Leben mit Alkohol – Herausforderungen und Chancen
Von Rudolf Klein
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Über dieses E-Book
Dieses Buch hilft, mehr über das Trinkverhalten herauszufinden – das eigene oder das eines anderen. Dazu gibt es Kriterien und Erklärungen an die Hand, im Mittelpunkt stehen aber Fragen zu individuellen Aspekten: Welche Gedanken, Erklärungen und Bewertungen verbinde ich mit dem Trinken? Welches Leben wurde bisher gelebt, und ist es das, das man leben wollte? Was sollte so bleiben, was könnte sich ändern? Welche Optionen gibt es, und welche Risiken und Chancen sind damit verbunden?
Neben einer Anleitung zur Selbstdiagnose bietet das Buch auch konkrete Handlungsstrategien an. Fallbeispiele, Fragenkataloge und Erläuterungen helfen, das Trinkverhalten zu beeinflussen und bekömmlichere Umgangsweisen zu finden – mit oder ohne Alkohol.
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Buchvorschau
Leben mit Alkohol – Herausforderungen und Chancen - Rudolf Klein
1
ALKOHOLABHÄNGIGKEITEN ERKENNEN
Erster Brief
Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie haben sich nach der Lektüre des Vorworts zum Weiterlesen entschieden. Nun geht es um das Erkennen einer möglichen Problemlage. Die Bewertung des Trinkverhaltens als Problem ist aber gar nicht so einfach und wird nicht selten von Angehörigen, Freunden und Kollegen anders eingeschätzt als durch die Betroffenen selbst. Häufig sind diese Unterschiede Grundlage heftiger Konflikte, v. a. innerhalb von Partnerschaft und Familie. Eines ist und bleibt dennoch sicher: Die wichtigste Person, die das Trinken bewerten muss, sind Sie selbst.
Ihr Trinkverhalten als eher problematisch oder als eher unproblematisch einzustufen, ist letztlich nichts anderes, als sich selbst höchstpersönlich zu diagnostizieren. Dazu benötigen Sie Kriterien, die problematisches von unproblematischem Trinken zu unterscheiden helfen. Darüber hinaus spielt neben den Bewertungskriterien eine nicht unbedeutende Rolle, zu welchem Zeitpunkt sich diese Frage stellt. Manchmal erscheint etwas als erhebliches Problem und manchmal sieht man die Dinge lockerer, obwohl sich nichts geändert hat. Die eigenen Bewertungen können variieren. Es ist daher kein Wunder, wenn Sie mehrere Monate, manchmal Jahre benötigen, bis Sie zu einer Antwort kommen.
Manchen wird das als eine Art Zögern oder gar Hinauszögern erscheinen, manche werden von Verleugnung des Problems sprechen. Doch hat das Zögern und Zaudern einen guten Grund. Denn mit der Feststellung eines Problems ist nicht selten eine Lebensentscheidung verbunden – sowohl für Sie als auch für Ihre Angehörigen. Das Leben kann dann nämlich nicht mehr so weitergehen, wie es bisher gelaufen ist. Der Gewinn einer Erkenntnis bedeutet gleichzeitig einen Verlust. Und wer verliert schon gerne?
Dieser Prozess verändert auch den Blick auf sich selbst: Vielleicht beginnen Sie sich zu schämen, wenn dies nicht schon vorher der Fall war. Vielleicht müssen Sie sich etwas eingestehen, was Sie bislang vermeiden konnten. Vielleicht fühlen Sie sich schuldig – aus welchen Gründen auch immer. Und vielleicht ängstigen Sie sich, weil Sie noch nicht wissen (können), wie es jetzt anders weitergehen soll. Gefühle also, die man lieber nicht fühlt. Nur eines sollten Sie bedenken: Die Scham und die Schuld werden nicht weniger, wenn man glaubt, der Auseinandersetzung mit sich ausweichen zu können. Im Gegenteil: Es wird eher schlimmer und fördert u. U. das Trinken in unguter Weise.
Daher brauchen Sie Zeit, um in Ruhe zu prüfen und immer wieder erneut zu prüfen, ob sich ein Trinkproblem entwickelt hat. Falls Sie nach eingehender Analyse zu dem Ergebnis kommen sollten, dass Sie ein Problem in Ihrer Art des Trinkens sehen, sind Sie dann auch eher bereit, sich für eine Veränderung zu engagieren. Sie müssen aber nicht. Sie können versuchen, alles bleiben zu lassen, wie es ist – mit dem Unterschied, dass Sie jetzt mehr wissen.
Wenn Sie prüfen möchten, ob das Trinkverhalten als problematisch gelten kann, lassen sich fünf unterschiedliche, sich gegenseitig ergänzende Perspektiven heranziehen:
die Beobachtung der Trinkmenge
die Beschreibung von Trinkmustern
die klassische diagnostische Perspektive
die Fokussierung von Kompetenzen und Ressourcen
die Beobachtung und Berücksichtigung sozialer Beziehungen.
Ich wünsche Ihnen eine unbestechliche Selbstbeobachtung!
Genug ist nicht genug? – Kritische Trinkmengen
Um eine erste Grobeinschätzung des eigenen Trinkverhaltens zu bekommen, kann man sich an den Empfehlungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) orientieren. Hier werden Richtwerte für einen sogenannten risikoarmen Konsum benannt. Danach dürfen Männer durchschnittlich bis zu 24 g reinen Alkohol pro Tag zu sich nehmen, was etwa einem halben Liter Bier, einem Viertel Wein oder 2 Gläschen Schnaps entspricht. Für Frauen gilt jeweils die Hälfte dieser Mengenangaben.
Mit diesen Angaben kann man relativ gut ausrechnen, ob man mit seinem Konsum eher im risikoarmen oder eher im riskanten Bereich unterwegs ist. Natürlich gibt es auch individuelle Unterschiede bezüglich der Verträglichkeit von Alkohol. Das ändert aber nichts am Risiko, weil niemand wissen kann, ob man zur risikoarmen Gruppe gehört oder nicht. Man merkt es erst, wenn es zu spät sein kann.
Neben diesen Angaben zur täglichen Trinkmenge sollte man bei einem risikoarmen Konsum zusätzlich drei Fähigkeiten berücksichtigen:
Man sollte zwei alkoholfreie Tage pro Woche einlegen und keine größere Menge innerhalb sehr kurzer Zeit konsumieren.
Man sollte die Fähigkeit zur Punktnüchternheit besitzen, also die Fähigkeit, zu bestimmten Zeiten geplant nüchtern zu sein.
Man sollte den Alkoholkonsum nicht einsetzen, um psychische Belastungen wegzutrinken.
Trinken ist Trinken? – Unterschiedliche Trinkmuster
Bei dieser Art von Selbstbeobachtung geht es um Unterschiede von Trinkmenge, Trinkhäufigkeit und Trinkanlässen, wobei es fließende Übergänge zwischen den jeweiligen Trinkstilen geben kann. Dennoch können sie für die Beobachtung des eigenen Trinkverhaltens eine gewisse Orientierung geben.
Konflikttrinken
HERR KRAUSE, 58 JAHRE, Chef einer mittelständischen Firma, war fast rund um die Uhr mit seinem Geschäft verbunden. Er hatte das Unternehmen gegründet, wusste am besten über den Produktionsablauf Bescheid, organisierte das Marketing, schulte und motivierte die Mitarbeiter mit großem Einsatz. Er lebte für die Firma und Ausnahmen erlaubte er sich am Feierabend und in Urlauben.
Anfangs suchte er an Feierabenden regelmäßig seinen gut bestückten Weinkeller auf, entschied sich für eine »Belohnungsflasche«, nahm vorsorglich eine zweite mit, falls die erste zu schnell ausgetrunken sein sollte, und versuchte damit seinen stressigen Alltag abzuschütteln.
Im Laufe der Zeit setzte er den Alkohol bereits während des Tages im Büro ein. V.a., wenn es mal wieder Fehler in der Produktion gab. Manchmal spülte er seinen Ärger damit weg, manchmal löste er seine Selbstbeherrschung auf. Dann wertete er im angetrunkenen Zustand seine Mitarbeiter ab, schrie sie an und beschämte sie vor versammelter Mannschaft. Seine Ehefrau, Mitarbeiterin im Betrieb, versuchte solche »Ausraster« zu korrigieren, mahnte immer öfter das Trinken an, wurde aber mit Angriffen deutlich unter der Gürtellinie abgewehrt. Die Ehe verschlechterte sich zusehends. Die sich erhöhende Konfliktspannung in der Ehe und die Scham wegen seiner Ausraster »behandelte« er mit einer erhöhten Alkoholmenge, die sich im Laufe der Jahre bis zu vier Flaschen Wein täglich steigerte.
Wenn man konflikthaft trinkt, nimmt man sich zwar vor, den Konsum niedrig zu halten, macht aber häufig die Erfahrung, dass man doch deutlich mehr trinkt und nicht selten einen Vollrausch erlebt. Anlässe sind meist Schwierigkeiten in der Partnerschaft, der Familie, Konflikte mit Freunden, Enttäuschungen über eigene Fehler oder die anderer, Ärger mit Kollegen und Vorgesetzten. In den Rauschzuständen kann es durchaus zu Gewalttätigkeiten und anderen Ausfallerscheinungen kommen. Anfangs ist dieser Trinkstil innerhalb privater Beziehungen beobachtbar. Im Laufe der Zeit fällt er auch im beruflichen Bereich auf.
Periodisches Trinken
HERR MEIER, EIN 47-JÄHRIGER Angestellter, lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in geordneten Verhältnissen. Bereits als Jugendlicher trank er an Wochenenden exzessiv und kam oft im Vollrausch zu seinen Eltern nach Hause. Nach seiner Heirat nahm das wöchentliche Trinken deutlich ab, wurde aber durch massiven mehrtägigen Konsum im Abstand von drei bis vier Monaten ersetzt. Manchmal lagen Trinkphasen weiter auseinander, manchmal enger zusammen. Kurz vor Therapieaufnahme kamen diese Episoden im Durchschnitt monatlich vor. Sein Trinken nahm extrem riskante Ausmaße an, indem er im volltrunkenen Zustand auf Parkbänken seinen Rausch ausschlief, gelegentlich von der Polizei aufgegriffen wurde und keine Erinnerung mehr an den Vorabend hatte. Die Ehefrau übernimmt es seit Jahren, ihn im Verlauf solcher Phasen beim Arbeitgeber zu entschuldigen und das Fernbleiben mit einer Erkrankung zu erklären.
Gründe für dieses exzessive und gefährliche Trinken kann er nicht nennen. Überwiegend beendet er diese Episoden mit großer Willenskraft und Unterstützung seiner Frau, gelegentlich wird er zur Entgiftung hospitalisiert.
Wenn man periodisch trinkt, weiß man um sein Trinkproblem und lebt daher über gewisse Zeiträume hinweg abstinent oder trinkt lediglich geringe Mengen. Diese Phasen werden jedoch immer wieder durch Phasen heftigen Trinkens unterbrochen, die mehrere Tage umfassen können. Die Anlässe für diese erneuten Trinkphasen sind meist nicht bewusst. Erstaunlich ist dabei, dass man immer wieder unter großen Willensanstrengungen einen Entzug vom Alkohol schafft und es einem gerade wegen dieser enormen Mühe vollkommen schleierhaft ist, weswegen man eine erneute Trinkphase begonnen hat.
Spiegeltrinken
FRAU MÜLLER, 55 JAHRE ALT, wird vom Krankenhaussozialdienst vermittelt. Sie wurde vor zwei Wochen wegen einer akuten Blinddarmentzündung eingeliefert und unmittelbar danach operiert. Die Blinddarmentfernung verlief chirurgisch unauffällig. Problematisch hingegen waren ihre körperlichen Entzugserscheinungen nach dem Aufwachen aus der Narkose. Sie wurde medikamentös behandelt, um die Entzugserscheinungen zu reduzieren. Ein hinzugezogener Psychiater eröffnete ihr, dass er sie für abhängig halte und ihr dringend eine einschlägige Behandlung empfehle.
Sie erzählt im Erstgespräch, dass sie täglich Alkohol konsumiert. Sie beginnt damit ab 14.00 Uhr, weil sie halbtags arbeitet und dann zu Hause ankommt. Sie teilt ihr Trinken über den Nachmittag ein und beendet das Trinken meist so gegen 20.00 Uhr. Danach schaut sie noch etwas Fernsehen und schläft dann ein.
Als Spiegeltrinker trinkt man meist über längere Zeiträume hinweg kontinuierlich eine bestimmte Alkoholmenge und stabilisiert damit eine konstante Alkoholkonzentration im Blut. Das eigene Trinkverhalten erscheint einem vollkommen unproblematisch. Auch Angehörige und Kollegen erleben das so. Ergeben sich jedoch unvorhergesehene, das Trinken unterbrechende Ereignisse wie z. B. chirurgische Eingriffe mit stationären Aufenthalten, können Irritationen wie Zittern, Schweißausbrüche, Nervosität, Unruhe, Übellaunigkeit u.Ä. auftreten und auf eine körperliche Abhängigkeit hinweisen. Man wird u. U. von diesen körperlichen und seelischen Reaktionen überrascht. Entsprechend