Aasfresser: Erzählungen
Von Friedemann Kahl
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Über dieses E-Book
In seinen mal bedrohlichen, mal skurrilen Erzählungen spiegelt Friedemann Kahl unser fragiles Gefühlsleben. Egal, wie viel geblümte Tischdecken wir darüber legen, es bricht immer wieder auf. Wie wilde Tiere schleichen die Erinnerungen durch unser Leben und zeigen sich hier und da ganz unverblümt. Tiere finden sich deshalb auch in allen Geschichten, mal offensiv und mal im Hintergrund: eine Schildkröte, ein Stör, ein Kolkrabe oder eine Rotte Wildschweine.
17 Erzählungen. Neue deutsche Sachlichkeit.
Friedemann Kahl
Friedemann Kahl, geboren 1979 im Erzgebirge, studierte Betriebswirtschaftslehre und Journalistik. Er arbeitet als Pressesprecher, Texter und Autor von Reportagen. Seit 2009 veröffentlicht er Kurzgeschichten in Anthologien. 2011 erschien sein Stück „Freibier“. Er lebt mit seiner Familie zwischen Elbe und Havel in Genthin.
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Buchvorschau
Aasfresser - Friedemann Kahl
IMPRESSUM
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-95894-124-3 (Print) / / 978-3-95894-125-0 (E-Book)
Titelfoto: Harald Krieg
Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2019
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, Vorbehalten.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
INHALT
Dreckiges Rosa
Kapitän und Papagei
Heimflug
Enola
Mayflower
Schlafanzug
Schleichender Tod
Absturz
Muttertage
Postgeheimnis
Ein Bild von Familie
Aasfresser
Barlach
Letzter Gang
Wladimirs Zöpfe
Sascha
Letzte Dienstfahrt mit Kurányi
„Erfahrungen sammelt man wie Pilze:
Einzeln und mit dem Gefühl,
dass die Sache nicht ganz geheuer ist."
Erskine Caldwell
DRECKIGES ROSA
Matthias erkennt die Stelle gleich wieder. Er war vor zwei Jahren durch Zufall darauf gestoßen. Eigentlich hatte er damals nur einen Spaziergang machen wollen. Er hatte nicht einmal einen Beutel dabei, weshalb er schließlich seine Jacke zusammenknoten musste, um die Steinpilze aus dem Wald zu tragen. Seit damals ist Matthias nicht mehr hier gewesen. Er hat eine Weile gebraucht, um die Begegnung mit dem Wolf zu verdauen.
Nun biegt er kurz nach einem Kontrollhäuschen der Wasserwerke von der Landstraße in einen Waldweg ein.
Links und rechts stehen alte Kiefern und es knackt, als die Reifen langsam über die am Boden liegenden Zapfen rollen, wie Walzen über rohe Eier. Nach einigen Metern wendet Matthias den Wagen in einer Ausbuchtung und parkt unter einer Birke. Schäfchenwolken weiden seelenruhig am Nachmittagshimmel.
„Endlich aussteigen und nicht mehr fahren!", ruft Marie und springt aus der hinteren Wagentür.
„Ziehe dir bitte die Gummistiefel an, mein Schatz! Die liegen im Kofferraum", sagt Anke und nimmt zwei Klappmesser aus dem Handschuhfach.
„Hast du mein großes Messer gar nicht mitgenommen?", fragt Matthias seine Frau.
„Nein, es lag nicht im Schubkasten. Ich dachte, du hast es schon eingesteckt."
„Dann schneidet ihr sie ab und ich trage den Korb."
Matthias setzt seinen braunen Filzhut auf, wechselt aus seinen Sportschuhen in robuste Lederstiefel und nimmt den Weidenkorb. Die drei gehen etwa zehn Minuten den Waldweg entlang, bevor sie einem Trampelpfad auf einen Hügel mit jungen Buchen folgen.
„Für jeden Steinpilz bekommst du einen Euro von mir", sagt Matthias.
„Echt jetzt? Super, Papi", jubelt Marie und rennt mit gesenktem Blick davon.
Anke beugt ihren Oberkörper nach vorn, schüttelt den Kopf und bindet sich die dunkelbraunen Haare mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie hasst es, wenn sich ihre Locken in den Zweigen verfangen. Matthias bleibt an einer verkrümmten Kiefer stehen und zieht eine kleine Lupe aus seiner Hosentasche.
Seit einigen Monaten interessiert er sich für die Borken von Bäumen. Auf den Stämmen findet er eine Welt, an der er bisher vorbeigegangen war. Wie ein Arzt untersucht er seitdem die Haut der Bäume auf Wanzen, Feuerkäferlarven oder Langbeinfliegen. Auf seinem Handy hat Matthias einen Ordner namens „Waldleben", in dem er Fotos von Rindenstrukturen und Insekten abspeichert. Er vergisst die Zeit, wenn er mit seiner Lupe vor einem Baum steht und in diese betriebsame Rindenwelt eintaucht.
„Wenn dich Leute so sehen, halten sie dich für nicht ganz glatt", sagt Anke.
„Es sieht mich doch keiner, außer du und Marie", antwortet er ohne den Blick von der Kieferrinde zu nehmen. Anke schmunzelte und bricht bedächtig einen Zweig mit Hagebutten von einem Strauch. Vor drei Jahren schenkte sie Matthias zu Weihnachten ein Buch über die heilsame Wirkung des Waldes. Eigentlich hatte sie es aus Verlegenheit gekauft. Doch Matthias begann noch am Heiligabend mit dem Lesen und am zweiten Weihnachtsfeiertag war er auf der letzten Seite. Nach dem Buch hatte er sich vorgestellt, welchen Lauf sein Leben als Botaniker statt als Elektroingenieur genommen hätte.
Marie sieht Anke und Matthias nur noch als roten und blauen Punkt in der Ferne. Unter einem abgebrochenen Ast entdeckt sie endlich einen Pilz, weißer Stiel mit hellbrauner Kappe. Sie klappt das Taschenmesser auf und schneidet ihn wenige Millimeter über dem Boden ab. „Schon einen Euro", murmelt sie. Wenige Meter von der Fundstelle entfernt sieht sie noch einmal vier hellbraune Kappen ganz dicht beieinander im Moos stehen. Da sie keine Lust hat, zu ihrem Vater und dem Korb zurückzulaufen, legt sie die Pilze auf eine kleine Grasinsel. Sie hebt einen Ast auf, dreht ihn wie eine Schraube in den knochigen Waldboden und knotet ein Papiertaschentuch an die Spitze, um die Stelle schnell wiederzufinden.
„Piüü-piüü-piüü." Als ein Eichelhäher anfängt zu rufen, zuckt Marie kurz zusammen. Dann streift sie mit gesenktem Blick weiter über Moosflächen und Gesträuch, bis sie nach einer Weile auf einem Sandweg steht. Nach rechts macht er eine weite Kurve in den Wald hinein.
Links sieht Marie in etwa zweihundert Meter Entfernung einen weißen Lieferwagen stehen. Die Türen zur Ladenfläche sind geöffnet. Daneben steht eine Gruppe Männer. Viele rauchen, sodass ein weißer Schleier über ihnen schwebt. Einer hat ein kleines Kind auf dem Arm. Die Männer haben schwarze Haare und tragen dunkle Kleidung. Plötzlich streckt einer den Arm aus und zeigt direkt auf Marie. Sie spürt, wie ihr Herz zu pochen beginnt und geht blitzschnell hinter einem Hagebuttenstrauch am Wegrand in Deckung. Sie hört Wasser plätschern. Als wenn ihre Großmutter mit dem Gartenschlauch die Tomatenpflanzen wässert. „Go away, go away, go away", zischt eine Stimme. Marie dreht sich um und sieht, wie wenige Meter neben ihr drei Frauen mit grauen Kopftüchern und hochgezogenen Röcken im Gras hocken. Wasser sickert in den Sandboden. Sie sehen aus wie Zwerge aus einem Märchenfilm.
Marie springt auf und rennt zurück in den Wald. Als ihre Lunge schwer und die Zunge trocken wird, lehnt sie sich an eine Buche.
„Mama, Papa, hört ihr mich!", ruft sie mit brüchiger Stimme. Keine Antwort. Sie rennt weiter und stoppt erst wieder, als sie in der Ferne einen kleinen roten Fleck zwischen den Stämmen erkennt, die Jacke ihrer Mutter. Erleichtert läuft sie auf den roten Punkt zu.
Nun kommt auch die Stelle mit dem Papiertaschentuch am Ast. Sie hebt die Steinpilze auf und geht weiter auf den roten Punkt zu, der immer größer wird, bis sie das besorgte Gesicht ihrer Mutter erkennt.
„Wo warst du, Marie? Wir haben gerufen und du reagierst nicht. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du in der Nähe bleiben sollst?", sagt Anke aufgebracht.
„Schau mal, ich habe vier Steinpilze gefunden, also vier Euro", antwortet Marie und strahlt.
„Papa hat keinen einzigen gefunden, dafür jede Menge Braunkappen. Der Korb hat gar nicht ausgereicht, so viele sind es. Er wartet schon am Auto", sagt Anke. Sie hat ein Büschel Gräser und dünne Zweige für einen Trockenstrauß in der Hand.
Matthias hat auf dem Küchentisch eine Zeitung aufgefaltet und die Pilze wie Trophäen darauf aufgereiht. Mit einem Pinsel säubert er sie von Erde, Nadeln und Grashalmen. Bei einigen krabbeln kleine Käfer aufgeschreckt aus dem Röhrenfutter, wenn die Pinselborsten darüberstreichen. Als die Braunkappen sauber sind, schneidet er sie sorgsam in daumendicke Stücke und gibt sie in eine Edelstahlschüssel. Im Radio läuft eine Reportage über den Tabakanbau in Bulgarien. Ein Bauer beklagt, dass sich der Tabak für ihn nicht mehr lohne und er stattdessen auf Safran umsteigen werde, was deutlich wirtschaftlicher und auch gesünder sei.
Als ein Steinpilz von Marie an der Reihe ist, legt Matthias den Pinsel beiseite und zieht seine Lupe aus der Hosentasche. Er schaut sich das Röhrenfutter und die Maserung am Stiel genau an und legt ihn zurück auf die