würde.

    Sie wanderten auch die zweite und dritte Nacht, während sie bei Tage eng aneinandergeschmiegt irgendwo unter freiem Himmel in einen erschöpften Schlaf fielen. Teilweise übernachteten sie auch in den gespenstisch leeren Dörfern, die Fürst Potemkin hatte errichten lassen. Noch vermied Sergej aus Furcht vor einer Entdeckung die großen Straßen und wählte seinen Weg lieber über Uferpfade und durch Gestrüpp. Er hatte schon Tage vor ihrer Flucht soviel wie möglich von seinen Essensrationen abgezweigt, und so hatten sie nun Brot, Speck und ein wenig Dörrfleisch. Außerdem hatte er sich aus einer Weidenrute und einer Schnur eine Angel gemacht, um Fische zu fangen, die er abends, bevor sie aufbrachen, am Holzfeuer briet.

    Es war am Morgen des vierten Tages, als das Unglück geschah. Wieder waren sie die Nacht hindurch gewandert, und Natascha war müde. Sergej hielt sie an der Hand und merkte, daß sie vor Erschöpfung schwankte. »Wir suchen uns jetzt einen Schlafplatz, Töchterchen«, sagte er beruhigend. »Siehst du den kleinen Birkenwald dort vorn? Da legen wir uns hin. Ich mache dir ein Lager aus weichem, welkem Laub.«

    »Mir ist kalt, Papuschka«, klagte sie, und er zog sie an sich.

    »Ich werde auch Holz für ein Feuer sammeln, und bald geht ja die Sonne auf. Sieh nur, der Himmel ist klar, es wird wieder einen schönen Tag geben. Die Sonne wärmt dich, während du schläfst, mein Schwänchen.«

    »Ja, Papuschka«, sagte sie leise. Sie wanderten wieder am Ufer des Dnjepr entlang. Der Fluß glitzerte im ersten Morgenlicht, und Natascha blickte einem Schwarm Krähen nach, die kreischend über das Birkenwäldchen flatterten. Ein Vogel müßte man sein, dachte sie sehnsüchtig. Einfach die Flügel ausbreiten und über den Himmel fliegen. Sie tat ein paar Schritte, während sie den Krähenflug verfolgte, und geriet mit dem linken Fuß in ein Erdloch. Es gab einen scharfen Ruck in ihrem Knöchel, als Natascha stürzte. Vor Schreck und Schmerz schrie sie auf. Sergej beugte sich über sie.

    »Was ist? Hast du dir weh getan?«

    Sie nickte, während ihr die Tränen in die Augen schossen. »Mein Fuß . . . Bitte, laß mich einen Augenblick liegen, Papuschka. Es wird bestimmt gleich besser.«

    Er kauerte sich auf den Boden. »Laß einmal sehen.« Natascha wimmerte, während er den verletzten Knöchel vorsichtig betastete. In Sekundenschnelle schwoll er an, und das Mädchen bat: »Hör auf, Papuschka, ich kann es nicht aushalten.«

    Panik stieg in Sergej auf. Wenn nun der Fuß gebrochen war? Wie sollten sie dann weiterkommen? Nach einer Weile versuchte Natascha aufzustehen, doch sie sank mit einem Klagelaut wieder zusammen. »Es geht nicht. Ich kann nicht auftreten.«

    Da nahm Sergej sie kurzerhand auf den Rücken und trug sie, bis sie das Birkenwäldchen erreicht hatten. Dort ließ er sie in einer Bodensenke behutsam auf die Erde gleiten. »Ist es etwas besser, Herzchen?« Sie nickte, aber er sah ihr an, daß sie ihn nur beruhigen wollte. Sie war blaß, und ihre Kiefer zeichneten sich weiß und kantig in dem schmalen Gesicht ab, so fest biß sie die Zähne aufeinander.

    »Heute abend, wenn wir geschlafen haben, ist der Fuß bestimmt wieder in Ordnung.«

    Sergej trug Reisig zusammen, um Feuer zu machen, und bereitete Natascha, so gut es ging, ein Lager aus welkem Laub. Den verletzten Knöchel bettete er hoch. Als das Feuer brannte, war Natascha eingeschlafen.

    Er lief noch einmal zum Fluß hinunter. Bei seiner Flucht hatte er einen hölzernen Napf mitgehen lassen, den füllte er mit Wasser, und als er wieder bei Natascha war, riß er einen Ärmel seines Hemdes ab, machte ihn naß und schlug ihn um ihren Knöchel. »Das kühlt, das wird dir guttun«, murmelte er.

    Inzwischen war die Sonne aufgegangen, aber es würde noch eine Weile dauern, bis sie hoch genug stand, um durch das Laubdach der Birken zu scheinen. Deshalb hüllte Sergej seine Tochter in ihr Umschlagtuch und häufte noch mehr Laub um die kleine Gestalt. Er legte Holz nach, damit das Feuer noch eine Weile brannte, und machte sich dann gleichfalls ein Lager zurecht.

    Jedesmal, wenn er im Lauf des Tages wach wurde, lief er zum Fluß, um Wasser zu holen und Nataschas Umschlag zu erneuern. Aber der Knöchel blieb dick, und das Mädchen stöhnte im Schlaf, wenn der Vater sich an dem verletzten Fuß zu schaffen machte. Heilige Schmerzensmutter, dachte Sergej, was soll nur werden? Ich kann sie doch nicht den ganzen Weg bis an den Don tragen. O Schmerzensmutter, laß den Knöchel nicht gebrochen sein . . .

    Am Abend, als die Sonne sank, fing Sergej einen großen Fisch im Dnjepr, den er auf einen Holzspieß steckte und über dem Feuer briet. Als er gar war, wurde Natascha wach, und sie aßen gemeinsam, rissen mit den Fingern das weiße Fleisch auseinander und stopften es sich hungrig in den Mund. Dann opferte Sergej noch den zweiten Ärmel seines Hemdes und legte Natascha einen notdürftigen Verband an. Sie versuchte auch, ein paar Schritte zu humpeln, aber sie konnte nicht auftreten und brach in Tränen aus. »Es geht nicht, Väterchen. Es geht nicht!«

    »Ich nehme dich auf meinen Rücken«, sagte Sergej. »Du bist ja nicht schwer, und wenn wir auch ein wenig langsamer vorankommen, so ist das immer noch besser als gar nicht.« Er war ein starker, gesunder Mann und daran gewöhnt, Lasten zu tragen. Doch vom Sonnenuntergang bis zur Morgendämmerung ein achtjähriges Mädchen auf den Schulten zu schleppen und dabei Fuß vor Fuß zu setzen, ist etwas anderes, als einen gefällten Baum mit der Axt in handliche Stücke zu zerschlagen und auf einen Pferdewagen zu laden.

    Im Laufe der Nacht wurde Natascha immer schwerer auf Sergejs Buckel, und er kam immer mühsamer vorwärts. Seine Schultern schmerzten, in seinen Ohren rauschte das Blut, und er dachte: Ich schaffe es nicht. Nicht bis nach Hause. Irgendwann werden wir beide zu Boden sinken und nicht weiterkönnen. Und was dann?

    Als die Morgendämmerung hereinbrach, war er so ermattet, daß er beschloß, die Schleichwege zu verlassen und irgendwo ein Gefährt und ein Pferdchen zu kaufen.

    »Töchterchen«, sagte er darum zu Natascha, nachdem

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